Grabeshauch Charlaine Harris Informationen zum Buch Die junge Harper Connelly hat eine besondere Gabe: Sie kann Tote finden und deren letzte Momente nacherleben. Doch diesmal wird sie nicht nur mit einem geheimnisvollen Todesfall konfrontiert, sondern auch mit ihrer eigenen Vergangenheit. Während Harper in Texas auftragsgemäß dem Tod eines reichen Patriarchen nachspürt, erfährt ihr Manager und Lebensgefährte Tolliver, dass sein ehemals drogensüchtiger Vater (und Harpers Stiefvater) aus dem Gefängnis entlassen wurde. Tolliver und Harper wollen nichts mit ihm zu tun haben, können jedoch nicht verhindern, dass er sich wieder in ihr Leben drängt. Nachdem Tolliver von einem Unbekannten angeschossen wurde, überstürzen sich die Ereignisse – und endlich wird auch das Geheimnis um Harpers vor Jahren verschwundene Schwester Cameron gelüftet … Informationen zur Autorin Charlaine Harris lebt in Arkansas – mit ihrem Mann, ihren drei Kindern, zwei Hunden, zwei Frettchen und einer Ente. Sie ist mit ihrer Bestseller-Vampir-Serie um Sookie Stackhouse und der Serie um Harper Connelly, die Tote finden kann, berühmt geworden und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Beide Serien erscheinen auf Deutsch bei dtv. Für meinen Sohn Patrick – ganz einfach, weil er großartig ist. 1 »Also dann«, sagte die strohblonde Frau in der Jeansjacke. »Legen Sie los.« Bei ihrem breiten Akzent hörte sich das jedoch eher an wie »Legnselos«. Ihr habichtartiges Gesicht war erwartungsvoll gespannt, so als stünde sie kurz davor, eine unbekannte Speise zu probieren. Wir befanden uns auf einem windgepeitschten Gelände, mehrere Meilen südlich der zwischen Texarkana und Dallas verlaufenden Interstate. Auf der schmalen zweispurigen Straße, auf der wir hergekommen waren, brauste ein Wagen vorbei – der einzige, den ich gesehen hatte, seit ich Lizzie Joyces schwarz glänzendem Chevy Kodiak zum Pioneer Rest Cemetery gefolgt war, einem Friedhof außerhalb des kleinen Städtchens Clear Creek. Als unsere kleine Truppe verstummte, war das Pfeifen des Windes, der über die sanft geschwungenen Hügel strich, das einzige noch hörbare Geräusch. Der kleine Friedhof war nicht umzäunt. Er war aufgegeben worden, allerdings schon vor längerer Zeit. Es handelte sich um einen alten Friedhof – insoweit ein Friedhof in Texas überhaupt alt sein kann –, der angelegt wurde, als die Eiche in seiner Mitte noch ein kleines Bäumchen gewesen war. Vögel zwitscherten in ihren Ästen. Da wir uns im Norden von Texas befanden, wuchs hier Gras, aber im Februar war es noch nicht grün. Obwohl es etwa zehn Grad warm war, pfiff der Wind kälter als erwartet. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis ganz nach oben zu und staunte nicht schlecht, dass Lizzie Joyce gar keine trug. Die Menschen, die hier lebten, waren zäh und pragmatisch. Zu ihnen zählte auch die etwa dreißigjährige Blondine, die mich eingeladen hatte. Sie war schlank und durchtrainiert und hatte ihre Jeans hochgekrempelt – wahrscheinlich, um sich den Stiefelschaft einzufetten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie ein Pferd bestieg. Aber ihre Stiefel hatten Patina, dasselbe galt für ihren Hut. Und wenn ich die Gravur auf ihrer Gürtelschnalle richtig entzifferte, war sie der letztjährige Bezirks-Champion im Tonnenrennen. Lizzie Joyce war echt. Sie hatte außerdem mehr Geld auf der Bank, als ich jemals haben würde. Die Diamanten an ihrer Hand funkelten im grellen Sonnenlicht, als sie auf die den Toten geweihte Erde zeigte. Ms Joyce wollte, dass ich endlich mit meiner Vorstellung begann. Ich bereitete mich aufs »Loslegn« vor. Da Lizzie eine Menge Geld dafür blechte, wollte sie so viel wie möglich davon haben. Sie hatte ihre kleine Entourage eingeladen, die aus ihrem Freund, ihrer jüngeren Schwester und ihrem Bruder bestand. Letzterer sah aus, als wäre er überall lieber als auf dem Pioneer Rest Cemetery. Mein Bruder hatte sich an unseren Wagen gelehnt und rührte sich nicht von der Stelle. Bis ich meinen Job erledigt hatte, würde Tolliver mich nicht aus den Augen lassen. Ich betrachtete ihn nach wie vor als meinen Bruder, obwohl ich mich bemühte, ihn in der Öffentlichkeit nicht mehr so zu nennen. Inzwischen führten wir eine ganz andere Beziehung. Wir waren den Joyces an jenem Vormittag zum ersten Mal begegnet. Wir hatten den langen, gewundenen Feldweg genommen, der zwischen weitläufigen, eingezäunten Feldern hindurchführte, und waren Lizzies ausgezeichneter Wegbeschreibung gefolgt, die sie uns gemailt hatte. Das Haus am Ende des Weges war sehr groß und sehr schön, aber nicht protzig. Es war ein Haus, in dem hart arbeitende Menschen lebten. Die Latina, die uns aufmachte, trug eine hübsche Hose und eine Bluse statt irgendeiner Uniform. Und sie nannte ihre Chefin »Lizzie« und nicht »Ms Joyce«. Da es auf einer Farm keine Sonntage gibt, wunderte ich mich nicht weiter, dass das große Haus wie ausgestorben wirkte. Die wenigen Menschen, die ich entdecken konnte, hielten sich in weiter Entfernung von der Farm auf. Während uns die Haushälterin hineinbat, sah ich einen Jeep kommen, und zwar auf dem Weg, der zur Rückseite des Hauses führte. Lizzie Joyce und ihre Schwester Kate hatten in der Waffenkammer gewartet. Bestimmt bezeichneten sie diesen Raum als Wohnzimmer oder so etwas, denn hier traf man sich, um fernzusehen, Brettspiele zu spielen oder zu tun, was reiche Leute sonst so mit ihrer Freizeit anfangen, wenn sie am Arsch der Welt leben. Aber für mich war es eine Waffenkammer: Gewehre und Tierköpfe, wohin man sah. Die Einrichtung war im Stil einer rustikalen Jagdhütte gehalten. Da das Haus vom Großvater der Joyces errichtet worden war, spiegelte es bestimmt seinen Geschmack wider. Aber hätte ihnen das nicht gefallen, hätten sie ihn leicht ändern können. Der Mann war nämlich schon eine ganze Weile tot. Lizzie Joyce sah aus wie auf den Fotos, die ich von ihr gesehen hatte. Sie wirkte absolut handfest, wie eine Frau, die ihren Mann steht. Ihre Schwester Kate, genannt Katie, war eine jüngere Ausgabe von ihr, kleiner und unverbrauchter. Aber genauso selbstbewusst und durchsetzungsfähig. Vielleicht wird man automatisch so, wenn man viel Geld im Hintergrund hat. Die Waffenkammer verfügte über Fenstertüren, die auf eine großzügige Loggia hinausführten. Dort standen Steingefäße, die im Frühling sicher bepflanzt wurden, aber noch war es nicht so weit. Nachts sank die Temperatur manchmal immer noch unter Null. Ich sah, dass die Joyces ihre Schaukelstühle den Winter über draußen gelassen hatten. Wie es sich wohl anfühlte, an einem Sommermorgen auf der überdachten Loggia zu sitzen, Kaffee zu trinken und über die eigenen Ländereien zu schauen? Der Jeep hielt vor der sanften Steigung, die zur Hintertür führte, zwei Männer stiegen aus und betraten das Haus. »Harper, das ist der Manager der RJ Ranch, Chip Moseley. Und das ist unser Bruder Drexell.« Tolliver und ich gaben den Männern die Hand. Der Manager hatte ein wettergegerbtes Gesicht, grüne, skeptisch dreinblickende Augen und braunes Haar. Auch er wäre am liebsten gleich wieder verschwunden, genau wie der Bruder. Beide waren nur gekommen, weil Lizzie das wollte. Chip Moseley gab Lizzie einen flüchtigen Kuss, und ich sah, dass er sowohl ihr Freund als auch ihr Manager war. Das könnte heikel werden. Der Bruder Drexell war der Jüngste der Joyces und der Unscheinbarste. Lizzie und Katie besaßen beide eine gewisse habichtnasige Markanz, während Drexells rundes Gesicht nach wie vor sehr kindlich wirkte. Er sah mir nicht in die Augen, genau wie seine Schwestern. Ich hatte das dumpfe Gefühl, die beiden Männer schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Da die riesige Ranch der Joyces nicht allzu weit von Texarkana entfernt lag, wo ich aufgewachsen war, konnte ich Chip und Drexell durchaus schon einmal begegnet sein. Aber wenn ich etwas auf gar keinen Fall wollte, dann meine Vergangenheit wieder aufleben lassen. Ich war nicht immer diese mysteriöse Frau gewesen, die Leichen finden kann, weil sie vom Blitz getroffen wurde. »Ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten«, sagte Lizzie. »Meine Schwester liebt das Besondere«, behauptete Katie an Tolliver gewandt. Sie hatte eindeutig ein Auge auf ihn geworfen. »Harper ist unvergleichlich«, erwiderte er und sah mich dabei an. Er schien sich zu amüsieren. »Nun, ich hoffe, Sie sind Ihr Geld wert«, bemerkte Chip, dessen wettergegerbtes, anziehendes Gesicht etwas Drohendes bekam. Ich nahm ihn genauer ins Visier. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, mich für den Mann einer anderen zu interessieren. Aber Chip Moseley hatte durchaus etwas: etwas, das meine besondere Gabe ansprach. Doch er lebte und atmete – normalerweise ein Ausschlusskriterium. Ich arbeite nämlich mit Toten. Seit Lizzie Joyce auf eine Webseite gestoßen war, die über meine Reisen berichtet, hatte sie anscheinend keine ruhige Minute mehr gehabt, bis ihr ein Job für mich eingefallen war. Sie wollte endlich wissen, was ihren Großvater umgebracht hatte, der weit entfernt vom Haupthaus leblos neben seinem Jeep gefunden worden war. Rich Joyce hatte eine Schädelverletzung, und man nahm an, dass er beim Ein- oder Aussteigen gestürzt war. Oder aber sein Jeep war auf einen Felsen gefahren, woraufhin er aus dem Wagen geschleudert worden war und sich den Kopf an der Karosserie gestoßen hatte. Man hatte jedoch keinerlei Spuren eines solchen Zusammenstoßes entdecken können. Wie dem auch sei: Der Motor des Jeeps war abgestellt, und Rich Joyce war tot gewesen. Da weit und breit niemand zu sehen gewesen war, hatte man seinen Tod einem Herzversagen zugeschrieben. Er war schon vor Jahren beerdigt worden. Da Richs einziger Sohn und dessen Frau mehrere Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatten seine drei Enkel alles geerbt, wenn auch nicht zu gleichen Teilen. Wie Tolliver herausgefunden hatte, war Lizzie zur Verwalterin des Familienvermögens bestellt worden. Die anderen beiden Enkel besaßen Anteile, die sich auf etwas weniger als ein Drittel beliefen. Das genügte, um sicherzustellen, dass Lizzie auch in Zukunft das Sagen hatte. Es war nicht schwer zu erraten, wem Rich Joyce am meisten vertraut hatte. Ob Rich Joyce gewusst hatte, dass sich seine Enkelin für Übernatürliches interessierte oder schlichtweg das Besondere liebte? Deshalb also hatte Lizzie uns auf den Pioneer Rest Cemetery geführt, und deshalb stand ich jetzt hier und wartete auf ihr Signal zum Loslegen. Die eigensinnige Lizzie wollte was sehen für ihr Geld, also würde sie mich nicht gleich zum Grab ihres Großvaters führen. Sie hatte mich nicht einmal über den Sinn und Zweck meiner Suche unterrichtet, bevor ich vor einer halben Stunde aus meinem Wagen gestiegen war. Natürlich konnte ich hier herumspazieren und alle Grabinschriften lesen, bis ich auf eine mit den passenden Daten stieß. So viele Joyces lagen hier auch nicht unter der Erde. Aber ich würde die Sache trotzdem etwas in die Länge ziehen und ihr ein paar Gratisdarbietungen geben, da sie bei meinem Honorar nicht mit der Wimper gezuckt hatte. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und musste aufpassen, wo ich hintrat. In Texas verstecken sich Dornen im Gras, auch wenn es noch so schön aussieht. Ich warf einen letzten Blick auf das Panorama aus sanften Hügeln und Bäumen. Der kleine Friedhof hätte ebenso gut auf dem Mond liegen können, so stark war der Kontrast zu den dicht besiedelten Landstrichen und wohlgeordneten Kleinstädten, die wir auf dem Weg zu unserem letzten Auftrag in North Carolina passiert hatten. Dort waren wir zwar in einem kleinen Kaff gewesen, aber ich hatte mich dort nie so isoliert gefühlt wie hier in dieser Landschaft. Man hatte stets gewusst, dass der nächste Ort nur eine kurze Autofahrt entfernt war. Aber wenigstens war es hier nicht ganz so kalt, wir konnten davon ausgehen, dass es nicht schneien würde. Meine Füße prickelten in der kühlen Luft, aber nicht so, wie ich im eis- und nasskalten North Carolina am ganzen Körper gefroren hatte. Die Joyces waren in der Nähe der alten Eiche bestattet worden. Ich entdeckte einen großen Felsbrocken, der auf einer Seite poliert worden war. Dort hatte man in riesigen Buchstaben den Namen Joyce eingraviert. Es hätte doch etwas zu naiv gewirkt, diesen Hinweis zu ignorieren. Ich blieb am ersten Grab dieser Familiengruft stehen, obwohl es eindeutig nicht das war, weswegen ich hier war. Aber egal, irgendwo musste ich schließlich anfangen. Auf dem Grabstein stand: Hier ruht Sarah, die geliebte Ehefrau von Paul Joyce. Ich atmete tief durch und betrat das Grab. Sofort war ich wie elektrisiert und nahm Verbindung zu den Gebeinen unter meinen Füßen auf. Sarah wartete wie alle Verstorbenen, und zwar unabhängig davon, ob sie schon lange tot oder erst seit Kurzem verstorben sind, ordnungsgemäß bestattet oder wie Müll weggeworfen wurden. Ich spürte mit meiner besonderen Gabe tief in die Erde hinab. Stellte einen Kontakt her. Hörte zu. »Eine Frau um die sechzig, ein geplatztes Aneurysma«, sagte ich. Ich öffnete die Augen und betrat das nächste Grab. Dieses hier war älter, deutlich älter. »Hiram Joyce«, sagte ich. Ich stand da und versuchte, die wenigen noch verbliebenen Knochen unter meinen Füßen zu erreichen. »Eine Blutvergiftung«, sagte ich schließlich. Ich ging zu dem Grab daneben und blieb einen Moment stehen, bis mich das Summen erfasste: Das war der Ruf der Gebeine, der sterblichen Überreste. Sie wollten, dass ich erfuhr, woran sie gestorben waren, wie ihr letztes Stündlein ausgesehen hatte. Ich warf einen Blick auf den Grabstein. Man muss das Rad schließlich nicht neu erfinden. Das hier war kein Mitglied der Familie Joyce, obwohl es in ihrer Gruft beerdigt worden war. Das Sterbedatum lag acht Jahre und ein paar Monate zurück. Die Grabinschrift lautete Mariah Parish. Obwohl ich spürte, dass sich die beiden Männer, die im kümmerlichen Schatten eines verkrüppelten Baumes warteten, plötzlich aufrichteten, war ich zu sehr darauf konzentriert, Kontakt aufzunehmen, um mir darüber Gedanken zu machen. »Oh«, sagte ich leise. Der Wind zerzauste mein dunkles kurzes Haar und zerrte daran. »Oh, die Ärmste.« »Wie bitte?«, fragte Lizzie, deren raue Stimme einfach nur verwirrt klang. »Das war die Pflegerin meines Großvaters. Sie hatte einen Blinddarmdurchbruch oder so was Ähnliches.« »Sie hat viel Blut verloren, ist nach der Geburt eines Kindes gestorben«, sagte ich. Ich zählte zwei und zwei zusammen und sah zu den beiden Männern hinüber. Drexell war tatsächlich einen Schritt näher gekommen. Chip Moseley staunte, war aber auch wütend. Ob ihn die Information schockierte oder vielmehr die Tatsache, dass ich sie laut ausgesprochen hatte, wusste ich nicht. Aber egal, was in den Männern vorging – für Mariah war es zu spät. Ich wandte den Blick ab und betrat das Grab rechts davon, jenes, weswegen ich gekommen war. Es war ein besonders breites Doppelgrab und besaß den größten Grabstein von allen. Richard Joyces Frau war zehn Jahre vor ihm gestorben. Sie hatte Cindilynn geheißen, und ich fand heraus, dass sie an Brustkrebs gestorben war. Ich erwähnte das und sah, dass sich Kate und Lizzie anblickten und nickten. Ich betrat den Bereich daneben, den von Rich Joyce. Er war vor acht Jahren gestorben, kurz nach seiner Pflegerin. Ich legte den Kopf schräg, während ich Richards Gebeinen zuhörte. Er hatte etwas Unerwartetes gesehen, soviel wurde mir klar. Aber ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass er mit dem Jeep angehalten hatte und ausgestiegen war, weil er einen Bekannten getroffen hatte. Ich hatte kein Bild von dieser Person vor Augen. Es ist nicht so, als sähe ich einen Film. Ich versetze mich eher für einen kurzen Augenblick in die Person des Verstorbenen hinein, denke, was sie gedacht, fühle, was sie in den letzten Sekunden ihres Lebens gefühlt hat. So erfuhr ich von Rich Joyce, dass er angehalten hatte, weil er jemanden entdeckt hatte. Ich durchlief allerdings nicht den Prozess des Wiedererkennens und traf auch nicht die Entscheidung, anzuhalten. Als Rich Joyce stellte ich den Motor ab und stieg aus, als die Schlange angeflogen kam. Die Klapperschlange, die mich (Rich Joyce) dermaßen erschreckte, dass mein (sein) Herz stehen blieb. Mir ist so heiß, kein Wasser, ich komme nicht an mein Handy, oh mein Gott, so sterben zu müssen! Danach wurde alles schwarz. Um klarer zu sehen, was nur ich sehen konnte, schloss ich die Augen und erzählte, was geschah. Als ich die Augen wieder aufmachte, starrte mich die vierköpfige Joyce-Truppe an, als zeigte ich die Wundmale Jesu. Manchmal reagieren die Leute so, obwohl sie mich doch extra dafür engagiert haben. Ich jage den Leuten Angst ein, fasziniere sie (wenn auch nicht immer auf eine gesunde Art und Weise) oder beides. Das mit der Faszination schien sich allerdings heute in Grenzen zu halten: Lizzies Freund Chip sah mich an, als trüge ich eine Zwangsjacke, und den drei Joyces stand der Mund offen. Alle schwiegen. »Jetzt wissen Sie also Bescheid«, sagte ich knapp. »Das können Sie genauso gut erfunden haben«, wandte Lizzie ein. »Es war jemand bei ihm? Wie denn das? Niemand hat etwas dergleichen erwähnt. Wollen Sie etwa behaupten, dass jemand eine Klapperschlange nach Granddaddy geworfen hat, der daraufhin einen Herzinfarkt bekam? Und dass dieser Jemand anschließend einfach ging? Und wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass Mariah ein Baby hatte? Ich habe Sie nicht engagiert, damit Sie mich anlügen!« Jetzt wurde ich langsam wirklich sauer. Ich atmete tief durch. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Tolliver schon auf dem Weg zu mir war, er wirkte alarmiert. Chip Moseley dagegen hatte sich zum Jeep zurückgezogen und stützte sich schmerzgekrümmt darauf ab. Ich begriff, dass es ihm gar nicht gefallen würde, wenn ich die Aufmerksamkeit darauf lenkte. »Sie haben mich genau hierfür angeheuert«, sagte ich und hob die Hände. »Da lässt sich nichts nachweisen, nicht einmal, wenn Sie Ihren Großvater obduzieren lassen würden. Aber ich habe Sie vorgewarnt, dass genau das passieren kann. Die Sache mit Mariah Parish dagegen können Sie selbstverständlich überprüfen, wenn Sie mir tatsächlich misstrauen. Es müsste eine Geburtsurkunde oder andere Unterlagen geben.« »Stimmt«, sagte Lizzie schon ein gutes Stück nachdenklicher und weitaus weniger aufgebracht. »Aber mal abgesehen davon, was mit Mariahs Baby passiert ist, falls sie denn wirklich eines hatte, wird mir ganz schlecht bei dem Gedanken, dass jemand meinem Großvater so etwas antun konnte. Vorausgesetzt, Sie sagen wirklich die Wahrheit.« »Sie können mir glauben oder auch nicht, das liegt ganz bei Ihnen. Wussten Sie von seiner Herzschwäche?« »Nicht direkt, denn er ging nur selten zum Arzt. Aber er hatte bereits einen Infarkt hinter sich. Und nachdem er sich das letzte Mal durchchecken ließ, wirkte er besorgt.« Das war ihr seit dem Tod ihres Großvaters offensichtlich schon öfter durch den Kopf gegangen. »Er hatte ein Handy in seinem Jeep, stimmt’s?«, fragte ich. »Ja«, meinte sie. »Das stimmt.« »Er hat versucht, danach zu greifen.« Manche letzten Momente sind aufschlussreicher als andere. Ich warf einen flüchtigen Blick zu Tolliver hinüber und sah anschließend gleich wieder weg. Seine Schultern entspannten sich. Man würde uns in Ruhe lassen. »Glaubt ihr etwa diesen Unsinn?«, fragte Chip die Schwestern fassungslos. Er hatte sich wieder von seiner merkwürdigen Schmerzattacke erholt und stand jetzt neben Lizzie. Er sah sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, obwohl ich dank unserer Recherchen wusste, dass sie bereits seit sechs Jahren ein Paar waren. Lizzie war zu selbstbewusst, um sich verunsichern zu lassen. Sie wirkte sehr nachdenklich, als sie eine Zigarette hervorzog und anzündete. Schließlich sah sie ihn an. »Ja, ich glaube ihr.« »Ach du Scheiße!«, sagte Kate Joyce, nahm ihren Cowboyhut ab und schlug sich damit auf ihren schlanken Oberschenkel. »Als Nächstes schleppst du uns noch Hellseher an!« Lizzie warf ihrer Schwester einen warnenden Blick zu, der alles andere als liebevoll war. Drexell sagte: »Wenn du mich fragst, hat sie sich das alles bloß ausgedacht.« Wir hatten eine Anzahlung von Lizzie bekommen. Wir waren sowieso nach Texas unterwegs, hätten dort aber nie angehalten, wenn wir keinen Vorschuss bekommen hätten. Interessanterweise ändern reiche Kunden ihre Meinung oft. Arme nicht. Obwohl wir den ersten Scheck von der RJ Ranch bereits eingelöst hatten, stand das restliche Honorar noch aus. Sogar ein Blinder konnte sehen, dass die Joyce-Truppe so ihre Zweifel an meiner Leistung hatte. Doch bevor ich mir darüber den Kopf zerbrechen konnte, zog Lizzie einen zusammengefalteten, zerknitterten Scheck aus ihrer Hosentasche und gab ihn Tolliver, der nahe genug gekommen war, um den Arm um mich zu legen. Mir war ein wenig zittrig. Diesmal war es nicht so schlimm gewesen wie in anderen Fällen, da Rich Joyce nur eine kurze Schrecksekunde erlebt hatte, bevor er gestorben war. Aber der direkte Kontakt mit den Toten ist anstrengend. »Brauchst du etwas Süßes?«, fragte er. Ich nickte. Er zog ein Sahnebonbon aus der Tasche und wickelte es aus seinem Papier. Ich machte den Mund auf, und er legte es mir auf die Zunge. Goldener Butterschmelz. »Ich dachte, er wäre Ihr Bruder!«, sagte Kate Joyce und wies mit dem Kinn auf Tolliver. Obwohl sie erst Ende zwanzig war, schien sie deutlich mehr Lebenserfahrung zu besitzen. Ob das wohl eine Folge davon war, als Kind reicher, aber arbeitsamer Eltern in Texas aufzuwachsen? Oder war das Leben der Joyces aus anderen Gründen anstrengend? »Das ist er auch«, sagte ich. »Er wirkt aber eher wie Ihr Freund.« Drexell kicherte. »Ich bin ihr Stiefbruder und ihr Freund, Drex«, sagte Tolliver liebenswürdig. »Gut, wir fahren dann wieder. Schön, dass wir Ihnen weiterhelfen konnten.« Er nickte ihnen zu. Tolliver ist etwa 1,80 Meter groß und dünn. Aber er hat ziemlich breite Schultern. Ich liebe ihn mehr als alles auf der Welt. Das Rauschen der Dusche weckte mich. Wir sehen dermaßen viele Motelzimmer von innen, dass ich manchmal mehrere Sekunden brauche, bis mir klar wird, wo ich gerade bin. Das war wieder so ein Morgen. Texas. Nachdem wir die Joyces verlassen hatten, waren wir fast den ganzen Nachmittag unterwegs gewesen, um dieses unweit der Autobahn gelegene Motel in Garland bei Dallas zu erreichen. Doch diesmal handelte es sich nicht um eine Geschäfts-, sondern um eine Privatreise. Als ich die Augen öffnete, wusste ich, dass ich zu viel über unsere schlimme Vergangenheit nachdachte. Jedes Mal, wenn wir meine Tante und ihren Mann in der Nähe von Dallas besuchen, kommen die schlimmen Erinnerungen wieder hoch. Aber das liegt nicht an dem Bundesstaat. Wenn ich bei meinen kleinen Schwestern bin, muss ich wieder an den kaputten Wohnwagen in Texarkana denken. Der, in dem Tolliver und ich mit seinem Vater, meiner Mutter, seinem Bruder, meiner Schwester und unseren beiden gemeinsamen Geschwistern lebten. Als die Familie auseinanderbrach, waren sie mehr oder weniger noch Babys. Das ausgeklügelte Täuschungsmanöver, das wir größeren Kinder mehrere Jahre aufrechterhalten hatten, war aufgeflogen, als meine ältere Schwester Cameron verschwand. Da waren unsere unschönen familiären Verhältnisse an die Öffentlichkeit gelangt, woraufhin man uns unsere kleinen Schwestern weggenommen hatte. Tolliver war zu seinem Bruder Mark gezogen, und ich war in eine Pflegefamilie gekommen. Die beiden kleinen Mädchen konnten sich nicht mal mehr an Cameron erinnern. Ich hatte sie beim letzten Besuch danach gefragt. Die Mädchen lebten bei Tante Iona und Onkel Hank, die uns ungern besuchen. Aber wir besuchen sie. Mariella und Grace, genannt Gracie, sind unsere Schwestern, und sie sollen wissen, dass wir auch ihre Familie sind. Ich stützte mich auf, um Tolliver beim Abtrocknen zuzusehen. Er hatte die Badezimmertür beim Duschen aufgelassen, denn sonst beschlug der Spiegel so sehr, dass er sich nicht mehr rasieren konnte. Wir sehen uns ähnlich. Wir sind beide dünn und dunkelhaarig. Unser Haar ist sogar etwa gleich lang. Seine Augen sind braun, meine dunkelgrau. Aber Tollivers Haut ist voller Aknenarben, weil ihn sein Vater nicht zum Dermatologen schicken wollte. Sein Gesicht ist schmaler, und er trägt oft einen Schnurrbart. Er hasst es, etwas anderes als Jeans und Hemden anzuziehen, während ich mich gern ein bisschen hübsch mache. Schließlich besitze ich die »Gabe«, und da erwartet man das mehr oder weniger von mir. Tolliver ist mein Manager, mein Berater, mein Halt und seit einigen Wochen auch mein Liebhaber. Er drehte sich zu mir um und merkte, dass ich ihm zusah. Er lächelte und ließ das Handtuch sinken. »Komm her!«, sagte ich. Er gehorchte sofort. »Wollen wir eine Runde laufen?«, fragte ich am Nachmittag. »Danach kannst du gemeinsam mit mir duschen. Damit wir nicht so viel Wasser verschwenden.« Im Nu hatten wir unsere Laufklamotten an und rannten nach ein paar Dehnübungen los. Tolliver ist schneller als ich. Meist läuft er auf den letzten achthundert Metern voraus, so auch dieses Mal. Wir waren froh, einen guten Platz zum Laufen gefunden zu haben. Unser Motel lag direkt am Autobahnzubringer. In der näheren Umgebung gab es weitere Hotels, Motels, Restaurants und Tankstellen – die übliche Ansammlung von Dienstleistungsunternehmen für Leute, die viel unterwegs sind. Aber hinter dem Motel entdeckten wir eines dieser »Gewerbegebiete«: zwei gewundene Sträßchen mit sorgsam angelegten, noch niedrigen Bepflanzungen vor einstöckigen Gebäuden mit dazugehörigem Parkplatz. Zwischen den beiden Straßen gab es einen Grünstreifen, der breit genug war, um ein paar Kreppmyrten zu beherbergen. Es gab auch Bürgersteige, um das Gebiet einladender und freundlicher wirken zu lassen. Da es bereits später Freitagnachmittag war, herrschte nur wenig Verkehr zwischen den Betonkästen, die in gesichtslose Einheiten namens Great Systems Inc. und Genesis Distributors aufgeteilt waren. Firmen, hinter denen sich alles Mögliche verbergen konnte. Jeder Block wurde von einer Zufahrt begrenzt, von einer schmalen Straße, die höchstwahrscheinlich zu den Mitarbeiterparkplätzen führte. Davor standen so gut wie keine Autos, die Kunden waren weg, und die letzten Angestellten gingen ins Wochenende. An so einem Ort erwartete ich wahrhaftig keine Leiche. Ich dachte an den Schmerz in meinem rechten Bein, der von Zeit zu Zeit wieder aufflammt, seit mich der Blitz getroffen hat. Deshalb hörte ich erst nicht, wie ihre Gebeine nach mir riefen. Tote gibt es selbstverständlich überall. Ich höre nicht nur die modernen Toten. Ich nehme auch die längst Verstorbenen wahr, und selten, sehr selten, sogar das schwache Echo einer Spur, die Menschen vor Erfindung der Schrift hinterlassen haben. Aber der Kerl, mit dem ich hier in einem Vorort von Dallas Kontakt aufnahm, war noch ganz frisch. Ich lief einen Moment auf der Stelle. Ich konnte mir nicht hundertprozentig sicher sein, bevor ich mich der Leiche näherte. Aber ich hatte so das Gefühl, dass es sich um einen Selbstmord durch Erschießen handelte. Ich ortete den Mann – er befand sich in den hinteren Räumen einer Firma namens Designated Engineering. Ich schüttelte seine innere Not von mir ab. Ich habe schließlich Übung darin. Ob ich ihn bemitleidete? Er hatte die Wahl gehabt. Wenn ich jeden bemitleiden würde, der über den Jordan gegangen ist, müsste ich wahrscheinlich andauernd heulen. Nein, ich verschwende meine Zeit nicht an irgendwelche Gefühle. Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich konnte ihn einfach liegen lassen und hatte das zunächst auch vor. Der Erste, der am nächsten Tag ins Büro von Designated Engineering käme, würde einen gehörigen Schrecken bekommen. Vorausgesetzt, die Angehörigen des Kerls schickten nicht die Polizei zu seiner Firma, wenn er nicht nach Hause kam. Es kam mir brutal vor, ihn einfach so liegen zu lassen. Andererseits hatte ich keine Lust, der Polizei mühsam etwas erklären zu müssen. Beim Auf-der-Stelle-Laufen wurde mir kalt. Ich musste mich entscheiden. Obwohl ich mir nicht jeden Tod zu Herzen nehmen kann, mit dem ich es zu tun habe, möchte ich auch nicht unmenschlich sein. Ich sah mich um und suchte nach einer Eingebung. Ich fand sie in den Steinen, die das fantasielose Blumenbeet am Eingang einfassten. Ich zog den größten Stein heraus, den ich gerade noch heben konnte. Nach einigen Versuchen beschloss ich, ihn einhändig zu werfen. Ich sah die Straße hinauf und hinunter. Es waren weder Autos noch Fußgänger in Sicht. In sicherer Entfernung suchte ich einen festen Stand und warf den Stein. Ich musste ihn zweimal aufheben und das Ganze wiederholen, bevor das Glas barst und die Alarmanlage losging. Ich rannte davon und musste der Polizei Respekt zollen: Kaum hatte ich den Motel-Parkplatz erreicht, verließ auch schon ein Streifenwagen den Autobahnzubringer, raste am Motel vorbei und nahm Kurs auf das Gewerbegebiet. Eine Stunde später schminkte ich mich gerade vor dem Spiegel. Ich hatte ausgiebig geduscht, und natürlich war Tolliver noch mal zu mir in die Kabine gehüpft, um mir »beim Haarewaschen« zu helfen. Ich beugte mich über das Waschbecken, um in den Spiegel zu starren und meinen Eyeliner aufzutragen. Obwohl ich erst vierundzwanzig war, musste ich inzwischen näher an den Spiegel heran. Bei der nächsten Augenuntersuchung würde mir mein Arzt bestimmt sagen, dass ich eine Brille brauchte. Ich bin nie eitel gewesen, doch die Vorstellung, eine Brille zu tragen, gab mir einen Stich. Vielleicht Kontaktlinsen? Aber bei dem Gedanken, mir was ins Auge zu tun, bekam ich Gänsehaut. Immer wenn ich darüber nachdachte, fürchtete ich mich vor den Kosten für die Sehhilfe. Wir sparten jeden Cent für das Haus, das wir hier unweit von Dallas kaufen wollten. St. Louis war zwar beruflich geschickter, weil zentraler gelegen, aber wenn wir in Dallas wohnten, könnten wir unsere Schwestern öfter sehen. Iona und Hank wären wahrscheinlich wenig begeistert. Wer weiß, welche Hindernisse sie uns noch in den Weg legen würden. Sie hatten die Mädchen offiziell adoptiert. Aber vielleicht konnten wir sie davon überzeugen, dass es den Mädchen guttun würde, uns zu sehen. So wie es auch uns guttat, sie zu sehen. Tolliver kam ins Bad und blieb kurz stehen, um mich auf die Schulter zu küssen. Ich lächelte, als sich unsere Blicke im Spiegel trafen. »Unten auf der Straße ist Polizei zu sehen«, sagte er. »Hast du irgendeine Erklärung dafür?« »Allerdings!«, sagte ich mit einem schlechten Gewissen. Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, Tolliver alles zu erläutern, bevor ich unter die Dusche ging, und dann hatte er mich abgelenkt. Jetzt erzählte ich Tolliver die Sache mit dem Toten, dem Stein und dem Fenster. »Die Cops dürften ihn mittlerweile gefunden haben, du hast also das Richtige getan. Lieber wäre es mir allerdings gewesen, du hättest ihn ignoriert«, sagte Tolliver. Ich hatte nichts anderes erwartet. Er ließ sich nur ungern in Situationen verwickeln, bei denen unser Eingreifen nicht bezahlt wurde. Da ich ihn im Spiegel beobachtete, fiel mir auf, wie sich seine Körpersprache abrupt änderte. Anscheinend wollte er das Thema wechseln und etwas Wichtiges mit mir besprechen. »Meinst du nicht auch, wir sollten einfach loslassen?«, fragte Tolliver. »Loslassen?« Ich schminkte mein rechtes Auge fertig und hielt das Mascara-Bürstchen an die Wimpern meines linken Auges. »Was meinst du damit?« »Mariella und Gracie.« Ich drehte mich um und sah ihn an. »Ich verstehe nicht«, sagte ich, verstand ihn aber leider nur zu gut. »Vielleicht sollten wir sie nur einmal im Jahr besuchen. Und ihnen ansonsten einfach nur Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke schicken.« Ich war entsetzt. »Warum sollten wir das tun?« Sparten wir nicht deshalb jeden Cent, um ein fester Bestandteil ihres Lebens zu werden? »Wir bringen sie völlig durcheinander.« Tolliver kam näher und legte seine Hand auf meine Schulter. »Die Mädchen mögen ihre Probleme haben, aber bei Iona geht es ihnen besser als bei uns. Wir können uns nicht um sie kümmern. Wir sind zu oft unterwegs. Iona und Hank sind verantwortungsbewusste Menschen, sie trinken keinen Alkohol und konsumieren keine Drogen. Sie nehmen die Mädchen mit in die Kirche und achten darauf, dass sie zur Schule gehen.« »Das ist doch nicht dein Ernst?«, sagte ich, obwohl Tolliver nie scherzte, wenn es um Familienangelegenheiten ging. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Du weißt, dass ich nie vorhatte, die Mädchen da wegzuholen, selbst wenn das rechtlich möglich wäre. Meinst du wirklich, wir sollten unsere Besuche auf ein Minimum beschränken? Und sie noch seltener sehen?« »Ja«, sagte er. »Erklär mir das bitte.« »Wenn wir kommen – nun, dann kommen wir in sehr unregelmäßigen Abständen und bleiben nur kurz. Wir reißen sie aus ihrem gewohnten Leben, versuchen ihnen Dinge zu zeigen, die ihnen fremd sind. Wir versuchen, sie für Sachen zu interessieren, die nicht Teil ihres Alltags sind. Und dann verschwinden wir wieder und überlassen es ihren ›Eltern‹, mit den Folgen fertig zu werden.« »Mit den Folgen fertig zu werden? Mit was für Folgen, bitteschön? Wir sind doch keine Monster oder so was!« Ich musste mich schwer beherrschen, um nicht wütend zu werden. »Beim letzten Mal – du weißt schon, als du mit den Mädchen ins Kino gegangen bist –, hat mir Iona erzählt, dass Hank und sie für gewöhnlich eine Woche brauchen, bis die Mädchen wieder normal sind.« »Aber …« Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich so meine Gedanken ordnen. »Sollen wir uns vielleicht ausschließlich nach Iona richten? Du bist der Bruder und ich die Schwester der Mädchen. Wir lieben sie. Sie müssen wissen, dass es in ihrer Familie auch andere Menschen als Iona und Hank gibt.« Ich wurde laut. Tolliver setzte sich auf den Badewannenrand. »Harper, Iona und Hank ziehen sie groß. Sie hätten sie nicht bei sich aufnehmen müssen. Der Staat hätte sich um sie gekümmert, wenn sich Iona und Hank nicht angeboten hätten. Ich wette, das Gericht hätte Mariella und Gracie eher ins Heim gesteckt, als sie uns zu geben. Wir können froh sein, dass Iona und Hank den Versuch gewagt haben. Sie sind älter als die meisten mit Kindern in diesem Alter. Sie sind streng, weil sie Angst haben, dass die Mädchen so werden wie deine Mom oder mein Vater. Aber sie haben die Mädchen adoptiert. Sie sind ihre Eltern.« Ich öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Es brach förmlich aus Tolliver heraus, und ich hörte Dinge, die ich noch nie zuvor gehört hatte. »Natürlich sind sie engstirnig«, fuhr er fort. »Aber sie müssen Tag für Tag mit Gracie und Mariella zurechtkommen. Sie gehen zu den Lehrersprechstunden, sie gehen zum Direktor, sie sorgen dafür, dass die Mädchen ihre Spritzen bekommen, und sie bringen sie zum Arzt, wenn sie krank sind. Sie bestimmen, wann ins Bett gegangen und wann gelernt wird. Sie kaufen ihre Kleider. Sie zahlen für die Zahnspangen.« Er zuckte die Achseln. »Und so weiter. Wir könnten das gar nicht.« »Was sollen wir dann deiner Meinung nach tun?« Ich verließ das Bad und setzte mich auf die Kante des ungemachten Bettes. Er kam mir nach und setzte sich neben mich. Ich legte meine Hände auf die Knie. Ich bemühte mich, nicht zu weinen. »Du willst also, dass wir unsere Schwestern im Stich lassen? Die einzige Familie, die wir noch haben?« Meinen oder Tollivers Vater zählte ich nicht mit, weil sie für mich einfach nicht dazugehörten. Tolliver ging vor mir in die Hocke. »Vielleicht sollten wir sie an Thanksgiving und Weihnachten oder an Ostern beziehungsweise an ihren Geburtstagen besuchen … Dann, wenn man uns erwartet und wir uns rechtzeitig angekündigt haben. Maximal zweimal im Jahr. Ich finde, wir sollten mehr aufpassen, was wir in Gegenwart der Mädchen sagen. Gracie hat Iona erzählt, sie wäre deiner Meinung nach zu rigide. Nur leider hat Gracie ›frigide‹ gesagt.« Ich versuchte, nicht zu grinsen, konnte aber nicht anders. »Na gut, in diesem Punkt hast du recht. Es ist nicht sehr nett, über diejenigen zu lästern, die sich um die Mädchen kümmern. Dabei dachte ich, ich passe auf.« »Du hast dich bemüht«, sagte er schmunzelnd. »Es ist eher dein Gesichtsausdruck, der eine andere Sprache spricht …« »Gut, ich verstehe, was du meinst. Aber ich dachte, wir könnten ihnen näherkommen, wenn wir hierher ziehen. Und ein paar Mauern zwischen Ina, Hank und uns einreißen. Wir könnten die Mädchen öfter sehen, die Situation würde sich entspannen. Vielleicht könnten die Mädchen manchmal das Wochenende bei uns verbringen. Iona und Hank wollen bestimmt auch mal allein sein.« Tolliver reagierte darauf mit einem anderen Einwand. »Glaubst du wirklich, Iona könnte uns akzeptieren? Jetzt, wo wir zusammen sind?« Ich verstummte. Dass wir jetzt ein Paar waren, würde meine Tante und ihren Mann schockieren, und das war noch milde ausgedrückt. Ich konnte sie sogar verstehen. Schließlich waren Tolliver und ich als Teenager zusammen aufgewachsen. Wir hatten unter einem Dach gelebt. Meine Mutter war mit seinem Vater verheiratet gewesen. Ich hatte ihn jahrelang als meinen Bruder vorgestellt. Manchmal nannte ich ihn immer noch so, aus alter Gewohnheit. Obwohl wir keine Blutsverwandten waren, hatte unsere sexuelle Beziehung für Außenstehende etwas Anstößiges. Wir wären naiv, wenn wir das nicht eingestehen würden. »Keine Ahnung«, sagte ich aus reinem Widerspruchsgeist. »Vielleicht akzeptieren sie es einfach.« Aber ich machte mir etwas vor. »Du machst dir etwas vor«, sagte Tolliver. »Du weißt genau, dass Hank und Iona ausflippen werden.« Wenn Iona ausflippte, zürnte Gott. Wenn Iona etwas moralisch fragwürdig fand, war Gott derselben Meinung. Und Gott, verkörpert durch Iona, führte diesen Haushalt. »Aber wir können doch nicht vor ihnen verheimlichen, was wir einander bedeuten«, sagte ich hilflos. »Das müssen und werden wir auch nicht. Mal sehen, was passiert.« Ich versuchte, das Thema zu wechseln, denn ich musste in Ruhe darüber nachdenken. »Wann besuchen wir Mark?« Mark Lang war Tollivers älterer Bruder. »Wir treffen ihn voraussichtlich morgen Abend im Texas Roadhouse.« »Oh, prima.« Ich schaffte es, zu lächeln, wenn auch nicht sehr überzeugend. Ich habe Mark immer gemocht, obwohl ich ihm nie so nahestand wie Tolliver. Er hatte uns alle damals so gut wie möglich beschützt. Wir schafften es nicht, Mark bei jedem Texasbesuch zu treffen, also freute ich mich, dass er Zeit hatte, mit uns zu Abend zu essen. »Und heute sind wir für eine kurze Stippvisite bei Iona eingeladen? Dort werden wir einfach sehen, was passiert, ohne jeden Plan?« »Ohne jeden Plan«, bestätigte Tolliver, und wir lächelten uns an. Ich versuchte, das Lächeln aufrechtzuerhalten, während wir ins Auto stiegen und zu dem kleinen Haus in Garland fuhren, in dem unsere Schwestern lebten. Obwohl das Wetter schön war, sagte ich keine rosigen Zeiten voraus. Iona Gorham (geborene Howe) hatte strikt darauf geachtet, bloß nicht so zu werden wie Laurel. Laurel Howe Connelly Lang, meine Mutter, war Ionas einzige, zehn Jahre ältere Schwester gewesen. Als meine Mutter noch ein Teenager und Twen war und keine Drogen nahm, war sie ziemlich attraktiv, beliebt und bestimmt kein Kind von Traurigkeit gewesen. Sie hatte auch gute Noten gehabt und Jura studiert. Dort hatte sie meinen Dad, Cliff Connelly, kennengelernt und ihn geheiratet. Meine Mutter war schon immer ein rechter Wildfang gewesen – na gut, ein extremer Wildfang –, aber eben auch extrem erfolgreich. Um mit ihr mithalten und sich von ihr abgrenzen zu können, hatte Iona den braven, gottesfürchtigen Weg gewählt. Als ich in Ionas Gesicht sah, während sie uns aufmachte, stellte ich fest, dass sie heute nicht ganz so säuerlich wirkte wie sonst, und ich fragte mich, warum. Normalerweise sah sie bei unseren Besuchen aus, als hätte sie soeben in eine Zitrone gebissen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie alt Iona war, und entschied, dass sie knapp vierzig sein musste. »Kommt herein«, sagte meine Tante und trat einen Schritt zurück in ihr Wohnzimmer. Ich hatte stets das Gefühl, nur widerwillig hereingebeten zu werden, ja, dass uns Iona am liebsten die Tür vor der Nase zugeknallt hätte. Ich bin 1,70 Meter groß, und meine Tante ist kleiner als ich. Iona hat wohlgeformte Rundungen, und ihre Haare werden auf eine attraktive Weise grau, so als würde ihr hellbraunes Haar einfach verblassen. Ihre Augen sind dunkelgrau wie meine. »Wie geht es dir?«, fragte Tolliver höflich. »Prächtig«, sagte Iona, und uns fiel gleichzeitig die Kinnlade herunter. Nie hat Iona auch nur ansatzweise so etwas gesagt. »Hank leidet gerade wieder sehr unter seiner Arthritis«, fuhr sie fort, ohne unsere Reaktion zu beachten, »aber er kann Gott sei Dank zur Arbeit gehen.« Iona arbeitete Teilzeit bei Sam’s Club, und Hank leitete die Fleischabteilung eines Wal-Mart-Supercenters. »Wie machen sich die Mädchen so in der Schule?«, stellte ich meine Standardfrage. Ich zwang mich weiterhin, nicht zu Tolliver hinüberzusehen. Ich wusste, dass er genauso geplättet war wie ich. Iona ging uns voraus in die Küche, wo wir uns normalerweise unterhielten. Das Wohnzimmer hob Iona für echte Freunde auf. »Mariella entwickelt sich recht ordentlich. Sie ist eine durchschnittliche Schülerin«, sagte Iona. »Und Gracie, heißt es, hinkt den anderen immer ein klein wenig hinterher. Möchtet ihr Kaffee? Ich habe gerade Wasser aufgesetzt.« »Das wäre toll«, sagte ich. »Ich trinke ihn schwarz.« »Ich weiß«, sagte sie mit einer gewissen Schärfe, als unterstellte ich ihr, eine schlechte Gastgeberin zu sein. Das klang schon eher nach der Iona, die ich kannte, und ich begann, mich wohler zu fühlen. »Und ich trinke meinen mit etwas Zucker«, sagte Tolliver. Während sie uns den Rücken zukehrte, sah er mich an und zog die Brauen hoch. Iona führte irgendetwas im Schilde. Kurz nacheinander stellte sie Tolliver einen Becher und eine Zuckerdose hin und legte einen Löffel und eine Serviette dazu. Ich wurde als Zweite bedient und bekam einfach nur den Becher. Iona schenkte sich ebenfalls Kaffee ein und ließ sich auf den Stuhl sinken, der der Kaffeemaschine am nächsten war. Dabei sah man, dass sie wirklich sehr erschöpft war. Eine Weile sagte sie nichts. Sie schien über etwas nachzudenken. Der Tisch war rund, und in der Mitte lag ein Stapel Briefe. Ich überflog ihn unwillkürlich: die Telefonrechnung, die Rechnung für das Kabelfernsehen und ein handgeschriebener Brief, der aus seinem Umschlag hervorsah. Die Schrift kam mir unangenehm bekannt vor. »Ich bin erledigt«, sagte Iona. »Ich habe sechs Stunden am Stück im Laden gestanden.« Sie trug ein T-Shirt, eine Baumwollhose und Turnschuhe. Sie hatte sich nie so viel aus Mode gemacht wie meine Mutter, bis die sich für gar nichts mehr interessierte außer für Drogen beziehungsweise dafür, wo sie sie als Nächstes herbekam. Eine unerwartete Sympathie für Iona wallte in mir auf. »Das ist wirklich anstrengend«, sagte ich, aber sie hörte mir gar nicht zu. »Da kommen die Mädchen«, sagte sie, und meine Ohren registrierten, was ihre längst gehört hatten: den Klang von Schritten vor der Garagentür. Kurz darauf stürmten unsere Schwestern herein und ließen ihre Schulranzen an der Garderobe fallen. Sie hängten ihre Jacken an den Haken, zogen ihre Schuhe aus und stellten sie neben ihre Ranzen. Ich überlegte, wie lange Iona wohl gebraucht hatte, um ihnen das beizubringen. Ich betrachtete meine Schwestern aufmerksam. Bei jedem Besuch hatten sie sich wieder verändert. Ich brauchte dann immer eine Weile, um alles in mich aufzunehmen. Mariella war jetzt zwölf und Gracie drei Jahre jünger. Die Mädchen waren überrascht, uns zu sehen, aber nicht sehr. Keine Ahnung, ob Iona sie überhaupt vorgewarnt hatte. Mariella und Gracie umarmten uns pflichtbewusst, aber ohne große Begeisterung. Das wunderte mich nicht, wenn man bedenkt, wie sehr sich Iona bemüht hatte, uns in den Augen der Mädchen als nebensächlich erscheinen zu lassen, vielleicht sogar als schlechten Einfluss. Und da sie sich nicht mehr an Cameron erinnerten, waren wohl auch ihre Erinnerungen an den Wohnwagen nur noch schwach bis gar nicht mehr vorhanden. Ich wünschte es ihnen. Mariella sah immer mädchenhafter und nicht mehr so schwerfällig aus. Sie hatte braune Haare und braune Augen und war so robust gebaut wie ihr Vater. Gracie war schon immer recht klein für ihr Alter, aber auch launischer gewesen als Mariella. Zum ersten Mal küsste sie mich von sich aus. Es ist nie einfach, Kontakt zu unseren Schwestern herzustellen. Man muss sich ins Zeug legen, um eine Bindung aufzubauen, die von Anfang an belastet war. Sie saßen mit uns und der Frau, die wie eine Mutter für sie war, am Tisch und beantworteten Fragen. Und sie freuten sich über ihre kleinen Geschenke. Wir kauften immer jeder ein Buch, um sie zum Lesen zu ermutigen – eine Freizeitbeschäftigung, die im Hause Gorham eher selten gepflegt wurde. Aber wir brachten ihnen auch immer etwas anderes mit, irgendeinen Schnickschnack, den man im Haar tragen kann, oder Modeschmuck, nichts Übertriebenes. Es fiel schwer, nicht zu strahlen wie ein Weihnachtsbaum, als Mariella sagte: »Oh, ich habe die anderen beiden Bücher gelesen, die die Frau geschrieben hat! Danke!« Ich verschluckte mein »Gern geschehen« und lächelte stattdessen zufrieden. Gracie sagte nichts, sondern strahlte uns an. Das sprach Bände, denn sie lächelt nicht oft. Sie sieht Mariella kein bisschen ähnlich, andererseits hatten meine Schwester und ich uns auch nicht ähnlich gesehen. Gracie sieht aus wie eine kleine Elfe: Sie hat eher grüne Augen, langes, dünnes helles Haar, ein kleines Stupsnäschen und herzförmige Lippen. Vielleicht kann ich einfach nicht sehr gut mit Kindern umgehen. Ich finde Gracie interessanter als Mariella, auch wenn das herzlos klingt. Soweit ich weiß, haben auch echte Mütter heimliche Vorlieben. Ich bin mir sicher, dass ich mir meine nicht anmerken lasse. Ich warte immer darauf, dass Mariella etwas tut, was ich interessant finde, und war entzückt, dass sie sich über das Buch freute. Wenn sich Mariella als Leseratte entpuppte, würde ich einen Weg finden, ihr näherzukommen. Gracie war sehr krank gewesen, zu einem Zeitpunkt, an dem ich ebenfalls krank war. Das lag an der unzureichenden Pflege. Mich hatte der Blitz niedergestreckt, während Gracie an chronischen Brust- und Atemproblemen litt. »Bist du eine böse Frau, Tante Harper?«, fragte Gracie. Die Frage kam aus heiterem Himmel. Diese »Tante«-Anrede stammte von Iona. Sie fand, dass wir so viel älter waren als unsere Schwestern, dass sie uns respektvoll anreden sollten. Aber das war nicht der Grund, warum ich so entgeistert war. »Ich bemühe mich, nicht böse zu sein«, sagte ich, um etwas Zeit zu schinden, bis ich den Grund ihrer Frage kannte. Iona beschäftigte sich mit ihrem Kaffee und hörte nicht auf, mit einem Löffel darin zu rühren. Ich spürte, wie sich meine Mundwinkel senkten, und ich strengte mich an, kein böses Wort zu verlieren. Als klar wurde, dass Iona so tat, als ginge sie das Ganze nichts an, fuhr ich fort: »Ich versuche aufrichtig zu den Menschen zu sein, für die ich arbeite«, sagte ich. »Ich glaube an Gott.« (Aber mit Sicherheit nicht an denselben Gott wie Iona.) »Ich arbeite hart, und ich zahle meine Steuern. Ich bin so gut, wie ich kann.« Und das war die Wahrheit. »Aber wenn du Geld von Leuten nimmst, ohne dein Versprechen einzulösen, ist das doch böse, oder?«, sagte Gracie. »Natürlich ist das böse«, schaltete sich Tolliver ein. »So etwas nennt man Betrug, und das würden Harper und ich niemals tun.« Seine dunklen Augen bohrten sich in Iona. Auch Gracie schaute ihre Adoptivmutter an. Bestimmt sahen sie zwei ganz verschiedene Menschen. Iona wich unseren Blicken nach wie vor aus und rührte immer noch in ihrem verdammten Kaffee. In diesem Moment kam Hank herein, genau zum richtigen Zeitpunkt. Hank war ein hochgewachsener Mann mit einem breiten Gesicht, dunklem Teint und sich lichtendem blondem Haar. Er hatte einmal sehr gut ausgesehen und war mit vierzig immer noch attraktiv. Seine Taille war seit seiner Hochzeit mit Iona kaum dicker geworden. »Harper! Tolliver! Wie schön, dass ihr da seid! Wir sehen uns viel zu selten.« Lügner. Er küsste Gracie auf den Scheitel und kniff Mariella in die Wange. »Na, ihr beiden?«, sagte er zu den Mädchen. »Wie lief das Diktat heute, Mariella?« Mariella sagte: »Hallo, Daddy! Ich habe acht von zehn Sätzen richtig geschrieben.« »Das höre ich gern«, sagte Hank. Er schenkte sich Cola aus einer Zweiliterflasche ein, warf ein paar Eiswürfel ins Glas und holte einen Klappstuhl, der neben dem Kühlschrank stand. »Und, war’s schön im Chor, Gracie?« »Wir haben gut gesungen«, sagte sie. Sie schien erleichtert zu sein, wieder ein vertrautes Gesprächsthema zu haben. Falls Hank die angespannte Atmosphäre in der Küche bemerkt hatte, kommentierte er sie nicht. »Wie geht es euch beiden?«, fragte er mich. »Ein paar interessante Leichen gefunden in letzter Zeit?« Hank pflegte über unsere Arbeit zu sprechen, als wäre sie ein einziger Witz. Ich lächelte schwach. »Ein paar«, sagte ich. Offensichtlich las Hank keine Zeitung und sah auch keine Nachrichten. Im letzten Monat hatte ich dort öfter Erwähnung gefunden, als mir lieb war. »Wo wart ihr?« Hank schien es auch amüsant zu finden, dass Tolliver und ich wegen unseres merkwürdigen Berufs ständig unterwegs waren. Hank hatte Texas während seiner Armeezeit verlassen, aber das war auch seine einzige Reiseerfahrung. »Wir waren in den Bergen von North Carolina«, sagte Tolliver und machte eine Pause, um zu hören, ob Iona oder Hank von unserem letzten, berüchtigten Fall wussten. Nein. »Dann hatten wir einen anderen Auftrag, auf halber Strecke zwischen Texarkana und hier. In Clear Creek. Und jetzt sind wir in Garland, um euch zu besuchen.« »Und, gibt’s was Neues im Leichensuchgeschäft?« Wieder dieses provozierende Lächeln. »Nein, aber es gibt andere Neuigkeiten«, sagte Tolliver irritiert über Hanks Blödeleien. Ich sah zu Tolliver hinüber und merkte, wie konzentriert er Hank fixierte. Oh je!, dachte ich nur. »Du hast endlich eine Freundin gefunden und wirst sesshaft!«, witzelte Hank. Tollivers nicht vorhandene Freundin hatte ihm schon viele spöttische Bemerkungen vonseiten Ionas und ihres Mannes eingetragen. »Ich habe tatsächlich eine«, sagte Tolliver ungerührt, mit einem Strahlen, das mich fast blendete. »Na, das sind ja wirklich tolle Neuigkeiten, was Mädels? Euer Onkel Tolliver hat eine Freundin. Wer ist es denn, Tol?« Mein Bruder konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sein Name abgekürzt wurde. »Harper«, sagte Tolliver. Er griff über den Tisch und nahm meine Hand. Wir warteten. »Deine …« Beinahe hätte Iona ›Schwester‹ gesagt, konnte sich aber gerade noch beherrschen. »Aber … ihr beide?« Sie sah von mir zu Tolliver. »Irgendwie gehört sich das nicht«, sagte sie zögernd. »Ihr seid …« »Nicht miteinander verwandt«, beendete ich ihren Satz und strahlte meine Tante an. Die Mädchen sahen verwirrt von einem Erwachsenen zum anderen. »Du bist meine Schwester«, sagte Mariella plötzlich. »Ja«, sagte ich und lächelte sie an. »Und Tolliver ist mein Bruder«, stellte sie fest. »Auch das ist richtig. Aber wir sind keine Blutsverwandten. Das weißt du doch, oder? Ich hatte andere Eltern als Tolliver.« »Und jetzt?«, fragte Gracie. »Heiratet ihr?« Sie wirkte zufrieden. Verwirrt, aber zufrieden. Tolliver sah mich über den Tisch hinweg an. Sein Lächeln wurde zärtlicher. »Ich hoffe doch!«, sagte er. »Wahnsinn! Darf ich dann Brautjungfer sein?«, fragte Mariella. »Meine Freundin Brianna war Brautjungfer auf der Hochzeit ihrer Schwester. Darf ich ein langes Kleid tragen? Und mir die Haare machen lassen? Briannas Mutter hat ihr erlaubt, Lippenstift zu tragen. Darf ich Lippenstift tragen, Mom?« »Wahrscheinlich wird es gar keine große Hochzeit geben, Mariella«, sagte ich, denn das würde ich ganz bestimmt nicht zulassen. »Wahrscheinlich gehen wir nur zu einem Friedensrichter. Wir werden also nicht kirchlich heiraten, und ich werde kein langes weißes Kleid tragen.« »Aber ganz unabhängig davon, wie wir heiraten werden: Du darfst dabei sein, und du kannst anziehen, was du willst«, sagte Tolliver. »Um Himmels willen!«, sagte Iona plötzlich angewidert. »Ihr beide dürft nicht heiraten! Und wenn ihr das tut, obwohl es Gott verboten hat, werden Mariella und Gracie bestimmt nicht dabei sein!« »Warum nicht?«, fragte Tolliver mit drohendem Unterton. »Sie sind unsere Familie.« »Das wäre einfach unpassend«, sagte Hank ernst, womit er unsere Beziehung ein für allemal verurteilte. »Ihr beide seid viel zu eng miteinander aufgewachsen.« »Wir sind nicht blutsverwandt«, sagte ich. »Und wenn wir heiraten wollen, tun wir das auch.« In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich mehr in eine Diskussion hatte verwickeln lassen, als mir lieb war. Tolliver strahlte mich an. Ich schloss die Augen. Tolliver hatte doch tatsächlich um meine Hand angehalten, und ich hatte Ja gesagt. »Nun«, sagte Iona und zog eine für sie typische Schnute. »Auch wir haben Neuigkeiten.« »Und zwar?« Ich wollte Interesse bekunden. Ich wollte die unangenehme Atmosphäre vertreiben, die meine Schwestern so unglücklich gemacht hatte. Ich zwang mich, meine Tante anzulächeln und so etwas wie freudige Erwartung zu zeigen. »Hank und ich bekommen ein Baby«, sagte Iona. »Die Mädchen werden einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester bekommen.« Nachdem ich mich gerade noch beherrschen konnte, nicht mit einem »Was, nach so viel Jahren?!« herauszuplatzen, rang ich mir ein »Oh, das sind ja tolle Neuigkeiten!« ab. »Freut ihr euch schon, Mädels?« Tollivers Hand fand meine unter dem Tisch und drückte sie. Wir hatten uns nie Gedanken darüber gemacht, dass Iona und Hank eigene Kinder haben könnten. Und ehrlich gesagt hatte ich auch nie groß über ihre Kinderlosigkeit nachgedacht. Ich hatte sie eigentlich ausschließlich als Störenfriede betrachtet, die uns im Weg standen, wenn wir unsere Schwestern besuchen wollten. Andererseits konnten wir froh sein, dass sie sich Tag für Tag um diese beiden kleinen Mädchen kümmerten, die nicht gerade einfach waren. In einem Moment seltener Klarheit erkannte ich das und begriff, dass wir uns nicht in Ionas und Hanks Beziehung zu den Mädchen einmischen durften. Ich musterte Mariellas Gesicht und sah ihre Verunsicherung. Weder sie noch Gracie konnten jetzt weitere Probleme gebrauchen. Die Mädchen versuchten, sich auf das Baby zu freuen, waren aber erst einmal erschüttert. Ich konnte sie gut verstehen. 2 Im Texas Roadhouse hatten wir uns schon für einen Tisch eintragen lassen, als Mark kam. Mark sieht aus wie Tollivers Bruder: Beide haben dieselben Wangenknochen, dasselbe Kinn und dieselben braunen Augen. Aber Mark ist kleiner und dicker und (was ich allerdings nie laut gesagt habe) längst nicht so intelligent wie Tolliver. Ich habe so viele gute Erinnerungen an Mark, dass ich ihn für immer in mein Herz geschlossen habe. Mark tat, was er konnte, um uns vor unseren Eltern zu beschützen. Nicht, dass unsere Eltern uns bewusst wehtun wollten, aber sie waren nun mal drogensüchtig. Drogensüchtige vergessen, dass sie Eltern sind. Sie vergessen, dass sie verheiratet sind. Sie sind nur noch süchtig. Mark hatte schwer gelitten, da er sich noch besser als Tolliver an einen normalen Vater erinnern konnte. Mark erinnerte sich, wie er von ihm zum Fischen und Jagen mitgenommen worden war. Dass sein Vater zu Lehrersprechstunden und zu Fußballspielen gegangen war und ihm bei seinen Mathehausaufgaben geholfen hatte. Von Tolliver wusste ich, dass er nur noch vage Erinnerungen an diese Zeit hatte. Aber die letzten Jahre im Wohnwagen hatten diese Erinnerungen immer mehr überschattet, bis der Schmerz auch jene Flamme gelöscht hatte, die sie noch am Leben hielt. Mark war seit Neuestem Manager bei JCPenney. Er trug eine marineblaue Hose, ein gestreiftes Hemd und ein Namensschild. Als ich sah, wie er das Restaurant betrat, wirkte er erschöpft. Aber seine Miene erhellte sich sofort, als er uns entdeckte. Mark trug sein Haar sehr kurz und hatte seinen Schnurrbart abrasiert. Dieses propere Erscheinungsbild ließ ihn älter, aber auch irgendwie selbstbewusster wirken. Tolliver und sein Bruder absolvierten das typische Männerbegrüßungsritual, indem sie sich auf den Rücken klopften und mehrmals »Hey, man!« sagten. Ich wurde weniger heftig umarmt. Genau im richtigen Moment erfuhren wir, dass wir jetzt Platz nehmen konnten. Als wir in unserer Nische saßen und mit Speisekarten versorgt waren, fragte ich Mark nach seinem Job. »Unser Weihnachtsgeschäft war weniger gut als erhofft«, sagte er ernst. Mir fiel auf, wie weiß und ebenmäßig seine Zähne waren, und ich spürte einen eifersüchtigen Stich anstelle seines Bruders. Im Gegensatz zu Tolliver war Mark damals alt genug gewesen, um seine Zähne korrigiert zu bekommen. Als dann Tolliver mit der typisch amerikanischen Mittelstands-Zahnspange und Aknebehandlung an der Reihe gewesen wäre, hatte die Abwärtsspirale für unsere Eltern bereits begonnen. Ich schüttelte die unangemessene Eifersucht ab. Mark hatte in dieser Hinsicht einfach Glück gehabt. »Die Verkaufszahlen sind hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, und wir werden uns in diesem Frühling ganz schön anstrengen müssen«, sagte er. »Und worauf führst du das zurück?«, fragte Tolliver, als ob es ihn auch nur einen Scheiß interessierte, warum der Laden nicht so lief, wie er sollte. Mark schwallte ihn weiter mit dem Laden und seiner Verantwortung zu, und ich zwang mich, das gebührende Interesse zu zeigen. Das war ein besserer Job als der des Restaurantleiters, den er vorher gehabt hatte, zumindest die Arbeitszeiten waren besser. Mark hatte zwei Jahre lang das Junior College besucht und danach ein Abendstudium absolviert. Irgendwann hatte er einen Abschluss gemacht. Ich bewunderte ihn für seine Ausdauer. Weder Tolliver noch ich hatten so viel erreicht. Doch obwohl ich den Eindruck erweckte, zuzuhören, und Mark wirklich mochte, langweilte ich mich ehrlich gesagt zu Tode. Ich musste daran denken, wie Mark einmal einen Besucher meiner Mom k. o. geschlagen hatte, einen taffen Burschen um die dreißig, der sich unverhohlen an Cameron herangemacht hatte. Mark hatte nicht wissen können, ob der Kerl bewaffnet war (was viele Freunde unserer Eltern waren). Trotzdem hatte er keine Sekunde gezögert, meine Schwester zu verteidigen. Diese Erinnerung erleichterte es mir, vorzugeben, dass ich an Marks Lippen hing. Tolliver stellte die entsprechenden Fragen. Anscheinend kannte er sich in solchen Dingen besser aus als gedacht. Zum hundertsten Mal fragte ich mich, ob Tolliver nicht lieber ein ganz normales Leben führen würde. Dabei hatte er mich diesbezüglich noch am Vortag beruhigt. Wir hatten Iona und Hank äußerst kleinlaut verlassen. Ionas Neuigkeiten hatten uns beide völlig überrascht. Obwohl wir uns bemühten, ihr und Hank begeistert zu gratulieren, wirkten wir wahrscheinlich doch nicht begeistert genug. Wir waren noch ziemlich sauer wegen ihrer Reaktion auf unsere Beziehung, sodass es uns schwergefallen war, uns aufrichtig für sie zu freuen. Natürlich waren unsere Anspannung und Wut auch den Mädchen nicht verborgen geblieben. Innerhalb weniger Minuten hatten sie sich erst für uns gefreut und waren dann völlig in das sie umgebende Gefühlschaos hineingerissen worden. Hank hatte sich in sein winziges »Arbeitszimmer« zurückgezogen, um seinen Pastor anzurufen und diesen Fremden zu unserer Beziehung zu befragen. Daraufhin war bei mir eine kleine Sicherung durchgebrannt. Er hatte Tolliver mitgenommen, und Tolliver war ebenso empört wie amüsiert wieder herausgekommen. Seit unserem Abschied von Hank und Iona hatten wir unsere Hochzeit, die so unerwartet zur Sprache gekommen war, mit keinem Wort mehr erwähnt. Komischerweise fühlte es sich gut an, nicht darüber zu reden. Wir waren in den Fitnessraum gegangen, um ein bisschen auf dem Laufband zu trainieren, und hatten uns die Wiederholung einer Law-and-Order-Folge angesehen. Wir hatten uns über die Gegenwart des jeweils anderen gefreut und darüber, endlich allein zu sein. Noch auf dem Laufband war mir aufgefallen, dass uns die Besuche bei unseren Schwestern immer so mitnahmen. Nach kurzer Zeit in dem beengten Haus mussten wir schon wieder den Rückzug antreten, uns sammeln und neue Kraft tanken. Ich machte mir Sorgen über die Verstimmung zwischen meiner Tante und mir, bis mir klar wurde, dass zwischen Tolliver und mir alles in Ordnung war. Und das war die einzige Beziehung, die mir wirklich wichtig war, mal abgesehen von der, die ich zu meinen kleinen Schwestern aufbauen wollte. Trotzdem hatte mich die unangenehme Situation am Vorabend immer wieder beschäftigt. Ich weiß, dass das naiv von mir war, aber immer wenn ich an Ionas Schwangerschaft dachte, war ich wieder schockiert. Ich hatte mitbekommen, wie meine Mutter mit meinen kleinen Schwestern schwanger war. Ich finde es noch heute erstaunlich, dass Gracie angesichts des Drogenkonsums meiner Mutter mit allem Drum und Dran zur Welt kam und keinerlei geistige oder neurologische Auffälligkeiten aufwies. Als meine Mutter mit Mariella schwanger war, hatte sie sich gerade noch beherrschen können, aber bei Gracie … Gracie war sehr krank, als sie zur Welt kam, und anschließend auch noch oft. Am Vorabend hatte ich nach dem Laufbandtraining an diese schlimmen Zeiten zurückdenken müssen. Nachdem ich mich ausgeruht hatte, war ich mit dem Handstaubsauger zum Auto gegangen, um den Kofferraum sauber zu machen. Ich hatte eine Plastiktüte für den Müll mitgenommen. Wenn man wie wir ständig im Auto sitzt, verwandelt es sich schnell in eine kleine Müllhalde. Während ich alte Quittungen und leere Pappbecher in die Tüte warf und sämtliche Ecken aussaugte, machte ich mir Sorgen um meine Tante. Iona war, soweit ich wusste, gesund, und sie trank weder Alkohol noch nahm sie Drogen. Aber war sie nicht ein bisschen zu alt, um sich jetzt noch auf das Wagnis Mutterschaft einzulassen? Während ich einerseits überlegte, ob es am Autobahnzubringer irgendwo eine Möglichkeit zum Ölwechsel gab, war ich andererseits damit beschäftigt, meine Ängste in Schach zu halten. Ich sagte mir, dass viele Frauen lange warten, bis sie eine Familie gründen. Und wenn sie sich dann finanziell oder beziehungstechnisch abgesichert fühlten, waren das auch bessere Voraussetzungen dafür, ein Kind großzuziehen. Leider wusste ich aus eigener Erfahrung, wie anstrengend es ist, für ein Kleinkind zu sorgen. Vielleicht konnte Iona ja aufhören zu arbeiten. Während ich vorgab, Mark zuzuhören, und an dem Getränk nippte, das mir die Kellnerin gebracht hatte, ließ ich mir das Gespräch an Ionas Küchentisch noch einmal durch den Kopf gehen. Irgendetwas, das ich wahrgenommen hatte, hatte mich beunruhigt. Etwas, an das ich mich nach dem Aufhebens um unsere familiären Enthüllungen nicht mehr erinnern konnte. Da sich Mark und Tolliver eindeutig zu lange in Einzelhandelsdiskussionen verloren, ging ich noch einmal alle Personen durch, die mit am Tisch gesessen hatten. Dann frischte ich meine Erinnerung an die Gegenstände auf dem Tisch auf. Schließlich gelang es mir, den Grund für meine Beunruhigung ausfindig zu machen. Ich wartete, bis die Brüder verstummten, bevor ich abrupt das Thema wechselte. »Besuchst du die Mädchen oft, Mark?«, fragte ich. »Nein«, sagte er und zog schuldbewusst den Kopf ein. »Von mir aus ist es ziemlich weit, und ich habe abartige Arbeitszeiten. Außerdem sorgt Iona immer dafür, dass ich mich dort unwohl fühle.« Er zuckte die Achseln. »Ehrlich gesagt interessieren sich die Mädchen nicht besonders für mich.« Mark hatte den Wohnwagen verlassen, sobald er konnte, was auch wir sehr befürworteten. Er besuchte uns, wenn unsere Eltern nicht da oder weggetreten waren. Und er versorgte uns Gott sei Dank mit Lebensmitteln, sooft er konnte. Aber das bedeutete auch, dass er nicht so allgegenwärtig gewesen war wie wir, als die Mädchen noch klein waren. Er hatte nicht die Möglichkeit gehabt, eine wirkliche Bindung zu ihnen herzustellen. Cameron, Tolliver und ich hatten uns um Mariella und Gracie gekümmert. Wenn mich die bösen Erinnerungen im Schlaf heimsuchten und weckten, wurde mir wieder ganz schlecht vor Angst bei dem Gedanken, was den Mädchen alles hätte zustoßen können, wenn wir nicht gewesen wären. Doch das durfte und sollte die Mädchen nicht kümmern. »Du hast also in letzter Zeit nicht mit Iona gesprochen.« Ich musste an die Gegenwart und an die Zukunft denken. »Nein.« Mark sah mich fragend an. »Weißt du, dass Iona von deinem Dad gehört hat?« Es war die Schrift meines Stiefvaters gewesen, die ich in dem Brief auf dem Poststapel entdeckt hatte! Aus Mark würde nie ein guter Pokerspieler, denn er hatte eindeutig ein schlechtes Gewissen. Ich musste lächeln, als ich sah, wie erleichtert er war, dass die Kellnerin ausgerechnet jetzt kam, um unsere Bestellungen aufzunehmen. Aber dieses Lächeln sollte mir bald vergehen. Ich wagte es nicht, Tolliver einen Seitenblick zuzuwerfen. Als die Kellnerin verschwunden war, zeigte ich auf Mark, zum Zeichen, dass er mit der Sprache herausrücken sollte. »Na ja, das wollte ich euch noch erzählen«, sagte er und starrte auf sein Besteck. »Was wolltest du uns noch erzählen, Bruderherz?«, fragte Tolliver angestrengt höflich. »Dad hat mir vor ein paar Wochen geschrieben«, sagte Mark. Oder beichtete es vielmehr. Dann wartete er, dass Tolliver ihm die Absolution erteilte, was dieser jedoch nicht vorhatte. Wir beide wussten, dass Mark den Brief beantwortet hatte, sonst würde er jetzt nicht so herumdrucksen. »Dad lebt also«, sagte Tolliver, und jeder andere hätte seine Stimme für neutral gehalten. »Ja, er hat einen Job. Er ist wieder clean, Tol.« Mark hatte schon immer eine Schwäche für seinen Vater gehabt. Und er war stets unglaublich naiv, wenn es um seinen Vater ging. »Seit wann ist Matthew eigentlich wieder aus dem Gefängnis?«, fragte ich, da Tolliver nicht auf Marks Bemerkung reagierte. Ich hatte es nie geschafft, Matthew Lang ›Vater‹ zu nennen. »Äh, seit einem Monat«, sagte Mark. Er faltete den kleinen Papierserviettenring, der Besteck und Serviette zusammengehalten hatte. Dann entfaltete er ihn und faltete ihn erneut. Diesmal verkleinerte er ihn zu einem Rechteck. »Er ist wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden. Nachdem ich ihm geantwortet habe, hat er mich angerufen und gesagt, dass er wieder Kontakt zu seiner Familie aufnehmen will.« Ich war mir ziemlich sicher, dass Matthew rein zufälligerweise auch Geld und eine Übernachtungsgelegenheit wollte. Ob Mark seinem Vater tatsächlich glaubte? War er tatsächlich so blauäugig? Tolliver sagte kein Wort. »Hat er sich bei deinem Onkel Paul oder bei Tante Miriam gemeldet?«, bemühte ich mich, das Schweigen zu brechen. Mark zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mit denen spreche ich nie.« Auch wenn es nicht wirklich stimmte, dass Tolliver und ich mit Ausnahme von Mark keine weiteren erwachsenen Verwandten mehr hatten, fühlte es sich so an. Matthew Langs Geschwister waren von seinem Verhalten so oft enttäuscht und abgestoßen worden, dass sie jeden Kontakt abgebrochen hatten. Dummerweise galt das auch für seine Kinder. Mark und Tolliver hätten Hilfe gebrauchen können – und das nicht zu knapp –, aber dann hätte man sich mit Matthew auseinandersetzen müssen, der schlichtweg zu schwierig und Angst einflößend für seine Geschwister war. Und so kam es, dass Tolliver Cousins hatte, die er kaum kannte. Ich wusste nicht genau, was er von Pauls und Miriams Selbstschutzmaßnahmen hielt, aber er hatte in den letzten Jahren keinen Versuch unternommen, sie zu kontaktieren, während Matthew hinter Gittern saß. Ich glaube, das spricht für sich. »Was macht Dad?«, fragte Tolliver. Seine Stimme war ungewöhnlich ruhig, aber er riss sich zusammen. »Er arbeitet bei McDonald’s. Am Drive-In-Schalter, glaube ich. Vielleicht auch in der Küche.« Bestimmt war Matthew Lang nicht der erste Anwalt mit Berufsverbot, der am Drive-In-Schalter von McDonald’s arbeitete. Aber angesichts der Tatsache, dass ich es in der gemeinsamen Zeit im Wohnwagen nicht ein einziges Mal erlebt hatte, dass er etwas kochte oder auch nur einen Teller spülte, war das wirklich eine Ironie des Schicksals. Aber so komisch, dass ich gelacht hätte, war es auch wieder nicht. »Was ist eigentlich mit deinem Vater passiert, Harper?«, fragte Mark. »Cliff, hieß er nicht so?« Mark fand es wohl an der Zeit, darauf hinzuweisen, dass Matthew nicht der einzige Rabenvater war. »Als ich das letzte Mal von ihm hörte, war er im Gefängniskrankenhaus«, sagte ich. »Ich glaube, er erkennt niemanden mehr.« Ich zuckte die Achseln. Mark wirkte schockiert. Er strich geistesabwesend über den Tisch. »Besuchst du ihn nicht?« Er klang erstaunt über meine Herzlosigkeit, was ich wirklich nicht verstehen konnte. »Wie bitte?«, sagte ich. »Warum sollte ich? Er hat sich nie um mich gekümmert. Da brauche ich mich auch nicht um ihn kümmern.« »War das nicht anders, bevor er Drogen nahm? Hat er dir da nicht ein schönes Zuhause geboten?« Ich begriff, dass es gar nicht wirklich um meinen Vater ging, trotzdem reagierte ich gereizt. »Ja«, gab ich zu. »Er und meine Mutter haben uns ein schönes Zuhause geboten. Aber als sie süchtig waren, haben sie kaum noch einen Gedanken an uns verschwendet.« Es gab viele Kinder, denen es schlechter ergangen war und die nicht einmal einen Wohnwagen mit einem Loch im Badezimmerboden besessen hatten. Und keine Geschwister, die auf sie aufpassten. Aber mir hatte es gereicht. Und später waren hässliche Dinge passiert, als meine Mutter und Tollivers Vater ihre gestörten »Freunde« eingeladen hatten. Ich weiß noch, wie wir Kinder eines Nachts unter dem Wohnwagen geschlafen hatten, weil wir uns so sehr vor dem fürchteten, was darin vorging. Ich schüttelte mich. Bloß kein Mitleid. »Woher weißt du das überhaupt mit Dad?«, fragte Mark. Er wirkte beleidigt. Mark war schon immer sehr leicht zu durchschauen. Im Moment war ich bei ihm eindeutig nicht sehr wohl gelitten. »Ich habe einen Brief von ihm auf Ionas Tisch entdeckt. Ich brauchte eine Weile, bis mir einfiel, woher ich die Schrift kannte. Meinst du, er will Iona dazu bringen, dass sie ihm Kontakt zu den Mädchen erlaubt? Aber warum sollte er das wollen?« »Vielleicht findet er, dass er seine Töchter sehen sollte«, sagte Mark und wurde ganz rot, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er wütend war. Tolliver und ich sahen unseren Bruder nur wortlos an. »Ist ja gut«, sagte Mark und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Er hat es nicht verdient, sie zu sehen. Keine Ahnung, was er von Iona will. Als ich ihn traf, sagte er, dass er Tolliver sehen wolle. Er hat schließlich keine Adresse von ihm, an die er schreiben könnte.« »Aus gutem Grund«, sagte Tolliver. »Er ist auf Webseiten gestoßen, die ihre Arbeit verfolgen«, sagte Mark und wies mit dem Kinn auf mich, als säße ich ganz weit weg. »Er meinte, auf eurer Webseite sei eine E-Mail-Adresse angegeben, aber er wolle euch nicht darüber kontaktieren wie ein Fremder.« Die Kellnerin kam mit unserem Essen, und wir absolvierten das kleine Ritual, Servietten zu verteilen und Salz- und Pfefferstreuer neu anzuordnen. »Mark«, sagte Tolliver, »fällt dir auch nur ein einziger Grund ein, warum ich mir die Mühe machen sollte, diesen Mann wieder in mein Leben zu lassen? Oder in Harpers?« »Er ist unser Vater«, sagte Mark hartnäckig. »Er ist alles, was wir noch haben.« »Nein«, sagte Tolliver. »Harper ist auch noch da.« »Aber sie gehört nicht zu unserer Familie.« Mark sah mich an, wenn auch diesmal entschuldigend. »Sie ist meine Familie«, sagte Tolliver. Mark erstarrte. »Willst du damit sagen, dass ich euch nicht in diesem Wohnwagen hätte zurücklassen dürfen? Dass ich bei euch hätte bleiben müssen? Dass ich euch im Stich gelassen habe?« »Nein«, sagte Tolliver erstaunt. Wir tauschten einen flüchtigen Blick. »Ich will damit sagen, dass Harper und ich ein Paar sind.« »Sie ist deine Stiefschwester«, sagte Mark. »Und meine Freundin«, erwiderte Tolliver, während ich in meinen Salat hineinlächelte. Wie merkwürdig das klang. Mark starrte uns mit offenem Mund an. »Wie bitte? Seit wann denn das? Ist das legal?« »Erst seit Kurzem, und ja, es ist legal. Übrigens sind wir sehr glücklich miteinander, danke der Nachfrage.« »Dann freue ich mich für euch«, sagte Mark. »Schön, dass ihr euch habt.« Doch sehr überzeugt wirkte er nicht. »Ist das nicht trotzdem ein bisschen komisch? Wir sind schließlich zusammen aufgewachsen.« »So wie du und Cameron«, sagte ich »Ich habe nie vergleichbare Gefühle für Cameron empfunden.« »Na gut«, sagte ich. »Aber wir empfinden nun mal so. Wir haben es nicht darauf angelegt, es ist eben einfach passiert.« Ich lächelte Tolliver an und war auf einmal absurd glücklich. Er lächelte zurück, und der Kreis schloss sich. »Was also soll ich Dad sagen?«, fragte Mark. Er klang ein wenig verzweifelt. Keine Ahnung, wie Mark sich diese Unterhaltung vorgestellt hatte, aber bestimmt nicht so. »Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt. Wir möchten ihn nicht sehen«, sagte Tolliver. »Ich möchte nicht, dass er sich bei mir meldet. Wenn er an unsere Webseite mailt, werde ich ihm nicht antworten. Das letzte Jahr dort im Wohnwagen – du kannst von Glück sagen, dass du das nicht miterlebt hast, Mark. Gott sei Dank warst du alt genug, fortzugehen und dein eigenes Leben zu leben. Ich habe dir nie vorgeworfen, dass du weggegangen bist, wenn du das meinst. Selbst wenn du im Wohnwagen geblieben wärst, hättest du nichts an unserer Situation ändern können. Außerdem hast du uns mit Lebensmitteln, Windeln und Geld versorgt, so gut du konntest. Wir waren froh, dass es einer von uns geschafft hatte, ein normales Leben zu führen. Mein Job bei Taco Bell allein hätte nicht ausgereicht.« »Du wirfst mir also nicht vor, einfach davongelaufen zu sein?« Mark zersäbelte sein Steak, den Blick fest auf die Gabel geheftet. »Nein, ich glaube vielmehr, dass du dein Leben gerettet hast.« Tolliver legte seine Gabel weg. Sein Gesicht war ernst. »Das glaube ich wirklich. Und Harper glaubt das auch.« Nicht, dass Mark großen Wert auf meine Meinung gelegt hätte, aber ich nickte. Etwas anderes wäre mir dazu nie eingefallen. Mark versuchte zu lachen, aber es war ein erbärmlicher Versuch. »Ich hatte nicht vor, so heftige Themen anzuschneiden«, sagte er. »Dein Dad ist wieder aufgetaucht. Das ist nicht deine Schuld.« Ich lächelte ihn an, um ihn wieder aufzumuntern. Wohl eher vergeblich. »Hast du deinen Dad wirklich nie besucht?«, fragte er mich. Er kam mit meiner Haltung nicht zurecht. »Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich dich deswegen anlügen?« »Was hat er denn?« »Keine Ahnung.« »Weiß er, dass deine Mutter gestorben ist?« »Keine Ahnung.« »Weiß er das mit Cameron?« Ich dachte einen Moment nach. »Ja, denn einige Reporter haben ihn ausfindig gemacht und mit ihm geredet, als sie vermisst wurde.« »Und er hat dich nie …« »Nein. Er saß im Gefängnis. Er hat mir ein paar Briefe geschrieben. Meine Pflegeeltern haben sie mir gegeben. Aber ich habe sie nicht beantwortet. Keine Ahnung, was dann mit ihm passiert ist. Dasselbe wie immer, nehme ich an. Ich habe nie mehr etwas von ihm oder über ihn gehört, bis er krank wurde. Da hat mir der Gefängnisseelsorger geschrieben.« »Und du hast … einfach nicht darauf geantwortet?« »Ich habe einfach nicht darauf geantwortet. Tolliver, darf ich von deiner Süßkartoffel probieren?« »Klar«, sagte er und schob mir seinen Teller hin. Er bestellt immer eine, wenn wir im Texas Roadhouse essen, und ich bekomme immer einen Bissen davon. Ich schluckte ihn hinunter. Es schmeckte nicht so gut wie sonst, aber das lag vermutlich nicht am Koch, sondern an Mark. Der schüttelte den Kopf und starrte in seinen Teller. Dann sah er auf und schaute erst Tolliver und dann mich an. »Keine Ahnung, wie ihr das macht«, sagte er. »Wenn Dad etwas von mir will, muss ich darauf reagieren. Er ist mein Vater. Wenn meine Mutter noch lebte, wäre es genauso.« »Wahrscheinlich sind wir einfach nicht so gut wie du, Mark«, sagte ich. Was sollte ich auch sonst sagen? Er wird dich ausquetschen und aussaugen. Er wird seine Versprechen und dir das Herz brechen. »Ich nehme nicht an, dass ihr seit unserem letzten Gespräch was von der Polizei gehört habt?«, fragte Mark. »Oder von dieser Detektivin?« »Du schreckst ja heute vor keinem heiklen Thema zurück, Mark«, meinte ich und musste mich schwer beherrschen, höflich zu bleiben. »Ich muss euch das fragen. Irgendwann muss es doch Neuigkeiten geben.« Ich ließ meinen Ärger sausen, denn manchmal denke ich dasselbe. »Es gibt keine Neuigkeiten. Eines Tages werde ich sie finden.« Das sage ich bereits seit Jahren, doch noch war es nicht dazu gekommen. Aber eines Tages, und zwar dann, wenn ich es am wenigsten erwartete – obwohl ich es eigentlich ständig erwartete –, würde ich ihre Nähe spüren, so wie ich die Nähe unzähliger anderer Toter gespürt hatte. Ich würde Cameron finden, und dann würde ich wissen, was ihr an jenem Tag zugestoßen war. Sie war allein nach Hause gegangen, nachdem sie geholfen hatte, die Highschool für den Abschlussball zu dekorieren. Ich war damals in ein Kind verwandelt worden, für das so etwas nicht mehr infrage kam. Daran war der Blitzschlag schuld. Ich musste mich nach wie vor an mein neues Ich gewöhnen und hatte eine Riesenangst vor meiner neuen, seltsamen Gabe. Ich musste mich noch von den körperlichen Folgen erholen. Ich humpelte und wurde schnell müde. An jenem Tag hatte ich wieder eine meiner furchtbaren Migräneattacken gehabt. Es war Frühling gewesen, und wir erlebten gerade einen Kälteeinbruch. In der Nacht davor war die Temperatur auf unter vier Grad gefallen. An jenem Nachmittag hatte es nur fünfzehn Grad gehabt. Cameron hatte schwarze Strumpfhosen, einen schwarz-weiß karierten Schottenrock und einen weißen Rolli getragen. Sie sah toll aus. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie dieses Outfit aus der Altkleidersammlung hatte. Ihr blondes langes Haar glänzte. Meine Schwester Cameron hatte Sommersprossen. Sie hasste sie. Und sie schrieb nur gute Noten. Während sich Mark und Tolliver unterhielten, versuchte ich mir vorzustellen, wie Cameron jetzt wohl aussah. Wäre sie noch blond? Hätte sie zugenommen? Sie war klein gewesen, kleiner als ich, hatte dünne Arme und Beine und einen eisernen Willen gehabt. Sie war eine gute Leichtathletin gewesen, aber als sie eine Zeitung nach ihrem Verschwinden einen »Leichtathletikstar« genannt hatte, hatten wir nur die Augen verdreht. Meine Schwester war keine Heilige gewesen. Ich hatte Cameron besser gekannt als alle anderen. Sie war stolz. Sie konnte ein Geheimnis bewahren, bis es nicht mehr anders ging. Sie war klug und lernte fleißig. Manchmal hasste sie unsere Situation, den Verlust unseres Wohlstands, so sehr, dass sie laut schrie. Sie hasste unsere Mutter Laurel. Sie hasste sie leidenschaftlich dafür, uns mit in die Tiefe gerissen zu haben. Gleichzeitig liebte Cameron unsere Mutter. Matthew, Mutters zweiten Mann, aber x-ten »Freund«, konnte sie nicht ausstehen. Cameron hing der Illusion an, dass unser Vater eines Tages wieder er selbst würde – zu dem Menschen, der er vor seiner Drogensucht gewesen war. Sie glaubte, dass er eines Tages vor dem heruntergekommenen Wohnwagen stehen und uns mitnehmen würde. Dann würden wir wieder in einem richtigen Haus leben, und andere würden unsere Kleider waschen und das Essen kochen. Unser Vater würde zu Lehrersprechstunden kommen und am Abendbrottisch mit uns besprechen, auf welches College wir gehen könnten. Das war Camerons Fantasie, ihre positive Fantasie. Sie hatte auch düstere Fantasien, ziemlich düstere. Eines Morgens erzählte sie mir auf dem Schulweg, dass sie sich ausgemalt habe, einer der Dealer unserer Mutter würde in unserer Abwesenheit vor dem Wohnwagen auftauchen, unsere Mutter und unseren Stiefvater umbringen. Anschließend würden wir zu einer netten Pflegefamilie kommen, nach der Highschool einen guten Job finden, eine Wohnung mieten und studieren. So hatten Camerons Träume ausgesehen. Was sie sich wohl für die Zeit danach vorgestellt hatte? Hätten wir alle einen netten, wohlhabenden Mann kennengelernt und würden jetzt glücklich und zufrieden mit ihm zusammen sein bis an unser Lebensende? Oder wären wir für immer in unserer bescheidenen, aber ordentlichen Wohnung geblieben, hätten unsere neuen Sachen getragen (ein wesentlicher Bestandteil von Camerons Träumen) und das gute Essen genossen, das wir inzwischen zubereiten konnten? »Schatz?«, sagte Tolliver. Ich drehte mich verblüfft zu ihm um. So hatte er mich noch nie genannt. »Möchtest du ein Dessert?«, fragte er. Ich merkte, dass die Kellnerin wartete und angestrengt lächelte, um uns zu zeigen, wie unglaublich geduldig sie war. Ich aß so gut wie nie ein Dessert. »Nein, danke«, sagte ich. Doch zu allem Überfluss musste Mark einen Pie bestellen, und Tolliver leistete ihm Gesellschaft, indem er einen Kaffe nahm. Ich wäre gern gegangen und konnte es kaum erwarten, meinen Erinnerungen zu entfliehen. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, suchte eine bequemere Position und unterdrückte ein Seufzen. Als Tolliver und Mark anfingen, über Computer zu reden, konnte ich wieder meinen eigenen Gedanken nachhängen. Aber alles, woran ich denken konnte, war Cameron. 3 Als wir wieder in unserem Motelzimmer waren, wollten wir beide nicht über Marks dummen Vorschlag reden, wieder Kontakt zu seinem und Tollivers Vater aufzunehmen. Tolliver fuhr den Laptop hoch und besuchte die Fanseite, die meine Aktivitäten vermerkt. Er sieht sie sich regelmäßig an, aus Angst, ich könnte einen verrückten Stalker haben. Ich selbst schaue sie mir nie an, da ich Post von Typen bekomme, die alle möglichen Sachen mit mir machen wollen, was ich gruselig, um nicht zu sagen widerlich finde. Jetzt hatte ich Angst, Matthew könnte sie im selben Moment aufrufen wie Tolliver. Er würde nach Mitteln und Wegen Ausschau halten, seinen Sohn zu finden. Ein bohrender Schmerz mischte sich in meine Sorgen. Ich suchte in meiner Medikamententasche nach der ABC-Salbe, um mein rechtes Bein damit einzureiben. Dort spüre ich die Nachwirkungen des Blitzschlags am meisten. Ich zog meine Schuhe und meine Jeans aus, setzte mich aufs Bett und dehnte die schmerzenden Muskeln und Gelenke. Mein rechter Oberschenkel ist von einem Muster aus roten Linien bedeckt – geplatzte Äderchen oder so. Und zwar seitdem ich mit fünfzehn vom Blitz getroffen wurde. Schön ist das nicht. Ich ließ die Salbe einziehen und versuchte, meine Muskeln zu lockern. Nach einer mehrminütigen Massage ließ der Schmerz etwas nach. Ich lehnte mich zurück in die Kissen und befahl jeder Muskelgruppe, sich nacheinander zu entspannen. Ich schloss die Augen. »Ich bin lieber draußen in einem Schneesturm, als mich mit Iona und Hank zu unterhalten«, sagte ich. »Manchmal finde ich es genauso anstrengend, mit Mark zu reden.« »Gestern Abend bei Iona …«, sagte Tolliver, verstummte und sprach dann mit großer Vorsicht weiter. »Da hat mich Hank beiseite genommen, als du im Bad warst, und gefragt, ob du schwanger bist.« »Das ist nicht dein Ernst!« »Oh doch, und ob. So nach dem Motto: ›Wenn du sie geschwängert hast, heiratest du sie auch, mein Junge. Wer austeilt, muss auch einstecken können.‹« »Na, das sind ja tolle Aussichten, was Ehe und Vaterschaft anbelangt.« Tolliver lachte. »Nun, derselbe Mann bezeichnet Iona auch als Klotz am Bein.« »Ob wir nun heiraten oder nicht, ist mir egal«, sagte ich, bevor ich merkte, dass das keine sehr taktvolle Formulierung war. »Es ist mir natürlich nicht egal«, schob ich hastig hinterher. »Ich meine, ich liebe dich und möchte einfach nur mit dir zusammen sein. Egal, ob wir nun verheiratet sind oder nicht. Mist, jetzt habe ich mich schon wieder falsch ausgedrückt.« »Wenn die Zeit dafür gekommen ist, tun wir, was sich gehört«, sagte Tolliver völlig ungerührt. Anscheinend wollte er tatsächlich heiraten. Warum sagte er es dann nicht einfach? Ich schlug die Hände vors Gesicht, was ein merkwürdiges Gefühl hinterließ, da sie noch von der ABC-Salbe brannten. Natürlich würde ich ihn heiraten, erst recht, wenn davon unsere Beziehung abhing. Ich würde alles tun, um ihn zu halten. Das war keine romantische Erkenntnis. Ich lag da und dachte nach, hörte zu, wie Tolliver auf die Tastatur einhackte. Wenn ihm irgendetwas zustößt, kann ich genauso gut sterben, dachte ich. Ich fragte mich, was das wohl über Tolliver aussagte und was über mich. Es klopfte an unserer Tür. Wir sahen uns verwirrt an. Tolliver schüttelte den Kopf, auch er erwartete niemanden. Er stand auf und zog den Vorhang ein Stück beiseite. Dann ließ er ihn wieder los. »Es ist Lizzie Joyce«, sagte er. »Zusammen mit ihrer Schwester. Sie heißt Kate, oder?« »Ja.« Ich war genauso überrascht wie er. »Was soll’s!«, sagte ich. Wir zuckten beide die Achseln. Da Tolliver beschlossen hatte, dass sie weder bewaffnet noch gefährlich waren, ließ er die Joyce-Schwestern herein. Ich zog meine Jeans wieder an und stand auf, um sie zu begrüßen. Anscheinend hatten sie noch nie ein Durchschnittsmotel von innen gesehen. Katie und Lizzie musterten den Raum mit beinahe identischen Blicken. Die Schwestern ähnelten sich sehr. Kate war ein wenig kleiner als Lizzie und vielleicht zwei Jahre jünger. Aber sie hatte die gleichen blond gefärbten Haare, die gleichen schmalen braunen Augen und die gleiche schlanke Figur. Beide trugen Jeans, Stiefel und Jacketts. Lizzie hatte ihre Haare zu einem tief sitzenden Pferdeschwanz gebunden, während Katies offen waren. Wenn man alle Ketten, Ohrringe und Ringe zusammennahm, trug jede von ihnen bestimmt Schmuck im Wert von mehreren tausend Dollar. (Nach einem späteren Besuch bei einem Juwelier korrigierte ich diesen Betrag noch nach oben.) Katie musterte Tolliver mit begierigen Blicken. Was den Rest anging, war sie weitaus weniger begeistert. Das betraf unsere Klamotten, sein Kreuzworträtselheft, seinen aufgeklappten Laptop und seine ordentlich neben dem Koffer platzierten Schuhe. »Hallo, Ms Joyce«, sagte ich und versuchte, etwas Wärme in meine Stimme zu legen. »Was kann ich für Sie tun?« »Sie können mir noch einmal erzählen, was Sie auf Mariah Parishs Grab gesehen haben.« Ich brauchte eine Sekunde, bis es Klick machte. »Sie sprechen von der Pflegerin Ihres Vaters«, sagte ich. »Die mit der Infektion, die im Kindbett starb.« »Ja. Warum behaupten Sie das? Sie hatte einen Blinddarmdurchbruch«, sagte Lizzie. Sie wirkte leicht aggressiv. Ach, du meine Güte. Was ging mich das an? »Wenn Sie es so bezeichnen wollen, bitte sehr«, sagte ich. Mir war das egal. Außerdem war ich nicht dafür bezahlt worden, mit Mariah Parish Kontakt aufzunehmen. »Aber genau das ist passiert«, sagte Katie. Ich zuckte die Achseln. »Wenn Sie es sagen.« »Was soll das heißen, ›Wenn Sie es sagen‹? Entweder sie hatte einen Blinddarmdurchbruch oder nicht.« Die Joyce-Schwestern ließen nicht so schnell locker. »Glauben Sie doch einfach, was Sie wollen. Ich habe Ihnen bereits erzählt, woran sie gestorben ist.« »Sie war eine gute Frau. Warum sollten Sie so etwas erfinden?« »Genau. Warum sollte ich?« Und was war eigentlich so schlimm daran, wenn eine Frau ein Kind bekam? »Wer war der Vater?«, fragte Lizzie genauso schroff, wie sie mich zu Mariahs Tod befragt hatte. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Dann …« Lizzie verstummte. Sie war eine Frau, die nur selten um ein Wort verlegen war. Die Situation gefiel ihr ganz und gar nicht. »Warum haben Sie das behauptet?« Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht die Augen zu verdrehen. »Ich habe es behauptet, weil ich es gesehen habe. Außerdem wollten Sie, dass ich das Grab Ihres Großvaters allein finde«, sagte ich mit gewählten Worten. »Damit Sie etwas bekamen für Ihr Geld, ging ich von Grab zu Grab, genau wie Sie sich das offensichtlich gewünscht hatten.« »Alles andere, was Sie gesagt haben, stimmt«, sagte Katie. »Ich weiß.« Erwarteten Sie etwa, dass ich über meine eigene Treffsicherheit staunte? »Warum haben Sie dann ausgerechnet das erfunden?« Wären Sie nicht so aufgebracht gewesen, hätte ich mich zu Tode gelangweilt. Mein Bein schmerzte, und ich wollte mich setzen. Andererseits wollte ich sie nicht ermutigen, sich ebenfalls zu setzen, also fühlte ich mich verpflichtet, stehen zu bleiben. »Ich habe es nicht erfunden. Das können Sie mir glauben oder auch nicht. Es ist mir egal.« »Aber wo ist das Baby?« »Woher soll ich das wissen?« Meine Geduld war zu Ende. »Ladies«, sagte Tolliver gerade noch rechtzeitig. »Meine Schwester findet Tote. Das Baby lag nicht in dem von ihr untersuchten Grab. Entweder das Baby lebt oder es ist woanders begraben. Vielleicht war es eine Fehlgeburt.« »Aber wenn das Kind von meinem Großvater war, ist es erbberechtigt«, sagte Lizzie. Plötzlich verstand ich die Aufgebrachtheit. Zur Hölle mit ihnen! Ich ließ mich aufs Bett fallen und streckte mein schmerzendes Bein. »Bitte nehmen Sie Platz«, sagte ich. »Wollen Sie eine Cola oder ein Seven-Up?« Tolliver setzte sich neben mich, damit die Schwestern die beiden Sessel haben konnten. Jede nahm das Getränkeangebot an. Obwohl Katie weiterhin auf den Laptop starrte, um herauszufinden, womit sich Tolliver beschäftigt hatte, wirkten die beiden schon deutlich ruhiger und weniger anklagend. Ich war erleichtert. »Keiner von uns wusste, dass Mariah schwanger war«, sagte Lizzie. »Deshalb waren wir so schockiert. Wir wussten auch nicht, dass sie einen Freund hatte. Mein Großvater und sie verstanden sich sehr gut, deshalb denken wir jetzt, da könnte noch mehr gewesen sein. Vielleicht aber auch nicht. Wir müssen das wissen! Abgesehen von den rechtlichen und finanziellen Konsequenzen schulden wir das einfach jedem Joyce-Nachwuchs … Wir wollen dieses Kind kennenlernen. Darf ich rauchen?« »Nein, tut mir leid«, sagte Tolliver. »Das Baby muss doch irgendwo sein. Es muss eine Geburtsurkunde geben«, sagte ich. »Selbst wenn es tot zur Welt gekommen wäre, müsste es Krankenhausakten geben. Man muss nur wissen, wen und wo man fragen muss. Vielleicht können Sie einen Privatdetektiv anheuern. Jemanden, der leicht an solche Unterlagen herankommt. Ich selbst nehme nur zu Toten Kontakt auf.« »Das ist eine gute Idee«, sagte Katie. »Kennen Sie da jemanden?« »Da Sie ohnehin in Garland sind …«, sagte Tolliver. »In Dallas lebt eine Frau, die ich sehr empfehlen kann. Sie heißt Victoria Flores. Sie war mal Polizistin in Texarkana. Noch näher an Ihrer Ranch lebt ein ehemaliger Armeeangehöriger. Ich glaube, er wohnt in Longview. Er heißt Ray Phyfe.« »In Dallas gibt es viele große Detekteien«, sagte ich, als wäre das schwer herauszufinden. »Wir wollen keine große Detektei«, sagte Lizzie. »Wir wollen die Sache so privat wie möglich halten.« Genau die Antwort hatte ich erwartet. Ich hatte mich gewundert, warum sie ausgerechnet uns nach einer Empfehlung fragten. Das Joyce-Imperium, von dem die RJ Ranch nur ein kleiner Teil war, hatte in der Vergangenheit bestimmt schon Detektive beauftragt. Unter normalen Umständen hätten sich die Joyces mit Sicherheit an die ihnen vertraute Detektei gewandt. Und die würde ihnen dann die Vorzugsbehandlung angedeihen lassen, die sie gewohnt waren. Doch im Moment interessierte mich nicht, was sie wissen und wie sie an diese Informationen herankommen wollten. Ich wollte nur jede Menge Schmerztabletten einnehmen und mich ins Bett verkriechen. Lizzie sprach mit Tolliver über Victoria Flores, und er gab ihr Victorias Telefonnummer. Der Name rief Erinnerungen wach. »Sie haben das wirklich gesehen?«, wandte sich Katie direkt an mich. »Sie erfinden das nicht nur, um uns zum Narren zu halten? Und es hat Sie auch niemand dafür bezahlt, uns einen Streich zu spielen?« »Ich spiele keine Streiche, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte. Ich nehme kein Geld für Falschinformationen. Natürlich habe ich das wirklich gesehen. So etwas denkt man sich nicht aus.« Lizzie hatte sich unseren kleinen Block und den billigen Motel-Kuli neben dem Telefon geschnappt, um sich Victorias Kontaktdaten zu notieren. »Sie ist neulich umgezogen«, sagte Tolliver. »Aber die Nummer stimmt noch.« Ich sah zu Boden und wollte mir mein Erstaunen nicht anmerken lassen. Nach weiteren Versicherungen und Wiederholungen von bereits Gesagtem gingen die Joyce-Schwestern. Ob sie wohl in Dallas übernachteten oder gleich wieder zu ihrer Ranch zurückfuhren? Letzteres war eine ziemlich weite Strecke. Wenn sie in der Gegend blieben, würden sie sich bestimmt eine vornehmere Unterkunft suchen, da war ich mir sicher. Wahrscheinlich besaßen sie in Dallas ohnehin eine Wohnung. »So, so«, sagte ich, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen und sich Tolliver wieder an den Tisch gesetzt hatte, um am Computer weiterzuarbeiten. »Victoria Flores also.« Mehr brauchte ich gar nicht zu sagen. »Ich telefoniere manchmal mit ihr«, sagte Tolliver. »Ab und zu erfährt sie was Neues. Ab und zu entdeckt sie etwas. Sie schickt mir die Rechnung, und ich bezahle sie.« »Und davon hast du mir nie etwas erzählt, weil …?« »Weil du dich bloß aufgeregt hättest«, sagte er. »Ich wüsste nicht, was dir das gebracht hätte. Immer, wenn ich dir von ihren Anrufen erzählt habe, hast du dich total aufgeregt. Sie ruft nicht oft an, vielleicht zweimal im Jahr, und ich wollte dir das einfach nicht mehr antun.« Ich holte tief Luft. Am liebsten hätte ich mich auf ihn gestürzt. Es war schließlich meine Sache, wie ich auf mögliche Nachrichten über meine Schwester reagierte. Es war mein gutes Recht, zu leiden. Doch dann überdachte ich meine Haltung noch mal. Was hatte es mir denn jemals gebracht? War es mir in meiner Unwissenheit nicht besser ergangen? War ich nicht gelassener und glücklicher gewesen, als ich darauf wartete, Cameron auf meine Art zu finden? Oder war es vielleicht doch in Ordnung, andere aktiv werden zu lassen? Sich den Schmerz zu ersparen, auch wenn das bedeutete, nicht über etwas Bescheid zu wissen, das man als ureigenste Angelegenheit betrachtete? Vielleicht war die Sache doch komplizierter, als ich dachte. Jetzt kannte ich wenigstens unser beider Haltung. Vielleicht hatte Tolliver doch recht. Es war auf jeden Fall in Ordnung, dass er so gehandelt hatte. Irgendwann nickte ich. Er wirkte erleichtert, denn seine Schultern entspannten sich, und er seufzte laut. Er setzte sich aufs Bett, um seine Socken auszuziehen, dann warf er sie in die schmutzige Wäsche, wobei mir einfiel, dass uns das Waschpulver ausging. Während ich mich bettfertig machte, dachte ich an weitere Banalitäten. Ich las gern Romane von Charlie Huston und Duane Swirczynski. Aber wenn ich das vor dem Schlafengehen tat, bekam ich eine Art Koffeinschub, und den konnte ich heute wirklich nicht gebrauchen. Stattdessen schlug ich ein Rätselheft auf. Ich legte mich mit meiner weichen Schlafanzughose und meinem T-Shirt ins Bett, drehte mich auf den Bauch und vertiefte mich in mein Kreuzworträtsel. Tolliver war darin besser als ich, und ich musste mich zusammenreißen, ihm keine Fragen zu stellen. Ein weiterer aufregender Abend im Leben der Leichenleserin Harper Connelly, dachte ich und war froh darüber. 4 Am nächsten Nachmittag, einem Sonntag, wollten wir mit Gracie und Mariella eislaufen gehen, aber nicht vor zwei Uhr. Samstagvormittags mussten sie ihre Zimmer aufräumen und Haushaltspflichten erledigen, bevor sie ausgehen durften. Und am Sonntag ging die ganze Familie in die Kirche und aß gemeinsam zu Mittag. So lauteten Ionas eiserne Regeln. Die zugegebenermaßen gar nicht mal so schlecht waren. Ich hatte gejoggt und geduscht und wollte mich gerade anziehen, als Tollivers Handy klingelte. Er war faul und lag noch im Bett, also ging ich dran. »Hallo, du musst Harper sein.« Ich erkannte die Stimme. »Ja, Victoria. Tolliver ist noch nicht aufgestanden. Wie geht’s dir so?« Victorias Urgroßeltern waren Einwanderer gewesen, doch die in Texas geborene und aufgewachsene Victoria hatte keinerlei Akzent. »Wie schön, dich zu hören«, sagte sie. »Über deine Schwester gibt es leider nichts Neues. Ich rufe wegen der Kunden an, die ihr mir geschickt habt. Wegen der Joyces.« »Sie haben sich schon gemeldet?« »Die waren sogar schon bei mir im Büro, Schätzchen, und haben mir einen Scheck ausgestellt.« »Ah, prima. Die Empfehlung hast du allerdings nicht mir zu verdanken. Tolliver hat ihnen deinen Namen und deine Telefonnummer gegeben.« »Das hat mir Lizzie auch erzählt. Diese Frau ist wirklich eine Texanerin wie aus dem Bilderbuch, was? Und ihre Schwester Kate? Ich glaube, die interessiert sich für deinen Bruder.« »Er ist nicht mein Bruder«, sagte ich automatisch, obwohl ich ihn meist so nannte. Ich atmete tief durch. »In Wahrheit sind wir verlobt.« Tolliver kam und warf mir einen warnenden Blick zu. »Oh … na ja, das ist ja … toll. Ich gratuliere.« Victoria klang nicht sehr entzückt. War sie ebenfalls an Tolliver interessiert? »Sagt mir Bescheid, wann und wo ihr heiratet, einverstanden?«, sagte Victoria dann, schon etwas fröhlicher. »So weit im Voraus haben wir noch gar nicht geplant«, sagte ich etwas verwirrt und versuchte, mich wieder zu sammeln. »Willst du kurz mit Tolliver sprechen? Er steht neben mir.« Tolliver schüttelte den Kopf, nahm mir das Telefon aber mit mürrischem Gesicht ab, als Victoria ihn unbedingt sprechen wollte. »Hallo, Victoria. Nein, ich war schon wach. Ja, wir sind ein Paar. Wir haben allerdings noch kein Hochzeitsdatum festgelegt. Das kommt noch, keine Eile.« Er nickte mir vielsagend zu und sah mir dabei in die Augen. Ich hab schon verstanden, Tolliver. Bloß keinen Druck. Aber wer hat denn damit angefangen und Iona erzählt, dass wir heiraten? Ich kehrte ihm den Rücken zu und bückte mich, um in meinem Koffer nach Klamotten zu suchen. Gleich darauf spürte ich, wie mich ein Finger an einem sehr reizvollen Ort streichelte. Ich erstarrte. Sex aus dem Hinterhalt. Mal ganz was Neues. Mein Körper signalisierte Wohlgefallen, also zog ich mich nicht zurück und schlug auch nicht nach Tollivers Hand. Das Streicheln wurde aggressiver, rhythmischer. Oh, oh, oh. Ich zuckte. Dann spürte ich seine Wärme hinter mir. Obwohl er nach wie vor mit Victoria sprach, klang er doch ziemlich abgelenkt. »Ja … äh … ich ruf dich zurück«, sagte er. »Mein anderes Telefon klingelt gerade.« Das Handy wurde zugeklappt. Etwas Handfesteres ersetzte die Finger. »Bist du bereit?«, fragte er heiser. »Ja«, sagte ich und stützte mich mit beiden Händen an der Wand ab. Dann drang sein nach oben gekrümmter Penis in mich ein, und wir wiegten uns gemeinsam hin und her. Tolliver ließ nichts anbrennen. Ich hatte nicht viel Erfahrung gehabt, als wir uns unsere Liebe gestanden. Aber ich lernte viel von ihm, und dieses Abenteuer verschaffte mir einen ganz neuen Einblick in seinen Charakter. Dabei hatte ich geglaubt, dass mich bei ihm so schnell nichts mehr überraschen konnte. Ich hatte mich geirrt. Ich stieß einen lauten Schrei aus, ein Geräusch, das mich selbst überraschte und das gleich darauf von ihm erwidert wurde. »Warum, glaubst du, hat Victoria angerufen?«, fragte ich, als ich wieder sprechen konnte. Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, waren wir aufs Bett gefallen und hielten uns eng umschlungen. »Es kommt mir etwas komisch vor, dass sie extra anrief, um sich zu bedanken. Eine Mail oder eine SMS hätten es auch getan.« Ich küsste seinen Hals. »Sie fand dich schon immer faszinierend«, sagte Tolliver zu meiner großen Überraschung. »Ach so?« »Nein, ich glaube nicht, dass sie lesbisch oder bi ist. Aber sie findet deine Gabe und die Sache mit dem Blitz einfach interessant. Vielleicht sogar faszinierend. In den letzten Jahren hat mir Victoria bestimmt Hunderte von Fragen über dich gestellt. Sie wollte wissen, wie du das machst, wie es sich anfühlt, was für körperliche Auswirkungen es hat. »Mich hat sie nie gefragt.« »Sie hat mir mal erzählt, dass sie Angst hätte, dir solche Fragen zu stellen, weil du dann vielleicht denkst, dass sie dich für eine Gestörte oder Behinderte hält.« »So als säße ich im Rollstuhl oder hätte ein riesiges Feuermal im Gesicht? Etwas, wofür ich mich schämen müsste?« »Ich glaube, sie war nur so feinfühlig, dich nicht verletzen oder in Verlegenheit bringen zu wollen. Meiner Meinung nach begegnet dir Victoria fast mit einer Art Ehrfurcht.« Tolliver klang ein wenig tadelnd, was ich vielleicht auch verdiente. Wenn Victoria sich dermaßen bemüht hatte, mich nicht zu verletzen, sollte ich mich lieber nicht darüber lustig machen. »Ich wundere mich nur, dass sie nicht direkt zur Sache kam.« Damit wollte ich andeuten, dass Victoria einen Grund gehabt hatte, warum sie mit Tolliver reden wollte und sich eher peripher für mein Problem interessierte. »Vielleicht hatte sie beides im Kopf«, sagte Tolliver, was mich erst recht misstrauisch machte. »Ich glaube nicht, dass sie sich jemals aufrichtig für mich interessiert hat. Das Hauptinteresse hast du geweckt. Meiner Meinung nach hat Victoria einfach eine Schwäche für Übersinnliches. Und in diese Kategorie fallen auch deine Fähigkeiten.« »So als würde mir die Jungfrau Maria auf einem Toast erscheinen?« »So ähnlich.« »Ha, ha.« Ich wandte den Kopf ab. »Dann soll sie mal mit auf den Friedhof gehen, wenn sie das wirklich so sehr interessiert. Und die Sache aus nächster Nähe beobachten. Sie hat uns in all den Jahren sehr geholfen. Ich hätte nichts dagegen.« Jetzt war Tolliver an der Reihe, überrascht zu sein. »Gut, ich werde es ihr ausrichten. Ich kann mir vorstellen, dass sie begeistert ist.« Er fuhr mit seinem Kinn über meinen Scheitel. Ich strich mit dem Daumen über eine seiner flachen Brustwarzen. Er gab einen leisen Lustlaut von sich. Ich wusste, dass ich eigentlich duschen müsste, da wir bald die Mädchen trafen, schob es aber noch ein paar Minuten hinaus. Wir hatten Zeit. Ich versuchte mir vorzustellen, wie uns Victoria Flores auf einen Friedhof begleitete. Am besten, wenn wir gerade keinen Auftrag hatten, wenn ich einen normalen Friedhofsbesuch … Gut, ich weiß, das klingt komisch. Aber wenn ich längere Zeit keinen Auftrag habe, gehe ich auf Friedhöfe, um in Form zu bleiben und meine merkwürdige Gabe zu trainieren. Victorias Gesellschaft würde sich komisch anfühlen, aber ich ging nicht davon aus, dass mich ihre Anwesenheit stören würde. »Sie kennt sich mit Computern aus, nehme ich an. Das muss man wohl heutzutage, wenn man als Detektiv arbeitet«, sagte ich. »Redest du immer noch von Victoria? Ich denke schon«, sagte Tolliver. »Sie hat einen Techniker erwähnt, der stundenweise für sie arbeitet.« Ich lag da und dachte nach, während Tolliver aufstand, duschte und sich anzog. Plötzlich fand ich Victoria Flores deutlich interessanter. Ich fragte mich, ob sie das vermisste Baby finden würde. Das Baby, von dem wir nicht einmal wussten, ob es überhaupt existierte. Ob Mariah Parish nun ein lebendes Kind zur Welt gebracht hatte oder nicht, sollte mich eigentlich kaltlassen. Aber ich ertappte mich dabei, dass ich den Joyces wünschte, es zu finden. Ich hatte so den Verdacht, dass es nicht von ihrem Großvater war. Andererseits: Wenn die beiden Enkelinnen so schnell zu dem Schluss gekommen waren, dass Richard Joyce ein Kind mit seiner Pflegerin gehabt hatte, war das Baby vielleicht doch von ihm. Aber Lizzie und Katie hatten nicht in dieselbe Richtung geschaut wie ich, nachdem ich ihnen Mariah Parishs Todesursache genannt hatte. Ich hatte ihren Bruder und Lizzies Freund angesehen, die beide verdammt beunruhigt gewirkt hatten. Warum, wusste ich auch nicht und würde es wahrscheinlich niemals erfahren. Aber Victoria hoffentlich schon. Vielleicht hatten beide Sex mit Richards Pflegerin gehabt. Vielleicht hatte sie einer von beiden geschwängert. Oder aber sie hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie geholfen hatten, das Baby zu verscharren oder zur Adoption freizugeben. Egal, was der Bruder – Drexell hieß er, glaube ich – getan hatte: Es ging mich nichts an. Dasselbe galt für die Suche nach dem Parish-Baby, so etwas lag schließlich nicht in meinem Kompetenzbereich. Außer, das Baby war tot. Ich überlegte, Victoria vorzuschlagen, nach einem toten Kind Ausschau zu halten. Aber Kleinkinder sind am schwierigsten. Sie haben so leise Stimmchen. Wenn sie mit ihren Eltern begraben sind, hört man sie besser. Ich verscheuchte den Gedanken an das Kind, das höchstwahrscheinlich tot war, um die lebenden Kinder abzuholen, mit denen wir verwandt waren. Beide Mädchen rannten uns entgegen, als wir in der Auffahrt der Gorhams hielten. Sie wirkten glücklich, schienen sich auf den Nachmittag zu freuen. »Ich habe eine Eins im Diktat bekommen«, sagte Gracie. Tolliver lobte sie, und ich lächelte. Aber als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich Mariella neben ihr auf dem Rücksitz. Sie schwieg und wirkte ein wenig bedrückt. »Was ist, Mariella?«, fragte ich. »Nichts«, sagte sie, was eindeutig gelogen war. Gracie sagte: »Mariella muss nachsitzen und hat eine Strafarbeit bekommen.« »Warum denn, Mariella?«, fragte ich sachlich. »Der Direktor hat mir vorgeworfen, die Klasse aufgewiegelt zu haben.« Mariella wich meinen Blicken aus. »Und, stimmt das?« »Es war diese Lindsay.« »Lindsay tyrannisiert alle«, sagte Gracie. »Dabei müssen wir uns von niemandem tyrannisieren lassen, stimmt’s? So etwas tut man nicht.« Gracie wirkte selbstbewusst, aber auch selbstgerecht. Ich wollte, dass sie einen Moment schwieg. »Wir reden später darüber«, sagte ich, woraufhin sich Mariella etwas zu entspannen schien. Ich war solche Probleme nicht gewohnt. Ich war Kinder nicht gewohnt. Aber ich erinnerte mich, dass so etwas in Mariellas Alter ein Riesendrama gewesen war. Als wir die Eisbahn erreichten, sah mich Tolliver fragend an, und ich wies mit dem Kinn auf Gracie. »Komm schon, Gracie, lass uns die Schlittschuhe holen«, sagte er, woraufhin sie fröhlich aus dem Auto hüpfte, seine Hand nahm und mit ihm auf die Anlage zuging. Mariella stieg ebenfalls aus, und wir folgten ihnen langsam. »Erzähl mir davon«, schlug ich vor. Wie erwartet, war es keine große Sache: Lindsay hatte eine gehässige Bemerkung gegenüber Mariella gemacht. Dass sie bloß adoptiert wäre und ihr Vater im Gefängnis säße. Mariella hatte Lindsay einen Magenschwinger versetzt, was meiner Meinung nach völlig angemessen war. Aus Sicht des Direktors hätte sie allerdings weinen und sich bei der Lehrerin beschweren sollen. Mir gefiel Mariellas Reaktion besser. Das brachte mich in eine Zwickmühle. Sollte ich auf meinen Bauch hören oder die Position der Schule vertreten? Wäre ich die Mutter gewesen, hätte ich vielleicht eine Antwort gewusst. Aber so holte ich nur tief Luft und bemühte mich um die richtigen Worte. »Das war wirklich gemein von Lindsay«, sagte ich. »Du kannst schließlich nichts für deinen Vater.« Mariella nickte, und ihre Kiefer mahlten. Ich kam nicht umhin festzustellen, dass sie große Ähnlichkeit mit Matthew hatte. »Genau das habe ich dem Direktor auch gesagt«, meinte Mariella. »Mom hat mir dazu geraten. Das hätte ich auch Lindsay sagen sollen. Aber sie hat mich dermaßen verletzt.« Iona stieg in meiner Achtung. Sie hatte Mariella gut auf die Grausamkeiten anderer Kinder vorbereitet. »Wahrscheinlich wäre ich an deiner Stelle auch auf Lindsay losgegangen«, sagte ich. »Andererseits: Wenn man jemanden schlägt, gibt es Ärger.« »Man soll sich also nicht prügeln?« »Es gibt bessere Möglichkeiten, Probleme zu lösen«, zog ich mich aus der Affäre. »Wie hättest du dich noch verhalten können?« Das erschien mir ausreichend einfühlsam. »Ich hätte der Lehrerin Bescheid sagen können«, meinte Mariella. »Aber dann hätte ich ihr von meinem richtigen Vater erzählen müssen und sie hätte mich so komisch angesehen.« »Stimmt.« Hmmmm. »Ich hätte weggehen können, aber dann hätte Lindsay wieder von vorn angefangen.« »Auch wahr.« Mariella war verständiger, als ich gedacht hatte. Und sie genoss es, mit jemandem zu reden, der nicht sagte, dass Gott sämtliche Probleme lösen würde. »Ich hätte … mir fällt nichts mehr ein.« Meine Schwester sah mich erwartungsvoll an. »Mir auch nicht. Du hast einfach impulsiv reagiert und hast jetzt das Nachsehen. Und was ist mit Lindsay passiert?« »Sie muss vier Stunden nachsitzen, weil sie mich gemobbt hat«, sagte Mariella. »Aber das ist doch gut, oder?« »Ja. Aber noch besser wäre es, wenn sie den Mund gehalten hätte.« Wow. Was für eine Kämpferin! »Da hast du auch wieder recht. Es ist schließlich nicht deine Schuld, dass dein leiblicher Vater Drogen nimmt. Und das weißt du auch. Aber diese Kinder haben keine Ahnung davon, wie es ist, Eltern zu haben, die böse Dinge tun. Diese Kinder haben Glück, wollen aber einfach nicht verstehen, dass du nicht darüber reden möchtest. Sie wissen instinktiv, dass sie dich damit ärgern können. Und wenn sie dich ärgern wollen, kommen sie als Erstes damit an.« Ich atmete tief durch. »Ich kenne das, Mariella. Als du noch ganz klein warst, ist Tolliver und mir genau dasselbe passiert. Jeder an der Schule wusste, wie schlimm unsere Eltern waren.« »Sogar die Lehrer?« »Keine Ahnung, wie viel sie wussten. Aber die anderen Kinder wussten Bescheid. Manche von ihnen haben Drogen in unserem Wohnwagen gekauft.« »Sie haben dich also auch gehänselt?« »Ja, einige. Andere waren genauso böse wie Mom und Dad. Sie nahmen Drogen und so.« »Und hatten Sex?« »Das auch. Aber die Kinder, die meinten, wir wären genauso wie unsere Eltern, kannten uns einfach nicht. Wir hatten Freunde, die es besser wussten.« Nicht sehr viele, aber ein paar hat es schon gegeben. »Hattest du einen Freund?« Puh! Sie hatte noch nicht mal ihre Periode, oder? Ich geriet fast ein bisschen in Panik. »Ja, ich habe mich mit Jungs verabredet. Aber nie mit solchen, die sofort Sex wollten. Je zurückhaltender du bist, desto besser ist dein Ruf. Weil man weiß, dass du noch …« »Wartest«, sagte Mariella wissend. »Das nicht unbedingt«, meinte ich. »Denn wenn du von warten redest, heißt das, dass du eines Tages damit aufhörst. Dass du nur darauf wartest, dass irgendein Junge das Richtige sagt, damit du die Beine breit machst. Aber daran darfst du nicht einmal im Entferntesten denken.« Ich wusste, dass Iona explodieren würde, wenn sie uns jetzt hören könnte. Aber genau deshalb sprach meine Schwester mit mir und nicht mit ihr. »Aber dann will keiner mehr mit einem gehen.« Das war wirklich furchtbar. »Solche Jungs kannst du f… vergessen«, sagte ich und achtete in letzter Minute auf meine Ausdrucksweise. »Du musst schließlich nicht mit Jungs gehen, die Sex erwarten, wenn sie dich nur oft genug ausführen.« »Warum sollten sie einen dann noch ausführen?«, fragte sie verwirrt. Aber das war nichts im Vergleich zu der Verwirrung, die ich empfand. »Ein Junge sollte mit dir ausgehen, weil er gern mit dir zusammen ist«, sagte ich. »Weil ihr über dasselbe lachen könnt oder euch für dieselben Dinge interessiert.« Soweit die Theorie. Aber was war mit der Praxis? Solche Themen waren eigentlich noch gar nichts für Mariella. Sie war schließlich erst zwölf. »Er sollte also ein Freund sein.« »Ja, genau.« »Ist Tolliver dein Freund?« »Ja, er ist mein bester Freund.« »Aber ihr, du weißt schon …« Sie brachte es nicht über sich, das auszusprechen, wofür ich ihr sehr dankbar war. »Das geht nur uns etwas an«, sagte ich. »Wenn alles passt, bedeutet es einem so viel, dass man nicht mit anderen darüber reden will.« »Oh.« Mariella wurde nachdenklich. Das hoffte ich zumindest. Ich hoffte, dass ich mir nicht gerade einen Riesenschnitzer geleistet hatte. Ich hatte ihr eben erst gesagt, dass sie keinen Sex mit Jungs haben sollte, mit denen sie ausging. Und dann hatte ich ihr nicht widersprochen, als sie vermutete, dass Tolliver und ich genau das taten. Ich fühlte mich vollkommen unfähig. Ich war dermaßen erleichtert, dass Tolliver und Gracie auf uns warteten, dass ich regelrecht auf sie zurannte. Tolliver sah mich misstrauisch an, aber Gracie war einfach nur ungeduldig. »Kommt, holen wir unsere Schlittschuhe«, sagte sie. »Ich möchte lossausen!« Nachdem alle ihre Schuhe anhatten, wir den Mädchen auf die Bahn geholfen und festgestellt hatten, dass alles in Ordnung war, solange sie an der Bande blieben, begannen wir selbst eine Runde zu drehen. Wir hielten uns an den Händen und fuhren erst noch ganz langsam, schließlich waren wir bestimmt seit acht Jahren aus der Übung. Ganz in der Nähe des Wohnwagens hatte es auch eine Eisbahn gegeben, und da das Schlittschuhlaufen damals kaum etwas kostete, hatten wir dort viele Stunden verbracht. Wir genossen die paar gemeinsamen Runden und kehrten anschließend zu unseren Schwestern zurück. Die stritten sich bereits, wer von ihnen die Bessere war. Tolliver nahm Mariella und ich Gracie an die Hand. Wir zogen sie von der Bande weg und fuhren ganz langsam und vorsichtig mit ihnen im Kreis herum. Ich konnte nicht verhindern, dass Gracie einmal stürzte, ein anderes Mal riss sie mich mit zu Boden. Aber am Ende hatte sie Riesenfortschritte gemacht. Mariella, die nach der Schule Basketball spielte, hatte sich deutlich besser angestellt und neigte dazu, damit anzugeben, bis Tolliver sie zum Schweigen brachte. Wir wollten die Bahn gerade lachend verlassen, als mir auffiel, dass uns jemand beobachtete: ein grauhaariger, etwa 1,78 Meter großer, sehr muskulöser Mann. Mein Blick huschte über ihn und kehrte zu seinem Gesicht zurück. Ich kannte ihn. Ich sah ihm direkt in die dunklen Augen. »Hallo, Dad«, sagte Tolliver. 5 Unsere Schwestern schmiegten sich an uns und starrten ihren leiblichen Vater mit einer Mischung aus Hass und Sehnsucht an – zumindest Gracie. Mariella schien ihm noch feindlicher gesinnt zu sein. Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten. Er war nicht mein Vater. Meine Gefühle waren relativ eindeutig. »Matthew«, sagte ich. »Was machst du denn hier?« Er warf Tolliver und Mariella einen sehnsüchtigen Blick zu. Mich musterte er nur kurz, ohne jede Zuneigung. Gracie versteckte sich hinter mir. »Ich möchte meine Kinder sehen«, sagte er. »Und zwar alle.« Ein langes Schweigen entstand. Ich musste erst einmal die Tatsache verdauen, dass seine Stimme klar war. Er lallte nicht und sprach in zusammenhängenden Sätzen. Vielleicht nahm er tatsächlich keine Drogen mehr, so wie Mark gesagt hatte. Aber es war bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis er wieder damit anfing. »Aber wir wollen dich nicht sehen!«, sagte Tolliver leise. »Wir haben nicht reagiert, als du über Mark versucht hast, Kontakt zu uns aufzunehmen. Ich habe deine Briefe nicht beantwortet. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Iona dir erlaubt hat, die Mädchen zu sehen – jetzt wo sie auch offiziell die Mutter ist. Und Hank ihr Vater.« »Aber ich bin ihr leiblicher Vater«, sagte Matthew. »Du hast sie im Stich gelassen«, rief ich ihm wieder ins Gedächtnis, wobei ich jedes Wort einzeln betonte. »Ich stand enorm unter Druck.« Er streckte die Hand aus, wie um Mariella übers Haar zu streichen. Aber sie zuckte zurück und klammerte sich nach wie vor an die Hand ihres Bruders, als hätte sie Angst, ihn zu verlieren. Auf der Bahn war nicht besonders viel los, aber die Leute begannen unser angespanntes kleines Grüppchen zu beobachten. Mir waren die Zuschauer egal, aber vor den Mädchen wollte ich es auf keinen Fall zu irgendeiner Konfrontation kommen lassen, sei sie nun körperlicher oder verbaler Art. »Du solltest jetzt gehen«, sagte ich. »Und wir bringen die Mädchen wieder nach Hause. Du hast uns einen schönen Tag verdorben. Mach es bitte nicht noch schlimmer.« »Ich möchte meine Kinder sehen«, wiederholte er. »Du hast sie vor dir. Du hast sie also gesehen. Und jetzt geh, bitte!« »Ich gehe nur wegen der Kleinen«, sagte er und nickte Mariella und Gracie zu, die verwirrt waren und sich elend fühlten. »Wir sehen uns bald, Tolliver.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verließ die Bahn. »Er ist uns gefolgt«, sagte ich überflüssigerweise. »Wahrscheinlich hat er uns irgendwo bei Ionas Haus abgepasst«, sagte Tolliver. Wir starrten uns an und verschoben jede weitere Diskussion auf später. Gleichzeitig holten wir tief Luft. Wenn wir nicht so verstört gewesen wären, hätten wir beinahe darüber lachen können. »Gut«, sagte ich bemüht fröhlich zu meinen Schwestern. »Gut, dass wir das hinter uns haben. Wir werden mit eurer Mutter darüber sprechen. Es wird nicht noch mal vorkommen. Aber bis zu diesem Moment hatten wir doch viel Spaß zusammen, stimmt’s?« Ich redete Blödsinn, aber zumindest lösten sich die Mädchen wieder aus ihrer Erstarrung und zogen die Schlittschuhe aus. Sie wirkten nicht mehr wie Rehe, die vom Scheinwerfer eines Autos hypnotisiert werden. Auf der Heimfahrt waren unsere Schwestern ungewöhnlich schweigsam, was nicht weiter verwunderlich war. Sie purzelten aus dem Wagen und stürmten ins Haus, als hätten sie Angst vor Scharfschützen. Tolliver und ich folgten ihnen langsam. Wir waren nicht gerade wild darauf, Iona und Hank von dem Vorfall zu berichten. Dabei konnten wir nicht das Geringste dafür. Wir wunderten uns nicht, dass unsere Tante und unser Onkel bereits in der Küche auf uns warteten. »Was ist passiert?«, fragte Iona. Zu meinem Erstaunen wirkte sie nicht böse, höchstens besorgt. »Mein Dad stand plötzlich auf der Eisbahn«, sagte Tolliver ohne Umschweife. »Keine Ahnung, wie lange er uns beobachtet hat, bis wir ihn entdeckt haben.« Er zuckte die Achseln. »Er war nicht high und auch nicht aggressiv. Aber die Mädchen sind völlig durcheinander.« »Wir hatten Spaß, bevor wir ihn entdeckt haben«, sagte ich und merkte selbst, wie wenig überzeugend das klang. Aber ich fühlte mich einfach verpflichtet, darauf hinzuweisen. »Er hat uns letzte Woche geschrieben«, sagte Hank. »Wir haben nicht darauf reagiert. Ich hätte nie gedacht, dass er so etwas tun würde.« Sie hatten also ebenfalls ein schlechtes Gewissen, weil sie uns nicht vorgewarnt und gesagt hatten, dass Matthew aus dem Gefängnis entlassen worden war. Obwohl ich diesen Wissensvorsprung ungern verlor, sagte ich: »Er ist schon eine ganze Weile wieder in Freiheit. Als wir mit Mark essen waren, hat er uns davon erzählt. Aber er hat nur gesagt, dass Matthew einen Job hätte und clean wäre.« »Oh, Mark hat Kontakt zu seinem Dad?« Iona runzelte die Stirn und ließ sich schwerfällig auf einen der Küchenstühle sinken. Zögerlich setzten wir uns ebenfalls. Wir staunten, dass uns die Gorhams nicht hinauswarfen oder für den Vorfall verantwortlich machten. »Dieser Mark ist einfach zu gutherzig, was seinen Vater anbelangt«, sagte Iona. Insgeheim pflichtete ich ihr bei. Vielleicht doch nicht so insgeheim, denn Tolliver warf mir einen vielsagenden Blick zu. Er durchschaute mich sofort. »Hast du eine Ahnung, was er will?«, fragte Iona plötzlich. »Wie meinst du das?« »Na, wegen deiner besonderen Fähigkeiten!« Iona fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, als vertriebe sie eine Schnake. »Ich kann nicht hellsehen, Iona. Ich wüsste selbst gern, was Matthew will. Aber alles, was ich kann, ist Leichen finden.« Zu spät, ich entdeckte Mariella hinter Ionas Rücken. Sie war soeben aus dem Flur in die Küche gekommen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Aber das dürfte sie eigentlich nicht so sehr schockieren. Was hatten Iona und Hank dem Kind bloß erzählt? Sie fuhr herum und rannte davon. Damit war der Tag endgültig verdorben. »Und, was sagt dir deine Gabe?« Iona konnte wirklich hartnäckig sein. »Nichts, was uns derzeit weiterhelfen könnte«, erwiderte ich. »Es gibt hier keine Leiche, falls dich das interessiert. Die Nächstgelegene ist so alt, dass sie wahrscheinlich vor der Staatsgründung starb, und sie liegt tief vergraben im Vorgarten deines Nachbarn. Wahrscheinlich ein Indianer. Ich müsste näher herangehen, um mir ganz sicher zu sein.« Endlich hatte ich sie zum Schweigen gebracht. Meine Tante und mein Onkel starrten mich einfach nur mit offenem Mund an. Aber das half uns auch nicht weiter. »Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass Matthew heute auf der Eisbahn aufgetaucht ist«, rief ich ihnen wieder ins Gedächtnis. »Solltet ihr nicht lieber eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken? Er hat doch schließlich keine Rechte mehr an den Mädchen, oder?« »Nein, das stimmt«, sagte Hank, der sich schneller erholt hatte als seine Frau. »Wir haben sie adoptiert. Er hat sämtliche Rechte abgetreten.« »Ich will nicht die Polizei rufen«, sagte Iona. »Wir haben so oft mit der Polizei geredet, dass es uns ein für alle Mal reicht.« »Wollt ihr, dass er wieder auftaucht? Und den Mädchen erneut einen Schrecken einjagt?« »Nein! Aber wir hatten genug mit der Polizei zu tun, als deine Schwester entführt wurde! Wir wollen nicht, dass sie hier wieder ein und aus geht.« Ich konnte gut verstehen, dass sie nichts mit der Polizei zu tun haben wollten. Auch wenn die meisten Gesetzeshüter, die ich kennengelernt habe, auch nur Menschen sind, die versuchen, ihren harten Job zu erledigen und noch dazu schlecht dafür bezahlt werden. Aber abgesehen davon, dass Iona und Hank nicht wollten, dass ihr Haus erneut von Polizeiautos zugeparkt würde, waren meine Schwestern auch so schon ernsthaft beunruhigt. Wenn dann noch Polizei auftauchte, sahen die Mädchen in Matthew eine größere Bedrohung, als er es tatsächlich war. Er hatte schließlich keinen Grund, Mariella und Gracie wehzutun. Vielleicht hatten Iona und Hank doch recht, wenn auch aus den falschen Gründen. »Dann gibt es nichts, was wir tun können«, sagte Tolliver, der zum selben Schluss gekommen war wie ich. »Wir fahren dann mal.« »Wie lange bleibt ihr in der Stadt?«, fragte Iona ein wenig verzweifelt. »Habt ihr schon einen neuen Auftrag?« Sie hatte nie Wert darauf gelegt, dass wir länger blieben. Im Gegenteil, die anderen Male hatte sie es kaum erwarten können, dass wir wieder fuhren. »Vielleicht noch ein paar Tage«, sagte ich nach einem Blick auf Tolliver. Wir hatten tatsächlich noch keine Pläne, auch wenn sich das jederzeit ändern konnte. »Gut«, sagte sie und nickte, als hätten wir eine Vereinbarung getroffen. »Wir rufen euch also an, wenn er wieder auftaucht.« Und was sollten wir dann tun? Ich wollte schon protestieren, als Tolliver sagte: »Einverstanden. Wir werden euch morgen auf jeden Fall anrufen.« »Ich werde mit dem Schuldirektor reden«, sagte Iona. »Ich hasse es, wenn über uns geredet wird, aber wenigstens die Lehrer der Mädchen sollten wissen, dass Matthew sich hier rumtreibt.« Ich war erleichtert. Mir fiel auf, dass meine Tante sehr mitgenommen wirkte, und auch Hank sah besorgt aus. Mir fiel wieder ein, dass sie schwanger war. Hank fing meinen Blick auf und wies mit dem Kinn zur Tür. Ich versuchte, mich nicht aufzuregen. Dachte er etwa, wir merkten nicht, dass wir jetzt lieber gehen sollten? Tolliver sagte: »Gut, bis morgen also. Tschüs, Mädels!«, rief er in den Flur. Nach einer Sekunde sah ich, wie die Mädchen den Kopf aus Mariellas Zimmer steckten, und ich winkte ihnen zu. Sie winkten zurück, wenn auch etwas zögerlich. Sie lächelten nicht. Wir stiegen schweigend in unseren Wagen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Wir müssen eine Weile bleiben, um sicherzustellen, dass er sie nicht belästigt«, sagte Tolliver, nachdem wir einen Block entfernt waren. »Aber was sollte ihn davon abhalten, so lange zu warten, bis wir weg sind, um dann wieder aufzutauchen?« Tolliver schüttelte unwillig den Kopf, als umschwirrte ihn eine Biene. »Nichts kann ihn davon abhalten, sie zu verfolgen, wenn er das will. Ich weiß nicht, was wir tun sollen.« »Er wird bestimmt warten, bis wir weg sind. Außerdem – wer sind wir schon? Eine Privatarmee? Warum haben wir auf einmal diese Schutzfunktion?« »Wahrscheinlich halten sie uns für abgeklärter und taffer als sich selbst«, sagte Tolliver nach einigem Nachdenken. »Nun, damit haben sie recht. Aber was heißt das schon?« »Er ist mein Vater. Ich fühle mich verpflichtet, etwas zu unternehmen.« »Das kann ich gut verstehen«, sagte ich, denn taktvoller konnte ich es nicht ausdrücken. »Ich kann auch verstehen, dass du noch ein paar Tage länger bleiben willst. Von mir aus gern. Aber wir können nicht für immer hier bleiben, vor dem Haus zelten und darauf warten, dass sich dein Dad den Mädchen erneut nähert. Es sei denn, er wird wieder verhaftet – und seien wir doch mal ehrlich: Dazu wird es bestimmt kommen, da er wieder Drogen nehmen wird. Wir können nichts dagegen machen, wenn er sie unbedingt sehen will, außer Iona und Hank gehen zur Polizei. Und selbst dann kann die Polizei die Mädchen nicht rund um die Uhr im Auge behalten.« »Ich weiß.« Tolliver klang kurz angebunden. Ich machte den Mund zu und verkniff mir den Rest. Auf der übrigen Fahrt zum Motel schwiegen wir. Wenn es etwas gibt, das mich nervös macht und irritiert, dann Meinungsverschiedenheiten mit meinem Bruder. Ich versuche zwar, Tolliver nicht mehr als meinen Bruder zu bezeichnen, denn das ist irgendwie gruselig. Aber eine alte Gewohnheit gibt man nicht so schnell auf. Zurück im Motelzimmer, konnte ich mich auf nichts konzentrieren. Ich wollte nicht lesen, und das Fernsehen ist sonntagabends eine einzige Katastrophe, außer man interessiert sich für Sport. Ich schaffte es nicht, mich in mein Kreuzworträtsel zu vertiefen. Ich griff zu unseren Wäschesäcken. »Ich suche einen Waschsalon«, sagte ich und ging. Ich war so schnell draußen, dass ich nicht mehr mitbekam, ob Tolliver etwas darauf erwiderte. Wir brauchten ein wenig Abstand. Ich erkundigte mich an der Rezeption, und der Angestellte gab mir eine ausgezeichnete Wegbeschreibung zu einem großen, sauberen Salon, etwa anderthalb Kilometer vom Motel entfernt. Wir haben immer einen Vorrat von 25-Cent-Münzen, Waschpulver und Trocknertüchern im Kofferraum. Ich konnte also losziehen. Im Waschsalon gab es eine Aufsicht, eine ältere Frau mit krisseligen weißen Haaren und einer rundlichen Figur. Sie saß an einem kleinen Tisch, sah auf, als ich hereinkam, und nickte mir anstelle einer Begrüßung zu. Da Wochenende war, war im Salon viel Betrieb. Aber nachdem ich mich umgesehen hatte, entdeckte ich zwei leere Maschinen nebeneinander. Ich fand einen Plastikstuhl und trug ihn dorthin. Nachdem ich die Maschinen gefüllt und angestellt hatte, setzte ich mich und zog mein Buch aus der Tasche. Jetzt, wo kein grübelnder Tolliver in der Nähe war, konnte ich sehr wohl lesen. Keine Ahnung, warum. Aber es tat gut, Menschen um mich zu haben und bald wieder saubere Kleidung zu besitzen. Ich war ganz bei mir. Es gab keine Leichen in der Nähe. Einen köstlichen Moment lang war da keinerlei Summen in meinem Kopf. Von Zeit zu Zeit sah ich mich um, damit ich niemandem im Weg war. Eine etwa gleichaltrige Frau starrte mich an, als ich den Kopf hob und der Schleudergang fast fertig war. »Sind Sie diese Frau?«, fragte sie. »Sind Sie diese Hellseherin, die Leichen findet?« »Nein«, erwiderte ich prompt. »Man hat mich schon mehrmals darauf angesprochen, aber ich arbeite im Einkaufszentrum.« Das sage ich immer, wenn ich in einer städtischen Gegend unterwegs bin. Bisher hat es immer funktioniert. Es gibt immer ein Einkaufszentrum, und es erklärt auch, warum mich der Fragende schon mal irgendwo gesehen hat. »Welches Einkaufszentrum?«, fragte die Frau. Sie war hübsch, sogar in ihren Freizeitklamotten. Und sie war hartnäckig. »Tut mir leid«, sagte ich mit dem entsprechenden Lächeln. »Aber ich kenne Sie nicht.« Ich zuckte die Achseln, was in etwa heißen sollte: Sie sind bestimmt ganz in Ordnung, aber ich habe keine Lust, mit Ihnen über meine Privatangelegenheiten zu reden. Die junge Frau reagierte nicht darauf. »Sie sehen genauso aus wie sie«, sagte sie und lächelte mich an, als müsste ich mich darüber freuen. »Aha«, sagte ich und zog meine Wäsche aus den Maschinen. Ich hatte mir bereits eines dieser Rollwägelchen geschnappt. »Wenn Sie es sind, müsste Ihr Bruder auch irgendwo in der Nähe sein«, verkündete die Frau. »Ich würde ihn gern kennenlernen. Er sieht scharf aus.« »Aber ich bin nicht die, für die Sie mich halten.« Ich rollte meinen Wagen weg, in den ich außer der nassen Wäsche auch noch alles andere geworfen hatte. Ich musste noch so lange bleiben, bis meine Sachen trocken waren. Ich konnte nicht weg. Aber wenn ich etwas nicht wollte, dann mit dieser Frau über mein Leben, meinen Beruf und meinen Tolliver reden. Die Frau behielt mich die ganze Zeit über im Auge, auch wenn sie mich Gott sei Dank nicht wieder ansprach. Ich gab vor zu lesen, während die Kleidung durch den Trockner wirbelte. Danach gab ich vor, mich ganz auf das Zusammenlegen meiner Sachen zu konzentrieren. Und beschloss, dass sie für mich einfach nicht existierte. Diese Technik hatte in der Vergangenheit jedes Mal funktioniert. Als ich so weit war, die saubere Wäsche zum Auto bringen zu können, glaubte ich, noch einmal davongekommen zu sein. Aber nein, da kam sie auch schon und folgte mir auf den Parkplatz. »Sprechen Sie mich nicht noch einmal an«, sagte ich erschöpft und völlig am Ende mit den Nerven. »Sie sind es!«, sagte sie mit einem selbstgefälligen Nicken. »Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte ich, stieg in den Wagen und betätigte die Zentralverriegelung. Ich fuhr erst los, als sie wieder im Waschsalon verschwunden war. Hoffentlich waren ihre Sachen in der Zwischenzeit gestohlen worden. Jetzt konnte ich mir zumindest sicher sein, dass sie mich nicht verfolgte. Trotzdem sah ich ein paarmal in den Rückspiegel, nur um auf Nummer sicher zu gehen. Dabei merkte ich, dass mir tatsächlich ein Wagen folgte. Da es bereits dunkel war, war ich mir nicht ganz sicher. Aber da die Gegend städtisch und gut beleuchtet war, glaubte ich, stets denselben grauen Miata in meinem Rückspiegel zu erkennen. Ich drückte die Kurzwahl für Tolliver. »Hi«, sagte er. »Jemand folgt mir.« »Dann komm sofort hierher. Ich gehe nach draußen und warte auf dich.« Ich fuhr also direkt zum Motel, und er besetzte schon einmal einen Parkplatz direkt vor unserem Zimmer, um ihn für mich zu reservieren. Ich parkte, sprang aus dem Wagen und rannte ins Zimmer, während Tolliver noch draußen blieb. Nach einer Minute rief Tolliver meinen Namen. Ich sah durch das Guckloch. Er war nicht allein. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er, klang aber nicht sehr glücklich. Also machte ich die Tür auf, und er kam mit seinem Vater im Schlepptau herein. Mist! Tolliver drehte sich zu seinem Vater um und stand jetzt neben mir. »Was willst du?«, fragte er Matthew. »Warum bist du Harper bis hierher gefolgt?« »Ich will bloß mit dir reden, mein Sohn.« Matthew sah mich an und versuchte, ein entschuldigendes Gesicht aufzusetzen. »Möglichst unter vier Augen. Das ist eine reine Familienangelegenheit, Harper.« Er wollte, dass ich mein Motelzimmer verlasse. »Das geht nicht!«, sagte Tolliver. Er legte den Arm um mich. »Sie ist meine Familie.« Matthews Augen wanderten von Tolliver zu mir und wieder zurück. »Ich verstehe«, sagte er. »Hör zu, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich war ein furchtbarer Vater. Ich habe dich und Laurels Kinder im Stich gelassen. Aber was noch viel schlimmer ist: Ich habe unsere gemeinsamen Kinder im Stich gelassen.« Tolliver und ich standen schweigend da, während sich unsere Körper berührten. Ich musste nicht einmal zu meinem Bruder aufsehen, um zu wissen, wie er sich fühlte. Matthew musste uns nicht erzählen, wen er alles enttäuscht hatte. Wir wussten Bescheid. Und trotzdem schien er auf eine Reaktion zu warten. »Das wissen wir bereits«, sagte Tolliver. »Laurel und ich waren drogensüchtig«, erklärte Matthew. »Das ist keine Entschuldigung dafür, euch so zu vernachlässigen, aber … ein Eingeständnis, nehme ich an. Wir haben schlimme Dinge getan. Ich bitte dich um Vergebung.« Ich fragte mich, ob das eine Aktion war, zu der sich Matthew im Rahmen eines Entziehungsprogramms verpflichtet hatte oder so was. Wenn ja, hatte er es vollkommen falsch angefangen. Indem man seine Kinder stalkt und mich verfolgt, um an Tolliver heranzukommen, drückt man keinerlei Reue aus. Nach kurzem Schweigen sagte ich: »Weißt du noch, wie Mariella eines Abends furchtbar krank wurde und wir uns aus dem Wohnwagen schleichen wollten, um sie zum Arzt zu bringen? Weißt du noch, wie du die Tür blockiertest und uns nicht gehen ließt, weil du nicht wolltest, dass das Krankenhaus den Sozialdienst verständigt? Wir waren an jenem Abend bereit, getrennt zu werden, nur um Hilfe holen zu können.« »Sie wurde wieder gesund!« »Weil wir die ganze Nacht aufgeblieben sind, ihr kalte Bäder und Paracetamol verabreicht haben!« Matthew sah uns verständnislos an. »Du kannst dich kein bisschen daran erinnern«, sagte Tolliver. »Auch nicht daran, dass wir unter dem Wohnwagen schlafen mussten, weil lauter Freunde von dir da waren. Oder daran, dass du keinen Krankenwagen rufen wolltest, als Harper vom Blitz getroffen wurde.« »Daran erinnere ich mich durchaus.« Matthew sah Tolliver direkt in die Augen. »Du hast ihr an jenem Tag das Leben gerettet. Du hast sie wiederbelebt.« »Und du hast gar nichts getan«, sagte ich. »Ich habe deine Mutter geliebt«, verkündete er. »Ja, und ich weiß es auch sehr zu schätzen, dass du für sie da warst, als es mit ihr zu Ende ging«, erwiderte ich. »Als sie allein starb und du mal wieder im Knast warst.« »Und wo warst du?«, schoss es blitzschnell aus ihm hervor. »Ich habe nie behauptet, sie zu lieben.« »Warst du auf der Beerdigung?« Wenn er glaubte, mich so mit Schmutz bewerfen zu können, würde ich ihn eines Besseren belehren. »Nein. Ich gehe grundsätzlich nicht auf Beerdigungen. Aus verständlichen Gründen.« Matthew begriff immer noch nicht. Er musste in den letzten Jahren einige graue Zellen verloren haben. Anstelle einer Frage sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Die vielen Toten. Das ist wirklich ein Problem für mich.« »Ach, Quatsch! Mach mir doch nichts vor! Ich bin’s, Matthew. Ich kenne dich. Du kannst andere übers Ohr hauen, aber nicht mich.« Matthew zwinkerte mir zu, als wären wir Teil einer Verschwörung. »Verschwinde!«, sagte Tolliver. »Ach, komm schon, Sohn!«, sagte Matthew ungläubig. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass die Sache mit dem Leichenfinden stimmt? Das kannst du sonst wem erzählen! In Wahrheit ist deine Schwester doch bloß so eine esoterische Spinnerin.« »Sie ist nicht meine Schwester, zumindest nicht direkt«, sagte Tolliver. »Wir sind ein Paar.« Matthew wurde puterrot. Er sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. »Du machst mich krank!«, sagte er und bereute es auf der Stelle. Nun, jeder, den wir davon unterrichtet hatten, hatte irgendwie negativ darauf reagiert. Wenn ich Wert auf fremde Meinungen gelegt hätte, hätte ich mir Sorgen über unsere Beziehung gemacht. Glücklicherweise war mir das vollkommen egal. »Es wird Zeit, zu gehen, Matthew«, sagte ich und löste mich von Tolliver. »Als ehemaliger Junkie und Alkoholiker bist du nicht sehr tolerant.« Ich hielt ihm die Tür auf. Matthew sah von mir zu seinem Sohn und wartete, dass Tolliver widersprach. Tolliver wies mit dem Kinn zur Tür. »Ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt, bevor ich noch wütender werde«, sagte er tonlos. Matthew ging an mir vorbei zur Tür und warf mir einen erbosten Blick zu. Ich schloss sie hinter ihm und drehte den Schlüssel im Schloss. Ich ging zu Tolliver, umarmte ihn und sah in sein verschlossenes Gesicht. »Es könnte sich zur Abwechslung auch mal jemand für uns freuen«, sagte ich, um das Schweigen zu brechen. Keine Ahnung, was in Tolliver vorging. Wollte er es sich lieber noch mal anders überlegen? Draußen war es inzwischen vollkommen dunkel, und das Fenster sah aus wie ein riesiges Auge, zumal wir im Erdgeschoss wohnten. Tolliver drückte mich kurz und ging zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Wenn die Nacht draußen blieb und Tolliver und ich allein waren, würde es mir gleich besser gehen. Tolliver stand mitten vor dem Fenster und streckte die Arme zu den Vorhängen. Ich stand seitlich hinter ihm und wollte mich gerade aufs Bett setzen, um die Schnürsenkel aufzumachen, als alles auf einmal geschah: Es gab einen lauten Knall, mein Gesicht und meine Brust brannten, und ich spürte etwas Feuchtes. Ein kalter Luftzug strich über mein Gesicht, während Tolliver zurückstolperte und mich aufs Bett warf. Er landete auf mir und glitt dann wie eine leblose Puppe zu Boden. Ich sprang so schnell auf, dass ich wankte und merkte, dass unerklärlicherweise kalte Luft durch das Fenster kam. Ich sah an meiner Brust herunter. Sie war nass – aber es war kein Regen, sondern rote Flüssigkeit. Mein T-Shirt war hinüber. Keine Ahnung, warum mich das störte. Ich muss geschrien haben. Unbewusst begriff ich, dass Tolliver angeschossen worden war. Dass ich mit Glassplittern übersät war und blutete. Ja, dass plötzlich nichts mehr war wie zuvor. 6 Ich muss auf das Klopfen reagiert und die Tür geöffnet haben, denn plötzlich stand Matthew im Zimmer. Ich selbst war nicht in der Lage, Tolliver zu helfen. Ich stand einfach nur da, sah auf ihn herunter und streckte meine Hände von mir, nachdem ich mein Gesicht berührt hatte. Sie waren blutverschmiert. Da meine Hände schmutzig waren, wollte ich Tolliver nicht anfassen. Matthew kniete neben seinem Sohn. Ich holte mein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf, wofür ich mich konzentrieren musste wie noch nie in meinem Leben. Ich würgte den Namen des Motels und die Adresse hervor und sagte vermutlich, dass wir so schnell wie möglich einen Krankenwagen bräuchten. Ich sprach auch von einem »Scharfschützen«, weil mir das Wort gerade in den Sinn kam. Unmittelbar darauf bereute ich es. Vielleicht kam jetzt kein Krankenwagen, weil der Fahrer Angst hatte. Doch dann schüttelte ich diesen Gedanken wieder ab, leistete Matthew auf dem Teppich Gesellschaft und sah ihn über Tollivers reglosen Körper hinweg an. Auf mich war auch schon mal durch ein Fenster geschossen worden – eine beängstigende Erfahrung. Damals war ich ebenfalls von Glassplittern übersät gewesen. Aber diesmal war es noch viel schlimmer. Es war das Schlimmste, was mir je passiert war, ganz einfach, weil es Tolliver getroffen hatte. Ich konnte nur noch an ihn denken. Daran, wie merkwürdig es war, dass uns so etwas schon zum zweiten Mal passierte. Aber ich versuchte, mich aus meiner Trance zu reißen und zu helfen. Matthew zog Tolliver das Hemd aus, faltete es zusammen und drückte es auf die blutende Wunde. »Halt das, du Idiotin!«, sagte er. Folgsam drückte ich meine Hände auf den provisorischen Verband. Unter meinen Fingern quoll Blut hervor. Wenn er nicht so schnell vor der Tür gestanden hätte, hätte ich Matthew verdächtigt. Aber ich konnte ohnehin keinen klaren Gedanken fassen. Wäre mir das in den Sinn gekommen, hätte ich es bestimmt geglaubt. Tollivers Augen öffneten sich. Er war leichenblass und verwirrt. »Was ist passiert?«, fragte er. »Was ist passiert? Alles in Ordnung mit dir, mein Schatz?« »Ja, alles in Ordnung«, sagte ich und drückte auf den Verband, so fest ich konnte. »Gleich kommt der Krankenwagen, mein Schatz.« Ich konnte mich nicht erinnern, Tolliver jemals »Schatz« genannt zu haben. »Er ist schon unterwegs, gleich wirst du verarztet. Du bist nicht schwer verletzt, alles wird gut.« »War das eine Bombe?«, fragte er. »War das eine Explosion?« Seine Stimme zitterte. »Dad, was ist passiert? Harper ist verletzt.« »Mach dir keine Sorgen um Harper«, sagte Matthew. »Es geht ihr prima. Sie ist außer Gefahr.« Er untersuchte Tollivers Verletzungen mit den Fingern und nahm das Hemd weg, um sich die Stelle anzusehen. Dann verdrehte Tolliver die Augen, und seine Züge erschlafften. »Oh, Gott!« Ich drückte wieder das Hemd auf die Wunde und hätte beinahe locker gelassen, wusste aber trotz meiner Panik, dass ich das auf keinen Fall tun durfte. Ich drückte und drückte eine halbe Ewigkeit. Ich durfte jetzt bloß nicht nachlassen. »Er ist nicht tot!«, rief Matthew. »Er ist nicht tot.« Aber für mich sah er tot aus. »Nein«, sagte ich. »Er ist nicht tot. Das kann gar nicht sein. Es ist seine rechte Schulter, und da ist kein Herz. Er kann nicht daran sterben.« Ich wusste, wie dämlich sich das anhörte, aber im Moment konnte man mir das schlecht vorwerfen. »Nein, er wird nicht sterben«, sagte sein Vater. Ich öffnete den Mund, um Matthew anzuschreien, ohne zu wissen, was ich ihm eigentlich vorwerfen wollte, presste die Lippen jedoch wieder zusammen, weil ich einen Krankenwagen hörte. Menschen drängten sich in der Tür zum Motelzimmer, sie redeten wild durcheinander und schrieen. Ich hörte auch, wie jemand den Leuten im Krankenwagen zurief: »Kommt her, kommt hierher!« Wenn ich den Kopf nach links wandte, konnte ich das Blaulicht vor dem Fenster sehen. Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir jetzt jemanden, der sich auskannte und der sich um alles kümmerte. Jemand, der meinen Bruder verarzten und die Blutung stoppen konnte. Der Tumult draußen steigerte sich noch, da die Polizei gleichzeitig mit dem Krankenwagen gekommen war und alle bat, zurückzutreten. Dann standen die Sanitäter im Zimmer, und Matthew und ich mussten den kleinen Raum verlassen, damit sie ihre Arbeit machen konnten. Die Polizei führte mich hinaus, und nach dieser Nacht konnte ich mich an kaum ein Gesicht erinnern. »Jemand hat durch das Fenster auf ihn geschossen«, sagte ich zu dem ersten Gesicht, das mir eine Frage stellte. »Ich stand hinter ihm, und jemand hat durch das Fenster auf ihn geschossen.« »In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?«, fragte das Gesicht. »Ich bin seine Schwester«, sagte ich automatisch. »Und das ist sein Vater. Nicht mein Vater, aber seiner.« Keine Ahnung, warum ich diese Unterscheidung traf. Vielleicht, weil ich den Leuten seit Jahren erklärte, dass ich nicht mit Matthew Lang verwandt war. »Sie müssen auch ins Krankenhaus«, sagte das Gesicht. »Man muss Ihnen die Splitter entfernen.« »Was denn für Splitter?«, fragte ich. »Tolliver wurde angeschossen.« »Sie haben Glassplitter im Gesicht«, sagte der Mann. Jetzt erkannte ich, dass es ein Mann war, ein älterer Mann von Mitte fünfzig. Ich erkannte, dass er braune Augen, tiefe Krähenfüße, einen großen Mund und schiefe Zähne hatte. »Sie müssen sie entfernen und die Wunden desinfizieren lassen.« Ich sollte in Zukunft eine Schutzbrille tragen. Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich im Krankenhaus in einer Kabine saß. Jemand hatte meine Geldbörse mitgenommen, um an die Versicherungsinformationen zu kommen. Etwa hundert Leute stellten mir Fragen, aber ich konnte nicht sprechen. Ich wartete darauf, dass jemand kam und mir sagte, wie es Tolliver ging. Es hatte keinen Sinn zu reden, bevor ich wusste, was mit ihm los war. Die Ärztin, die mir die Glassplitter entfernte, schien sich ein bisschen vor mir zu fürchten. Sie bemühte sich, auf mich einzureden, und dachte wohl, dass ich mich dabei entspanne. »Sie müssen nach unten schauen, während ich dieses Stück hier entferne«, sagte sie schließlich. Und als ich nach unten sah, spürte ich, wie alle Anspannung aus ihr wich. Ich musste sie angestarrt haben. Ich wünschte, ich könnte meinen Körper verlassen und auf den Flur schweben, um nach meinem Liebsten zu sehen. Wenn ich schwor, ihn aufzugeben, für den Fall, dass er überlebte – würde das etwas nutzen? Schwüre, die man macht, wenn man wirklich Angst hat, zeigen den wahren Charakter. Vielleicht auch nur die primitive Natur des Menschen. Jenes Menschen, der noch nie ein Einkaufszentrum gesehen, noch nie ein Gehalt bekommen und die Nahrungsbeschaffung noch nicht an andere delegiert hat. Eine Frau in einem knallrosa Kittel fragte, ob sie jemanden verständigen solle. Jemanden, der sich um mich kümmern könne. Aber bei der Vorstellung, Iona oder Hank hier zu sehen, musste ich beinahe laut schreien, also sagte ich Nein. Sie ließen seinen Dad zu ihm, aber nicht mich! Mir musste man die Glassplitter entfernen. Ich war so wütend, dass ich fürchtete, mein Kopf könnte explodieren. Aber ich schrie nicht. Ich behielt alles für mich. Nachdem die Ärztin und die Krankenschwester mit mir fertig waren und mir ein paar Tabletten gegeben hatten, weil sie glaubten, dass ich mich noch eine Weile unpässlich fühlen würde, nickte ich ihnen zu und machte mich auf die Suche nach Tolliver. Ich entdeckte Matthew im Wartezimmer, er sprach gerade mit einem Polizisten. Er sah mich an, als ich hereinkam, und ich sah das Misstrauen in seinem Gesicht. »Das ist Tollivers Stiefschwester. Sie war mit ihm im Raum und stand hinter ihm«, sagte Matthew wie ein Zeremonienmeister. Der Polizist musste der Detective sein, da er eine Freizeithose, ein Hemd und eine Windjacke trug. Er war sehr groß und erinnerte mich an einen ehemaligen Footballstar, was sich tatsächlich bewahrheitete. Parker Powers war ein berühmter Highschool-Footballer aus Longview, Texas. Er hatte sich verletzt, als er gerade zwei Jahre bei den Dallas Cowboys unter Vertrag gewesen war. Das machte ihn beinahe zu einem Star, zumindest war er prominent. Dank Matthew Lang erfuhr ich das alles in den ersten zehn Minuten unserer Begegnung. Detective Powers hatte einen mittelbraunen Teint und hellblaue Augen. Sein Haar war hellbraun, gelockt und kurz geschnitten. Er trug einen Ehering. »Wer, glauben Sie, hat auf Sie geschossen?«, fragte er mich direkter als erwartet. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte ich. »Ich hätte Matthew vermutet, wenn er nicht so schnell zurück ins Motelzimmer gekommen wäre.« »Warum sein Vater?« »Wer sollte sonst ein Interesse daran haben?«, fragte ich, wobei mir auffiel, dass das nicht gerade schlüssig klang. »Gut, es gibt viele Leute, denen nicht gefällt, was wir tun. Aber wir sind ehrlich und machen uns keine Feinde. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Aber anscheinend haben wir uns mindestens einen gemacht.« Es war mir ein Rätsel, ob die Polizei irgendetwas von dem, was ich da erzählte, verstand. Aber wahrscheinlich hatte ich irgendwann erklärt, was Tolliver und ich taten. Auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte. Detective Powers absolvierte das übliche Frage-und-Antwort-Spiel. Er wollte wissen, womit wir unser Geld verdienten, seit wann wir das taten, wie viel wir verdienten und was unser letzter Auftrag gewesen war. Ich musste tatsächlich kurz überlegen, aber dann fiel mir der Besuch bei den Joyces wieder ein, und ich erzählte ihm davon. Es schien ihm gar nicht zu behagen, dass wir mit einer so wohlhabenden, mächtigen Familie zu tun gehabt hatten. Ein Arzt kam herein, ein älterer Mann mit einem spärlichen Haarkranz und einem müden Gesicht. Ich sprang sofort auf. »Gehören Sie zur Familie Lang?« Er sah von mir zu Matthew. Mir hatte es die Sprache verschlagen, und Matthew nickte. »Ich bin Dr. Spradling und Orthopädiechirurg. Ich habe Mr Lang soeben operiert. Im Großen und Ganzen habe ich gute Neuigkeiten. Mr Lang wurde von einer kleinkalibrigen Kugel getroffen, wahrscheinlich aus einem .22er-Gewehr oder einer Pistole. Sie ist in seine Clavicula, sein Schlüsselbein, eingedrungen.« Ich rang nach Luft, ich konnte nichts dagegen tun. Ich benahm mich wie eine Idiotin. »Also habe ich die Clavicula verschraubt. Nerven oder Blutgefäße wurden keine verletzt, er hat also Glück gehabt – wenn man das über einen Angeschossenen überhaupt sagen kann. Er hat die Operation gut überstanden«, sagte der Arzt. »Ich glaube, er wird sich gut erholen. Jetzt muss er erst mal zwei oder drei Tage im Krankenhaus bleiben. Wenn alles gut geht und keine Komplikationen auftreten, können wir ihn entlassen. Aber er wird anschließend noch eine Woche lang intravenös Antibiotika erhalten müssen. Wir können eine Schwester vorbeischicken, die das übernimmt, aber Sie müssen in der Nähe bleiben, auch wenn Sie eigentlich gar nicht hier leben.« Er fixierte mehr oder weniger den Raum zwischen uns und wartete auf eine Reaktion. Ich nickte hektisch, zum Zeichen, dass ich alles verstanden hatte. »Ganz wie Sie meinen«, sagte ich zu Dr. Spradling. »Wo wohnen Sie, Miss Connelly? Soweit ich weiß, leben Sie zusammen?« Ich warf einen kurzen Blick auf Matthew und befürchtete schon, er könnte sich um Tollivers Pflege reißen. Eine Riesenangst verdrängte alle anderen Ängste: Würden sie mich überhaupt zu ihm lassen, wenn Matthew etwas dagegen hatte? Ich musste Matthews Vaterschaft überbieten. Ich machte den Mund auf und staunte selbst nicht schlecht, als ich dem Arzt völlig unvermittelt erklärte: »Wir sind ein Paar. Wir führen eine Lebensgemeinschaft.« Texas erkannte auch Ehen ohne Trauschein an. Die Lebensgefährtin könnte die Stiefschwester ausstechen. »Wir haben eine Wohnung in St. Louis. Wir sind seit sechs Jahren zusammen.« Dem Arzt war das vollkommen egal. Er wollte mir nur mitteilen, was Tollivers Pflege beinhaltete. Er drehte sich leicht zu mir: »Sie sollten eine Unterkunft finden, die näher am Krankenhaus liegt. Zumindest so lange, bis er nach seiner Entlassung etwas zu Kräften gekommen ist. Er ist noch nicht übern Berg, aber es wird schon alles gut gehen.« »Gut.« Ich ließ mir das, was er gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen und hoffte, nichts vergessen zu haben: ein zerschmettertes Schlüsselbein, eine kleinkalibrige Kugel, keine weiteren Verletzungen. Drei Tage im Krankenhaus. Antibiotika, die eine Schwester intravenös im Hotel verabreichen würde. In einem näher gelegenen Hotel. »Sie können bei mir und ihrem Bruder wohnen, wenn es sein muss«, sagte Matthew, und der Arzt, der sich eindeutig nicht für solche Details interessierte, nickte. Das würden wir ganz bestimmt nicht tun, aber das war jetzt nicht der geeignete Augenblick, um das zu besprechen. »Hauptsache, es ist jemand da, der sich um ihn kümmert. Er muss ruhig und bequem liegen, sollte mehrmals am Tag aufstehen und etwas spazieren gehen, seine Medikamente regelmäßig einnehmen, keinen Alkohol trinken und sich gesund ernähren«, sagte der Arzt. »Aber wie gesagt nur, wenn er sich gut macht. Morgen sehen wir weiter.« Dr. Spradling wollte sicherstellen, dass wir ausreichend gewarnt waren. Ich nickte heftig und zitterte vor Angst. »Ich werde heute Nacht bei ihm bleiben«, sagte ich, und der Arzt, der sich schon halb abgewandt hatte, rang sich einen mitleidigen Blick ab. »Da er gerade erst operiert wurde, wird heute Nacht ständig nach ihm gesehen«, sagte der Arzt. »Er wird auch noch nicht aufwachen. Sie sollten lieber nach Hause gehen, duschen und morgen früh wiederkommen. Wenn Sie Ihre Telefonnummer dalassen, wird man Sie benachrichtigen, falls Probleme auftreten.« Ich sah an mir herunter. Überall war Blut, getrocknetes Blut. Ich sah … zum Fürchten aus. Jetzt begriff ich auch, warum mich jeder, der vorbeikam, so merkwürdig ansah. Ich roch nach Blut und Angst. Außerdem brauchte ich unser Auto. Also bat ich Matthew widerwillig, mich zum Motel zu bringen. Die Polizei hatte inzwischen die Überreste unseres Zimmers angeschaut. Als ich mich in die Lobby schleppte, um mit der Rezeptionistin zu reden, begrüßte mich die Hotelmanagerin, eine Afroamerikanerin um die fünfzig mit kurzen Haaren und einer sympathischen Art. Sie wollte mich so schnell wie möglich aus dem Blickfeld bringen, für den Fall, dass neue Gäste kämen. Als wir in dem kleinen Raum hinter der Rezeption Platz genommen hatten, brachte sie mir einen Kaffee, ohne dass ich sie darum gebeten hatte. Auf ihrem Namensschild stand Deneise. »Miss Connelly«, sagte sie sehr ernst und sehr aufrichtig. »Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Cynthia auf Ihr Zimmer schicken, damit sie Ihre Kleidung und Ihre Sachen holt.« Ich fragte mich, was wohl als Nächstes kam. »Gut, Deneise«, sagte ich. »Das wäre sehr nett.« Sie atmete tief durch und fuhr fort: »Hoffentlich akzeptieren Sie unsere Entschuldigung für diesen furchtbaren Vorfall. Wir möchten, dass Sie eine möglichst stressfreie Zeit bei uns verleben. Ihnen geht jetzt bestimmt so einiges durch den Kopf.« Jetzt verstand ich! Deneise hatte Angst, wir könnten das Hotel für die Schießerei belangen, und wollte schon mal vorfühlen, wie ich das sah. Gleichzeitig wirkte sie aufrichtig entsetzt, der Vorfall tat ihr unendlich leid. Nachdem Cynthia in das zerstörte Zimmer geschickt worden war, um zu retten, was von unseren Sachen noch zu retten war, bot Matthew mir zu meiner großen Erleichterung an, sie zu begleiten. Anschließend sprach Deneise Klartext: »Vielleicht wollen Sie keine weitere Nacht hierbleiben, Miss Connelly. Aber wenn doch, würden wir uns freuen.« Das klang schon weniger aufrichtig, was ich der Frau allerdings schlecht vorwerfen konnte. »Wenn Sie bleiben möchten, stellen wir Ihnen selbstverständlich ein vergleichbares Zimmer kostenlos zur Verfügung. Zum Zeichen, dass uns diese … Unannehmlichkeiten leidtun.« Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Das ist noch stark untertrieben«, sagte ich. »Ja, ich hätte gern ein Zimmer, werde aber gleich morgen früh ausziehen. Ich muss etwas finden, das näher am Krankenhaus liegt.« »Wie geht es Mr Lang?«, fragte Deneise, und ich erzählte ihr, dass er wieder gesund würde. »Oh, das sind ja gute Neuigkeiten!« Ihr schienen gleich mehrere Steine vom Herzen zu fallen. Jetzt, wo das mit dem Motel geklärt war, konnte ich es kaum erwarten, auf mein Zimmer zu kommen und mich zu waschen. Die Managerin rief Cynthia auf dem Handy an und bat sie, unser Gepäck direkt auf Zimmer 203 zu bringen. »Ich dachte, Sie fühlen sich besser, wenn Sie nicht mehr im Erdgeschoss wohnen«, erklärte sie beim Auflegen. »Das stimmt«, sagte ich. Ich dachte an das schwarze Loch im Fenster und bekam eine Gänsehaut. Mein Gesicht und meine Schultern schmerzten, ich war mit verkrusteten Blutspritzern übersät und begann plötzlich zu zittern. Ausgerechnet jetzt, wo ich endlich wieder Zeit für mich hatte. Wo ich glaubte, dass Tolliver wieder gesund würde. Matthew erschien in der Tür des Büros. »Eure Sachen sind in dem neuen Zimmer, ich glaube nicht, dass etwas fehlt. Alles scheint noch in deiner Handtasche zu sein.« Die Vorstellung, dass Matthew in meine Handtasche geschaut hatte, behagte mir gar nicht, aber er hatte mir an diesem Abend wirklich sehr geholfen, das musste man ihm lassen. Ich bedankte mich bei Deneise für ihre Hilfsbereitschaft und verließ mit der neuen Schlüsselkarte die Lobby, um mit Matthew zum Lift zu gehen. »Danke«, sagte ich, während rumpelnd die Tür zu dem Bereich mit den Snackautomaten und dem Eiswürfelspender aufging. Ein Paar, das gerade die Treppen hochkam, musterte uns neugierig. Als es mein blutiges Erscheinungsbild verinnerlicht hatte, eilte es schnell auf sein Zimmer. »Das ist schon in Ordnung«, sagte Matthew. »Ich habe den Schuss gehört, und dann hast du geschrieen. Ich bin verdammt schnell über diesen Parkplatz gerannt.« Er lachte. Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich geschrieen hatte. »Hast du irgendjemanden auf dem Parkplatz gesehen?« »Nein. Und das macht mich echt wahnsinnig, weil der Schütze ganz in der Nähe gewesen sein muss.« Ich hob mir den Gedanken für später auf. »Ich nehme an, wir sehen uns morgen im Krankenhaus, falls du dir freinehmen kannst«, sagte ich. Plötzlich wollte ich nur noch allein sein. »Soll ich Iona anrufen?«, fragte Matthew. Als ich »Nein!« sagte, lachte er ein ersticktes Lachen, wobei er sich kurz anhörte wie Tolliver. »Bitte nimm es mir nicht übel, wenn ich das sage, aber du bist sehr abhängig von meinem Sohn«, meinte Matthew. Damit traf er dermaßen ins Schwarze, dass ich sofort wütend wurde. »Dein Sohn ist mein Geliebter und meine Familie«, sagte ich. »Wir sind schon seit Jahren zusammen. Seit du weg bist.« »Aber du solltest auch allein zurechtkommen können«, sagte Matthew im selbstgerechten Ton eines Menschen, der eine Therapie hinter sich hat. Weil er sich bemühte, freundlich zu klingen, wurde ich erst recht wütend. Ich bin vielleicht kein Feld-Wald-und-Wiesentyp, aber so zerbrechlich, wie ich aussehe, bin ich auch wieder nicht. Na gut, vielleicht doch, aber wenn, ging das Matthew Lang nicht das Geringste an. »Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, mir zu sagen, wie ich leben soll. Wie ich sein sollte«, erwiderte ich. »Du hast nicht über mich zu bestimmen. Früher nicht und jetzt auch nicht. Ich weiß deine heutige Hilfe sehr zu schätzen. Ich freue mich, dass du endlich etwas für deinen Sohn tust, auch wenn er dafür erst angeschossen werden musste. Aber jetzt musst du gehen, denn ich möchte duschen.« Ich benutzte die Schlüsselkarte, und die Tür zu meinem neuen Zimmer sprang auf. Die Lampen brannten, und im Raum war es warm. Unser Gepäck stand neben dem Bett. Matthew nickte mir zu und ging ohne ein weiteres Wort, worüber ich sehr froh war. Ich betrachtete Tollivers Koffer und begann zu weinen. Aber dann zwang ich mich, ins Bad zu gehen und meine blutbesudelten Kleider auszuziehen. Ich badete ausgiebig, verarztete meine Schnittwunden und Schrammen. Dann zog ich meinen Schlafanzug an. Ich rief noch mal im Krankenhaus an und erfuhr, dass es Tolliver unverändert ging. Ich ermahnte die Schwestern, mich sofort zu verständigen, wenn sich irgendetwas änderte. Ich lud das Handy auf, legte mich ins Bett und wartete auf ein Klingeln. Aber es klingelte nicht, die ganze Nacht nicht. Als ich am nächsten Morgen einen McDonald’s-Drive-In aufsuchte, fiel mir ein, dass ich Iona anrufen und ihr von dem Vorfall berichten musste. Ansonsten würde sie es aus der Zeitung erfahren. Ich erwartete nichts von ihr, und es war ein komisches Gefühl, überhaupt jemanden benachrichtigen zu müssen. Tolliver und ich sind es gewohnt, allein zurechtzukommen. Wären wir nicht hier in der Gegend gewesen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Iona über Tollivers Verletzung zu informieren. Ich war schon früh im Krankenhaus, fand Tolliver schlafend in seinem Zimmer vor. Dann kehrte ich in die Lobby zurück, um mein Handy zu benutzen. Es war ein kalter, wolkenloser Tag mit einem knallblauen Himmel. Ich sah auf die Uhr. Vielleicht war Iona noch nicht zur Arbeit aufgebrochen, also rief ich bei ihr zu Hause an. Iona war nicht gerade begeistert, dass ich sie so früh störte, woraus sie auch keinen Hehl machte. »Tolliver wurde gestern Abend angeschossen«, sagte ich. Daraufhin verstummte sie kurz. »Geht es ihm gut?«, fragte sie dann, sogar jetzt noch vorwurfsvoll. »Ja, er wird durchkommen«, sagte ich. »Er liegt im God’s Mercy Hospital. Er hatte eine Schulter-OP. Er wird ein paar Tage dortbleiben müssen, sagt der Arzt.« »Ich glaube nicht, dass ich die Mädchen gleich informieren muss«, sagte Iona. »Mal ganz abgesehen davon, dass Hank sie gerade zur Schule fährt. Wir werden das ansprechen, wenn sie heute Nachmittag nach Hause kommen.« »Ganz wie du meinst«, sagte ich. »Ich muss Mark anrufen.« Ich legte auf und war wütend und enttäuscht. Ich wollte auch nicht, dass sich meine kleinen Schwestern aufregten und Sorgen machten. Erst recht nicht nach dem Vorfall auf der Eisbahn gestern. Aber mich störte, dass mein Verhältnis zu ihnen stets von dieser Hexe beherrscht und reglementiert wurde. Ich wusste, dass ich Iona damit Unrecht tat. Eigentlich musste ich froh sein, dass Hank und sie den Nerv und die Güte hatten, zwei Mädchen aus so schwierigen Verhältnissen aufzuziehen. Aber immer erst an ihr vorbei zu müssen, war wirklich anstrengend. Zum ersten Mal musste ich Tolliver recht geben. Vielleicht sollten wir lieber aus dem Leben unserer Schwestern verschwinden und ihnen nur noch Weihnachtsgeschenke und Geburtstagskarten schicken. Dann ging Mark verschlafen ans Telefon, und ich musste die bösen Gedanken verdrängen, um ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Mark hatte am Vorabend Spätschicht gehabt und war dementsprechend wenig aufnahmefähig. Aber ich achtete darauf, dass er das Wichtigste mitbekam und den Namen des Krankenhauses behielt. Er versprach, vorbeizukommen, sobald er konnte, wahrscheinlich am späten Vormittag. Dann blieb mir nichts anderes übrig, als in den trostlosen Raum zurückzukehren und Tolliver beim Schlafen zuzuschauen. Natürlich hatte ich ein Buch in der Handtasche und versuchte, eine Weile zu lesen. Trotzdem konnte ich der Handlung nicht recht folgen. Schließlich legte ich das Buch weg und sah Tolliver einfach nur an. Tolliver ist selten krank, und er war noch nie so schlimm verletzt. Der Verband, die Schläuche und sein fahler Teint machten ihn mir regelrecht fremd, so als hätte ein anderer von seinem Körper Besitz ergriffen. Ich saß da und starrte ihn an, wünschte mir, er würde sich aufsetzen und wieder zu Kräften kommen. Was aber nicht sehr gut funktionierte. Ich wusste, dass ich jetzt stark sein musste. Jetzt, wo mein Bruder ans Bett gefesselt war, musste ich mich um ihn, um uns kümmern. Gut, dass wir ohnehin vorgehabt hatten, ein paar Tage in Texas zu bleiben. So mussten keine Aufträge verschoben werden. Trotzdem musste ich unsere Mails kontrollieren. Ich würde alles selbst in die Hand nehmen müssen. Sofort hatte ich Angst, dem nicht gerecht werden zu können oder etwas Wichtiges zu vergessen. Aber was konnte ich schon vergessen, das so wichtig war? Solange wir keinen Auftrag übersahen, solange der Wagen vollgetankt war und uns das Benzin nicht ausging, würde ich schon alles richtig machen. Endlich kam Dr. Spradling herein. Tolliver hatte sich ein wenig bewegt, also wusste ich, dass er bald aufwachen würde. Dr. Spradling sah noch erschöpfter und älter aus als am Vortag. Er warf mir einen Blick zu und nickte, bevor er an Tollivers Bett trat. Dann sagte er durchdringend: »Mr Lang?« Tolliver öffnete die Augen. Er sah am Arzt vorbei, direkt zu mir, und seine Züge entspannten sich. »Geht es dir gut, mein Schatz?«, fragte er und versuchte, meine Hand zu nehmen. Ich ging am Arzt vorbei und lief um das Bett herum auf die andere Seite. Ich nahm seine Linke in meine Hände. »Wie geht es dir?«, fragte ich. Dr. Spradling sah Tolliver in die Augen, las seine Patientenakte und hörte uns zu. »Meine Schulter tut weh. Was ist mit dir passiert?«, fragte Tolliver. »Das Fenster ist explodiert. Hat jemand einen Ziegelstein hineingeworfen? Du hast Schnittwunden im Gesicht.« »Tolliver, du wurdest angeschossen«, sagte ich. Mir fiel keine taktvollere Methode ein, um ihm das beizubringen. »Mich haben nur ein paar Glassplitter von der Fensterscheibe getroffen. Eine Kleinigkeit. Aber auch du wirst wieder gesund.« Tolliver machte einen verwirrten Eindruck. »Ich kann mich gar nicht daran erinnern«, sagte er. »Ich wurde angeschossen?« »Seine Erinnerung wird zurückkehren«, beruhigte mich Dr. Spradling. Ich sah ihn blinzelnd an, um die Tränen zurückzuhalten. »Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte er, und ich war ihm dankbar für seine beruhigenden Worte. »Mr Lang, ich werde mir jetzt Ihre Wunde ansehen.« Eine Schwester kam herein, und die nächsten Minuten waren nicht sehr angenehm. Tolliver wirkte erschöpft, als er wieder frisch verbunden war. »Alles sieht gut aus«, sagte Dr. Spradling knapp. »Mr Lang, Sie erholen sich wie erhofft.« »Ich fühle mich hundeelend«, sagte Tolliver, weniger aus Selbstmitleid, sondern aus Sorge. »Eine Schussverletzung ist keine Kleinigkeit«, sagte Dr. Spradling und lächelte mich vorsichtig an. »Das ist nicht so wie im Fernsehen, Mr Lang, wo die Leute sofort aus dem Krankenhausbett springen und die Verfolgung wieder aufnehmen.« Vermutlich hatte Tolliver das nicht verstanden, denn er sah den Arzt verwirrt an. Spradling wandte sich an mich. »Ich nehme an, dass er morgen auch noch hier sein wird, und dann warten wir den nächsten Tag ab. Vielleicht braucht er eine Physiotherapie wegen der Schulter.« »Aber er wird seinen Arm wieder ganz normal benutzen können?«, fragte ich, als mir klar wurde, dass ich mir viel mehr Sorgen hätte machen müssen. »Wenn alles weiterhin gut geht, wahrscheinlich schon.« »Oh«, sagte ich, bestürzt über die fehlende Gewissheit. »Was kann ich für ihn tun?« Dr. Spradling sah genauso verwirrt aus wie Tolliver. Er schien nicht zu glauben, dass ich viel für Tolliver tun konnte, außer seine Rechnung zu bezahlen. »Jetzt kommt es ganz auf ihn an«, sagte Dr. Spradling. »Auf Ihren Partner.« Ich glaube, an diesem Tag hielt ich generell nicht viel von Ärzten, da mir keiner eine eindeutige Antwort geben konnte. Vom Verstand her wusste ich, dass Dr. Spradling einfach nur vernünftig und realistisch war. Mein Verstand sagte mir auch, dass ich ihm dafür dankbar sein musste. Aber meine Gefühle waren stärker. Ich schaffte es, mich zu beherrschen, und Dr. Spradling verschwand mit einem fröhlichen Winken. Tolliver machte nach wie vor einen verwirrten Eindruck, döste aber wieder ein. Seine Lider flatterten, wenn es Lärm auf dem Flur gab, aber so richtig öffnete er die Augen nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand an seinem Bett, sah Tolliver an und versuchte, einen Plan zu schmieden, als Victoria Flores nach einem kurzen Klopfen hereinkam. Victoria war Ende dreißig. Die frühere Polizeibeamtin Texarkanas war gut gebaut und gut aussehend. Ich hatte Victoria nie anders als im Kostüm und mit hohen Schuhen gesehen. Sie besaß ihren ganz eigenen Dresscode. Victorias dunkles, dickes Haar war zu einem schulterlangen Pagenschnitt geglättet worden, und schwere goldene Kreolen schmückten ihre Ohren. Heute war ihr Kostüm von mattem Rot, darunter trug sie eine eierschalenfarbene Bluse. »Wie geht es ihm?«, fragte sie und wies mit dem Kinn zu der reglosen Gestalt im Bett. Keine Umarmung, kein Händedruck, keine lange Vorrede. Victoria kam direkt zur Sache. »Er ist ziemlich schwer verletzt«, sagte ich. »Sein Schlüsselbein wurde zerschmettert.« Ich tippte auf mein eigenes Schlüsselbein. »Aber der Arzt, der gerade da war, meinte, dass Tolliver wieder gesund wird, wenn er Physiotherapie macht. Wenn alles gut geht.« Victoria schnaubte. »Wie ist das passiert?« Ich erzählte es ihr. »Was war euer letzter Fall?«, wollte sie wissen. »Die Joyces.« »Ich treffe mich heute Vormittag mit ihnen.« Ich erzählte ihr nicht, was auf dem Friedhof vorgefallen war, weil mir die Joyces das nicht erlaubt hatten. Aber ich erzählte Victoria in groben Zügen, wie wir die Zeit verbracht hatten. Sie wusste auch, dass sie uns im Motel besucht hatten. »Das muss der Grund für die Schießerei gewesen sein«, sagte Victoria. »Und der Auftrag davor?« »Erinnerst du dich noch an den Serienmörder? Der die Jungs in North Carolina umgebracht und in ein Massengrab geworfen hat?« »Das warst du – du hast sie gefunden?« »Ja. Es war furchtbar. Wir hatten viel Publicity, allerdings vorwiegend unangenehme.« Ich hatte festgestellt, dass Mund-zu-Mund-Propaganda besser war, um an gut bezahlte Aufträge zu kommen. Publicity führte zwar zu einem heftigen Aufflackern von Interesse, aber dieses Interesse kam meist von Leuten, die das Unerklärliche, Blutrünstige anzog. Nicht unbedingt Leute, die viel Geld dafür bezahlen, damit so etwas in ihrer direkten Nachbarschaft passiert. »Die Schießerei ist also vielleicht eine Folge des Falls in North Carolina?« »Jetzt, bei näherer Betrachtung, erscheint mir das wenig wahrscheinlich.« Tolliver musste sich dringend rasieren. Das würde ich erledigen müssen, genauso wie das Kämmen. Ich wusste nicht, womit ich ihm noch helfen konnte. Er sah so hilflos aus. Er war so hilflos. Ich war die Einzige, die ihn beschützen konnte. Ich musste mich zusammenreißen. »Die Morde in North Carolina haben wirklich viele Leute entsetzt«, sagte Victoria nachdenklich. Sie schien zu glauben, dass der Schuss auf Tolliver etwas mit dem einzigen Serienmord zu tun hatte, mit dem wir je konfrontiert waren. »Aber die Bösen wurden gefasst. Warum sollte jemand auf uns schießen, wenn wir geholfen haben, die Täter dingfest zu machen?« »Bist du sicher, dass nicht noch mehr Leute in den Fall verwickelt waren? Waren die beiden Männer die einzigen Mörder?« »Ich bin mir ziemlich sicher, und die Polizei ist es auch. Glaub mir, in dem Fall wurde sehr gründlich ermittelt. Der Prozess steht noch aus, aber der Staatsanwalt ist sich ziemlich sicher, dass sie verurteilt werden.« »Gut.« Victoria sah ein paar Sekunden auf Tolliver herab. »Dann verfolgt euch entweder ein Stalker oder es hat mit den Joyces zu tun.« Sie schwieg einen Moment. »Über deine Schwester gibt es schon eine ganze Weile nichts Neues. Ich nehme an, dass die Spur von Camerons Entführung längst viel zu sehr erkaltet ist, um noch etwas mit der jetzigen Situation zu tun zu haben.« Ich nickte. »Das sehe ich genauso. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Joyces etwas damit zu tun haben. Wenn sie mir erlauben, mit dir zu reden, weihe ich dich gerne ein. So viel gibt es da allerdings auch wieder nicht zu erzählen.« Victoria zog ihr Handy hervor und machte einen Anruf, obwohl das im Krankenhaus bestimmt nicht erlaubt war. Sie begann zu reden. Wenige Sekunden später reichte sie mir das Telefon. »Hallo«, sagte ich. »Hier ist Lizzie Joyce.« »Hallo. Darf ich Victoria alles erzählen?« »Das ist wirklich sehr integer von Ihnen. Sie haben meine Erlaubnis.« Klang sie amüsiert? Ich mag es nicht, wenn man sich über meine Korrektheit amüsiert. »Das mit Ihrem Manager tut mir leid«, fuhr Lizzie fort. »Es soll im selben Motel passiert sein, in dem wir Sie besucht haben. Meine Güte! Was ist denn da passiert? War es ein Amokläufer?« Eine Erinnerung kam in mir hoch. »Einer der Cops sagte mir, ein paar Blocks weiter weg habe es ebenfalls eine Schießerei gegeben. Das könnte also sein, aber es fällt mir schwer, das zu glauben.« »Nun, das tut mir aufrichtig leid. Wenn ich etwas für Sie tun kann, geben Sie mir bitte Bescheid.« Ich fragte mich, wie aufrichtig dieses Angebot wirklich war. Eine verrückte Minute lang wollte ich schon sagen: »Dieser Krankenhausaufenthalt wird sehr teuer, weil wir so schlecht versichert sind. Können Sie die Rechnung übernehmen? Oh, und die für die Reha ebenfalls?« Aber ich dankte ihr nur und gab Victoria das Handy zurück. Bisher war ich viel zu besorgt gewesen, um mir über die finanziellen Konsequenzen Gedanken zu machen. Ich verlor mich in Grübeleien, während Victoria Flores das Telefonat mit Lizzie Joyce beendete. Zum ersten Mal wurde mir die Tragweite der ganzen Sache klar. Ich begriff, dass Tollivers Verletzung das Ende unseres Traums, ein Haus zu kaufen, bedeutete. Zumindest in der näheren Zukunft. Ich konnte also noch deprimierter werden als vorhin, was ich vor zehn Minuten noch für völlig unmöglich gehalten hätte. Ich erzählte Victoria von unserem Besuch auf dem Pioneer Rest Cemetery. Sie stellte mir jede Menge Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Aber am Ende wirkte sie zufrieden, auch noch das Letzte aus mir herausgequetscht zu haben. »Ich hoffe, ich kann den Joyces weiterhelfen«, sagte sie, inzwischen selbst etwas deprimiert. »Ich konnte es kaum fassen, dass sie sich an mich und nicht an eine große Detektei gewandt haben. Aber jetzt, wo ich die Details kenne, verstehe ich, warum sie jemanden wie mich wollten.« »War das schwer, hierher zu ziehen?«, fragte ich. »Ja, es gibt zwar viel mehr zu tun, aber auch viel mehr Konkurrenz«, sagte Victoria. »Doch es ist gut, dass ich näher bei meiner Mutter wohne, sie hilft mir mit meiner Tochter. Und die MariCarmen-Schule hier ist besser als die in Texarkana. Außerdem ist der Schulweg nicht so weit. Ich habe immer noch viele Geschäftskontakte und Freunde in Texarkana. Ich brauche nur zweieinhalb bis drei Stunden dorthin, je nach Wetter und Verkehr.« »Wir werden Cameron niemals finden, was?«, sagte ich. Victorias Mund öffnete sich, als ob sie mir etwas mitteilen wollte. Dann schloss sie ihn wieder. »Das würde ich nicht sagen. Man weiß nie, wann noch mal eine Spur auftaucht. Und das sage ich nicht nur, um dir was vorzumachen. Das weißt du selbst am besten.« Ich nickte. »Ich habe Cameron stets im Hinterkopf«, sagte Victoria. »Als ich vor all den Jahren zu eurem Wohnwagen kam und mit Tolliver sprach … Da war ich eine noch ganz unerfahrene Polizistin. Ich dachte, ich würde sie schnell finden und mir einen Namen machen. Aber dem war nicht so. Aber jetzt, wo ich mich selbstständig gemacht habe, suche ich immer noch nach ihr, und zwar wo ich gehe und stehe.« Ich schloss die Augen. Dasselbe tat ich auch. 7 Nachdem Victoria gegangen war, setzte ich mich auf den Stuhl neben Tollivers Bett. Mein rechtes Bein war zittrig. Das ist das Bein, in das an jenem Nachmittag im Wohnwagen der Blitz fuhr, während es draußen gewitterte. Ich hatte mich für eine Verabredung zurechtgemacht, es war ein Samstag oder Freitag. Mir fiel auf, dass mir die genauen Umstände entfallen waren, was mich wirklich schockierte. Ich wusste noch, wie ich in den Badezimmerspiegel gesehen hatte, während ich einen Lockenstab in der Hand hielt, der in die Steckdose neben dem Waschbecken eingesteckt war. Der Blitz kam durch das offene Badezimmerfenster. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich auf dem Rücken lag, halb in und halb außerhalb des kleinen Raums. Und dass mich Tolliver wiederbelebte. Dann lösten ihn die Sanitäter ab, und Matthew schrie sie im Hintergrund an. Mark versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. Meine Mom lag besinnungslos im Schlafzimmer. Wenn ich den Kopf nach links drehte, konnte ich sehen, wie sie quer über dem Bett lag. Eines der Babys schrie, wahrscheinlich Mariella. Cameron stand mit dem Rücken zur Wand im Flur. Sie war tränenüberströmt und völlig verstört. Es roch so komisch. Die Haare auf meinem rechten Arm waren nur noch kleine, harte Flocken. Nichts an mir schien noch zu funktionieren. »Ihr Bruder hat Ihnen das Leben gerettet«, sagte der Sanitäter, der sich über mich gebeugt hatte. Seine Stimme schien von ganz weit her zu kommen, und es summte. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber meine Lippen gehorchten mir nicht. Ich schaffte es, unmerklich zu nicken. »Jesus, ich danke dir«, stammelte Cameron unzusammenhängend, weil sie so aus der Fassung geraten war. Die Szene im Wohnwagen kam mir realistischer vor als dieses Krankenhauszimmer in Dallas. Ich sah Cameron wieder genau vor mir: ihr langes, glattes blondes Haar, ihre braunen Augen, dieselben wie Dads. Wir waren uns nicht sehr ähnlich, das sah man sofort: Unsere Gesichtsform war anders, dasselbe galt für unsere Augen. Cameron hatte Sommersprossen auf der Nase, und sie war kleiner und gedrungener als ich. Cameron und ich hatten beide gute Noten, aber sie war beliebter. Sie tat viel dafür. Meiner Meinung nach wäre es Cameron deutlich besser gegangen, wenn sie sich nicht mehr so gut an das schöne Haus in Memphis, in dem wir aufgewachsen waren, erinnert hätte. Bevor unsere Eltern in der Gosse gelandet waren. Diese Erinnerungen sorgten auch dafür, dass sie einen Standard für uns anstrebte, der nur in ihrem Kopf existierte. Sie wurde wütend, wenn wir nicht sauber, ordentlich und wohlhabend wirkten. Sie flippte aus, wenn jemand ahnte, wie es bei uns zu Hause wirklich aussah. Manchmal sorgte ihr übertriebenes Bedürfnis, den Schein zu wahren, dafür, dass man nur schwer mit Cameron reden konnte. Oder besser gesagt leben konnte. Aber sie war uns Geschwistern gegenüber stets absolut loyal, gegenüber den Stiefgeschwistern ebenso wie gegenüber den leiblichen. Sie war fest entschlossen, Mariella und Gracie so zu erziehen, wie es den verblassten Erinnerungen an unsere respektable Vergangenheit entsprach. Cameron schuftete, damit der Wohnwagen sauber und ordentlich aussah, und ich unterstützte sie in diesem Kampf. Die Begegnung mit Victoria hatte die Geister aus der Vergangenheit wiederbelebt. Während Tolliver schlief, musste ich an die Jahre denken, in denen ich überall erwartete, meine Schwester zu sehen. Ich stellte mir vor, wie ich mich in einem Geschäft umdrehte, und sie war die Verkäuferin, die meine Einkäufe einscannte. Oder die Prostituierte an der Straßenecke, an der wir eines Abends vorbeiliefen. Oder die junge Mutter, die einen Kinderwagen schob. Die mit den langen blonden Haaren. Doch sie war es nie. Einmal hatte ich sogar eine Frau gefragt, ob sie Cameron hieße, weil ich plötzlich felsenfest davon überzeugt war, sie wäre meine Schwester, nur ein wenig älter und verlebter. Ich hatte ihr Angst eingejagt. Ich hatte ganz schnell gehen müssen, da sie sonst die Polizei gerufen hätte. Bei all den Fantasien hatte ich mich kein einziges Mal gefragt, wie Cameron in ihr zweites Leben hineingeraten war. Oder warum sie mich in all den Jahren nie angerufen oder mir geschrieben hatte. Zunächst hatte ich angenommen, dass meine Schwester von einer Gang entführt und als Sklavin weiterverkauft worden sei. Ich hatte mir etwas Gewalttätiges, Furchtbares vorgestellt. Später überlegte ich, ob sie ihr Leben nicht vielleicht einfach nur satt gehabt hatte: die heruntergekommenen Eltern, den billigen Wohnwagen, die hinkende, geistesabwesende Schwester und die zwei Jüngsten, die sich ständig schmutzig machten. Die meiste Zeit ging ich jedoch davon aus, dass Cameron tot war. Das plötzliche Auftauchen eines der Detectives vom Vortag riss mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Er kam ganz leise ins Zimmer und sah auf meinen Bruder hinab. Dann fragte er: »Wie geht es Ihnen heute, Miss Connelly?« Mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Lufthauch, so gedämpft klang sie. Ich stand auf, weil er mich mit seinem lautlosen Auftauchen und seiner gedämpften Stimme nervös machte. Er war nicht besonders groß, vielleicht knapp 1,80. Er war untersetzt und hatte einen dicken graumelierten Schnurrbart. Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Partner Parker Powers. Dieser Detective sah aus wie Millionen anderer Männer auch. Ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern. Rudy irgendwas. Rudy Flemmons. »Im Vergleich zu meinem Bruder geht es mir bestens«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf die Gestalt im Bett. »Haben Sie schon einen Verdacht, wer ihm das angetan haben könnte?« »Wir fanden ein paar Zigarettenstummel auf dem Parkplatz, aber die können von jedem stammen. Wir haben sie trotzdem eingesammelt, falls wir jemanden finden, von dem wir eine DNA-Probe nehmen können. Vorausgesetzt, die im Labor können irgendeine DNA sichern.« Wir starrten weiterhin den Patienten an. Tolliver öffnete die Augen, lächelte mich schwach an und schlief wieder ein. »Glauben Sie, dass absichtlich auf ihn geschossen wurde?«, fragte der Detective. »Er wurde getroffen«, sagte ich ein wenig verwirrt über die Frage. Natürlich hatte der Schütze auf Tolliver gezielt. »Können Sie sich vorstellen, dass auf Sie geschossen wurde?«, fragte Rudy Flemmons. »Warum denn das?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, merkte ich auch schon, wie dämlich das klang. »Ich meine, wer sollte auf mich schießen? Wollen Sie damit sagen, dass die Kugel Tolliver bloß aus Versehen getroffen hat und dass sie eigentlich für mich bestimmt war?« »Sie hätte für Sie bestimmt sein können«, sagte Flemmons. »Ich habe nicht behauptet, dass es so war.« »Und wie kommen Sie darauf?« »Sie spielen bei Ihnen beiden die Hauptrolle«, sagte Flemmons. »Ihr Bruder unterstützt Sie nur. Sie sind diejenige mit der besonderen Gabe. Insofern ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass jemand Probleme mit Ihnen hat und nicht mit Mr Lang. Soweit ich weiß, hat er eine Freundin?« Das war der merkwürdigste Polizist, dem ich je begegnet war. Ich seufzte. Schon wieder. »Ja, das stimmt«, sagte ich. »Wer ist sie?« Er hatte schon sein Notizbuch gezückt. »Ich.« Flemmons sah mich fragend an: »Wie bitte?« »Wie Sie wissen, sind wir nicht blutsverwandt.« Ich war es leid, unsere Beziehung rechtfertigen zu müssen. »Stimmt, Sie haben nicht dieselben Eltern«, sagte er. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht. »Nein. Wir sind Partner, in jeglicher Hinsicht.« »Verstehe. Ich bekam heute Morgen einen interessanten Anruf«, sagte Flemmons und ließ das Thema fallen. Sofort spitzte ich die Ohren. »Ja? Von wem denn?« »Von einem Detective aus Texarkana. Er heißt Peter Gresham und ist ein Freund von mir.« »Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte ich seufzend. Ich hatte keine Lust, schon wieder über das Verschwinden meiner Schwester zu sprechen. Heute war der reinste Cameron-Trauertag. »Er meinte, es habe jemand wegen Ihrer Schwester angerufen.« »Was war das für ein Anruf?« Es gibt mehr Verrückte als man denkt … »Jemand hat sie im Einkaufszentrum von Texarkana gesehen.« Mir verschlug es kurz den Atem, und ich japste nach Luft. »Cameron? Wer hat sie gesehen? Jemand, der sie von früher kennt?« »Es war ein anonymer Anruf. Ein Mann rief von einem öffentlichen Telefon an.« »Oh«, sagte ich und fühlte mich, als hätte mir soeben jemand einen Magenschwinger versetzt. »Aber … wie kann ich herausfinden, ob das stimmt? Wie kann ich dafür sorgen, dass sich diese Person meldet? Gibt es da irgendeine Möglichkeit?« »Erinnern Sie sich noch an Pete Gresham? Er hat die Ermittlungen im Fall Ihrer Schwester geleitet.« Ich nickte. Ich erinnerte mich an ihn, aber nur vage. Wenn ich an die schlimme Zeit unmittelbar nach Camerons Verschwinden zurückdenke, spüre ich nichts als Angst. »Er war recht groß«, sagte ich. Dann fügte ich schon etwas unsicherer hinzu: »Und er trug ständig Cowboystiefel. Er bekam eine Glatze, obwohl er noch recht jung war.« »Ja, genau das ist er. Inzwischen ist Pete kahl. Das bisschen, was da noch wächst, rasiert er ab.« »Was hat er wegen des Anrufs unternommen?« »Er hat sich die Bänder der Überwachungskameras angesehen.« »Die aus dem Einkaufszentrum?« »Ja, und darauf ist der Parkplatz auch ziemlich gut zu erkennen, sagt Pete.« »War sie da?« Ich würde schreien, wenn er es mir nicht sofort sagte. »Da war eine Frau, auf die die Beschreibung Ihrer Schwester zutrifft. Aber es gibt keine deutliche Aufnahme von ihrem Gesicht. Wir können also nicht feststellen, ob sie wirklich Cameron Connelly ist.« »Kann ich das Band sehen?« »Ich werde mich bemühen, das zu arrangieren. Normalerweise würden Sie wahrscheinlich selbst nach Texarkana fahren. Aber jetzt, wo Mr Lang noch mehrere Tage im Krankenhaus bleiben muss, können wir es vielleicht so einrichten, dass Sie die Bänder bei uns auf dem Revier anschauen.« »Das wäre fantastisch!«, sagte ich. »Ansonsten müsste ich ihn zu lange allein lassen.« Ich versuchte, mich zur Ruhe zu zwingen. Bevor ich mich zusammenreißen konnte, beugte ich mich über Tolliver und nahm seine Hand. Sie war kalt, und ich nahm mir vor, die Schwester um eine weitere Decke zu bitten. »Hallo, du«, sagte ich. »Hast du gehört, was der Detective gesagt hat?« »Zum Teil«, sagte Tolliver. Es war mehr ein Murmeln, aber ich konnte ihn verstehen. »Er versucht, die Bänder von dem Einkaufszentrum zu bekommen, damit ich sie mir hier anschauen kann«, sagte ich. »Vielleicht stoßen wir endlich doch noch auf eine Spur.« Ich konnte kaum glauben, dass ich keine Stunde zuvor mit Victoria genau über dieses Thema gesprochen hatte. »Mach dir keine allzu großen Hoffnungen«, sagte Tolliver schon etwas deutlicher. »Das hatten wir schon mal.« Ich wollte nicht an all die bisherigen falschen Zeugen denken. »Ich weiß«, sagte ich. »Aber vielleicht haben wir ja diesmal Glück?« »Sie wäre nicht mehr dieselbe«, sagte Tolliver mit vollständig geöffneten Augen. »Das ist dir doch klar, oder? Sie wäre nicht mehr dieselbe.« Ich beruhigte mich sofort. »Ja, ich weiß«, sagte ich. Sie würde nie mehr so sein wie früher. Dafür waren zu viele Jahre vergangen. Dafür war einfach zu viel passiert. »Wenn du nach Texarkana fahren möchtest …«, hob Tolliver an. »Ich lasse dich nicht allein«, sagte ich sofort. »Aber wenn du fahren möchtest, fahr!«, bot er mir an. »Ich weiß das sehr zu schätzen«, erwiderte ich. »Aber ich werde nicht fahren, solange du hier im Krankenhaus liegst.« Ich konnte kaum glauben, was ich da sagte. Seit Jahren wartete ich auf Neuigkeiten über meine Schwester. Jetzt, wo es tatsächlich eine Spur gab, so merkwürdig und unzuverlässig sie auch war, sagte ich Tolliver, dass ich mich nicht sofort darauf stürzen würde. Ich setzte mich auf den Stuhl neben seinem Bett. Ich legte meine Stirn auf das Baumwolllaken, das meinen Bruder bedeckte. Ich hatte mich ihm noch nie so verpflichtet gefühlt. Detective Flemmons hatte uns ungerührt zugehört, ohne seinen Senf dazuzugeben, wofür ich ihm äußerst dankbar war. Er sagte: »Ich rufe Sie an, wenn wir so weit sind.« »Danke«, erwiderte ich und fühlte mich wie betäubt. Als der Detective weg war, sagte Tolliver: »Das ist nur fair.« »Was?« »Du wurdest statt mir angeschossen. Und jetzt werde ich statt dir angeschossen. Vorausgesetzt, er hat recht. Glaubst du, der Schütze hatte es auf dich abgesehen?« »Hm«, sagte ich. »Aber als auf mich geschossen wurde, hätten sie mich beinahe verfehlt. Es war schließlich nur ein Streifschuss. Aber wer auf dich geschossen hat, hat besser gezielt.« »Ach so«, meinte er. »Auf mich schießen also effizientere Leute.« »Diese Schmerzmittel müssen ziemlich gut wirken.« »Sie wirken ausgezeichnet«, sagte er verträumt. Ich lächelte. Es kam nicht oft vor, dass Tolliver so entspannt war. Ich wollte nicht mehr über Cameron nachdenken, ganz einfach, weil ich nicht wusste, was ich mir wünschen sollte. Sein Dad klopfte an die Tür und trat ein, bevor wir auch nur den Mund aufmachen konnten. Damit war es vorbei mit unserer trauten Zweisamkeit. Matthew sah ein wenig mitgenommen aus, was nicht weiter überraschend war, wenn man bedenkt, wie lange wir am Vortag wach gewesen waren. Er hatte mir erzählt, dass er bei McDonald’s Frühschicht hatte. Er hatte sich offensichtlich Zeit genommen, nach der Arbeit zu duschen, denn er roch nicht nach McDonald’s. »Tolliver, dein Dad hat mir geholfen, als wir den Krankenwagen riefen«, sagte ich, denn Ehre wem Ehre gebührt. »Und er war im Krankenhaus, bis wir erfuhren, dass du außer Lebensgefahr bist.« »Bist du dir sicher, dass er nicht auf mich geschossen hat?« Wenn ich nicht mehrere Jahre mit Matthew Lang zusammengelebt hätte, wäre ich jetzt völlig schockiert gewesen. »Mein lieber Sohn, wie kannst du nur so etwas sagen?«, fragte er verletzt und wütend. »Ich weiß, dass ich kein guter Vater war …« »Kein guter Vater? Weißt du noch, wie du Cameron die Waffe an den Kopf gehalten und gesagt hast, dass du ihr Hirn wegpustest, wenn ich dir nicht verrate, wo ich deine Drogen versteckt habe?« Matthews Schultern sackten kraftlos nach vorn. Wahrscheinlich hatte er es geschafft, diesen kleinen Vorfall zu verdrängen. »Und jetzt fragst du mich, wie ich bloß auf die Idee komme, du könntest auf mich geschossen haben?« Wenn Tollivers Stimme nicht so schwach gewesen wäre, hätte er getobt vor Wut. Aber so klangen Tollivers Worte dermaßen traurig, dass ich am liebsten geweint hätte. »Ich kann mir das sogar sehr gut vorstellen, Dad.« »Aber das hätte ich doch niemals getan«, sagte Matthew Lang. »Ich liebte dieses Mädchen. Ich habe euch alle geliebt. Ich war einfach nur ein verdammter Junkie, Tolliver. Ich war ein Wrack, und das weiß ich auch. Ich bitte dich um Vergebung, jetzt, wo ich endlich clean bin. Ich werde es nicht wieder versauen, Sohn.« »Du wirst deinen Worten Taten folgen lassen müssen«, sagte ich und sah, wie erschöpft Tolliver schon nach fünf Minuten mit seinem Vater war. »Und da wir gerade dabei sind, in schönen Erinnerungen zu schwelgen, fallen mir bestimmt auch noch ein paar ein. Du warst gestern Abend da … prima. Das war gut, aber es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein.« Matthew wirkte niedergeschlagen. Seine braunen Augen sahen aus wie die eines Cockerspaniels: unschuldig und tränenfeucht. Ich glaubte ihm keine Sekunde, dass er sich geändert hatte, hätte ihm aber nur zu gern geglaubt. Wenn sich Tollivers Vater tatsächlich bessern und sich bemühen würde, Tolliver so zu lieben und zu respektieren, wie er es verdiente, wäre das einfach wunderbar. Schon im nächsten Moment verfluchte ich mich dafür, so sentimental zu sein. Jetzt, wo Tolliver verletzt und extrem geschwächt war, musste ich doppelt vorsichtig sein. Ich war für uns beide verantwortlich, nicht nur für mich selbst. »Harper, ich weiß, dass ich das verdient habe«, sagte Matthew. »Ich weiß, dass es lange dauern wird, bis ich euch von meiner aufrichtigen Reue überzeugt habe. Ich weiß, dass ich es immer wieder versaut, mich nicht wie ein Vater benommen habe. Ja, nicht einmal wie ein verantwortungsbewusster Erwachsener.« Ich sah zu Tolliver hinüber, um zu sehen, wie er reagierte. Doch ich sah nur einen jungen Mann, dem man erst vor wenigen Stunden in die Schulter geschossen hatte. Einen Mann, der erschöpft war von den Forderungen, die sein Vater an ihn stellte. »Tolliver kann dieses Drama jetzt gar nicht gebrauchen«, sagte ich. »Wir hätten nicht damit anfangen sollen. Danke für deine Hilfe gestern Abend. Du solltest jetzt gehen.« Immerhin verabschiedete sich Matthew sofort von Tolliver und verließ das Zimmer. »Gut, das wäre also erledigt«, sagte ich, um die plötzliche Stille zu durchbrechen. Ich hatte Tollivers Hand genommen und drückte sie, aber er machte die Augen nicht auf. Ich wusste nicht, ob er wirklich schlief. Vielleicht hatte er bloß das Bedürfnis, so zu tun als ob, was ich gut verstehen konnte. Unser Besucherstrom schien versiegt zu sein, sodass nun jene langweiligen Krankenhausstunden vor uns lagen, die ich bereits erwartet hatte. Ich war fast erleichtert, gelangweilt zu sein. Wir sahen uns alte Filme an, und ich las ein paar Seiten. Niemand rief an. Niemand kam zu Besuch. Als die große Uhr in seinem Zimmer fünf Uhr anzeigte, bedrängte mich Tolliver, zu gehen, mir ein Hotelzimmer zu nehmen und mich auszuruhen. Nachdem ich mit seiner Krankenschwester geredet hatte, willigte ich ein. Ich schlief beinahe schon im Gehen, wollte aber noch einmal duschen. Die kleinen Schnittwunden in meinem Gesicht brannten und juckten. Ich fuhr extrem vorsichtig und hielt vor mehreren Hotels. Ich entschied mich für eines, das ein sauberes, bereits gemachtes Zimmer im dritten Stock frei hatte. Ich schleppte meine Reisetasche quer durch die Lobby bis zum Lift und sehnte mich nach einem weichen Bett. Außerdem war ich hungrig, aber das Bett spielte die Hauptrolle in meinem kleinen Tagtraum. Mein Handy klingelte. Ich ging dran, da ich dachte, es sei das Krankenhaus. Detective Rudy Flemmons sagte: »Sie klingen so, als würden Sie bereits im Stehen schlafen.« »Stimmt genau.« »Morgen früh bekommen wir die Bänder. Wollen Sie aufs Revier kommen und sie sich ansehen?« »Klar.« »Na gut. Dann sehen wir uns um neun, wenn Ihnen das passt.« »Einverstanden. Wie laufen die Ermittlungen?« »Wir befragen immer noch die Nachbarn, um herauszufinden, ob jemand etwas gesehen hat, als Ihr Bruder gestern Abend angeschossen wurde. Die andere Schießerei fand in der Goodman Street statt. Es handelte sich um eine Auseinandersetzung zwischen Dieben. Kann sein, dass der Schütze dort, nachdem er mit seinem Kumpel fertig war, aus lauter Wut beschloss, auf ein leichtes Ziel zu schießen, während er am Motel vorbeifuhr. Es sieht so aus, als ob wir die Stelle gefunden hätten, von der aus geschossen wurde.« »Das ist gut«, sagte ich, unfähig zu jeder weiteren Reaktion. Die Lifttüren öffneten sich zu meinem Stockwerk, ich stieg aus und lief den Flur zu meinem neuen Zimmer hinunter. »Ist das alles, was Sie mir sagen wollten?« Ich steckte die Schlüsselkarte in den Schlitz. »Ich denke schon«, antwortete der Detective. »Wo sind Sie gerade?« »Ich habe gerade im Holiday Inn Express eingecheckt«, sagte ich. »Das in Chisholm?« »Ja. Ganz in der Nähe des Krankenhauses.« »Wir sprechen uns morgen«, sagte Rudy Flemmons, und ich erkannte den Klang seiner Stimme. Detective Flemmons war einer, der glaubt. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, lassen sich in drei Kategorien einteilen: in jene, die mir nicht einmal glauben würden, wenn Gott höchstpersönlich mir eine eidesstattliche Erklärung ausstellte. In jene, die glauben, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die man einfach nicht erklären kann (die »Hamlet«-Leute, wie ich sie nenne). Und in jene, die felsenfest an das glauben, was ich tue, ja, die den Kontakt lieben, den ich zu den Toten herstelle. Leute, die glauben, lieben die Sendung Ghost Hunters, gehen zu Séancen und beauftragen Hellseherinnen wie unsere verstorbene Kollegin Xylda Bernardo. Wenn sie nicht ganz so weit gehen wollen, sind sie zumindest offen für neue Erfahrungen. Es gibt nicht viele Gesetzeshüter, die glauben, was allerdings nicht weiter verwunderlich ist, da sie Tag für Tag mit Betrügern zu tun haben. Ich bin so etwas wie Katzenminze für diejenigen, die glauben. Ich überzeuge, weil ich echt bin. Ich wusste, dass Detective Rudy Flemmons von nun an immer häufiger auftauchen würde. Ich war der lebende Beweis für das, woran er heimlich glaubte. Und das nur, weil mich der Blitz getroffen hatte. Ich wollte duschen, zog aber nur die Schuhe aus und ließ mich aufs Bett fallen. Ich rief Tolliver an, um ihm zu sagen, dass ich am nächsten Morgen aufs Polizeirevier gehen und anschließend bei ihm im God’s Mercy Hospital vorbeischauen würde. Er klang genauso verschlafen, wie ich mich fühlte, und anstatt zu duschen, lud ich mein Handy auf, schlüpfte aus meiner Hose und glitt zwischen die Laken. 8 Ich schrak hoch. Dann lag ich ein paar Sekunden da und versuchte zu begreifen, warum ich so unglücklich war. Bis mir wieder einfiel, dass Tolliver im Krankenhaus lag. Ich durchlebte den Moment, in dem man auf ihn geschossen hatte, mit grausamer Klarheit. Da ich schon mal durch ein Fenster angeschossen worden war, fragte ich mich, was bloß mit uns und Fenstern los war. Wenn wir uns von Gebäuden fernhielten, würden wir dann unverletzt bleiben? Obwohl Tolliver bei den Pfadfindern gewesen war und mit ihnen gezeltet hatte, konnte ich mich nicht daran erinnern, dass er diese Erfahrung sehr genossen hätte. Ich würde sie ganz bestimmt nicht genießen. Es war halb fünf Uhr morgens. Ich hatte das Abendessen und die ganze Nacht verschlafen. Kein Wunder, dass ich jetzt hellwach war. Ich stapelte Kissen in meinem Rücken und machte den Fernseher an, den ich bewusst leise laufen ließ. Die Nachrichten kamen nicht infrage: Es sind immer schlechte Nachrichten, und ich wollte kein weiteres Blutvergießen oder andere Grausamkeiten sehen. Ich fand einen alten Western. Es war unheimlich beruhigend zu sehen, wie die Guten siegten. Wie die verhärteten Saloon-Flittchen ihr goldenes Herz offenbarten und Leute, wenn sie angeschossen wurden, wie durch ein Wunder nicht bluteten. Diese Welt gefiel mir deutlich besser als die, in der ich lebte, und ich genoss es, sie zu besuchen, vor allem in den frühen Morgenstunden. Nach einer Weile muss ich wieder eingeschlafen sein, denn um sieben wachte ich erneut auf. Der Fernseher lief immer noch, und die Fernbedienung lag lose in meiner Hand. Nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, ging ich nach unten zum Frühstücksbuffet, das im Preis inbegriffen war. Wenn ich nicht bald regelmäßiger aß, würde ich noch zusammenklappen. Ich verzehrte eine große Portion Haferflocken mit Obst und trank anschließend zwei Tassen Kaffee. Dann ging ich wieder auf mein Zimmer, um mir die Zähne zu putzen. Make-up kam nicht infrage, da mein Gesicht so viele Schnittwunden aufwies. Aber ich schaffte es, ein wenig Lidschatten und Wimperntusche aufzutragen. Als ich das Resultat im Badezimmerspiegel begutachtete, verzog ich das Gesicht. Ich sah aus wie ausgespuckt. Am besten, ich gab es auf, mein Aussehen verbessern zu wollen. Es wurde Zeit, aufs Polizeirevier zu gehen, um die Bänder aus dem Einkaufszentrum in Texarkana anzuschauen. Mein Magen zog sich nervös zusammen. Ich hatte mich bemüht, zu verdrängen, dass Cameron gesehen worden war. Aber als ich meine Vitamintabletten nahm, sah ich, dass meine Hände zitterten. Ich hatte im Krankenhaus angerufen, um mich nach Tolliver zu erkundigen. Die Schwester hatte gesagt, dass er die Nacht mehr oder weniger durchgeschlafen hätte, also konnte ich den Krankenbesuch guten Gewissens auf später verschieben. Der Schlaf und das Essen hatten mir gutgetan, und ich fühlte mich wieder mehr wie ich selbst, trotz meiner Nervosität. Das Polizeirevier befand sich in einem einstöckigen Gebäude, das aussah, als hätte es klein angefangen und anschließend Wachstumshormone genommen. Man hatte einige Anbauten hinzugefügt, trotzdem platzte es eindeutig aus allen Nähten. Ich tat mich schwer, einen Parkplatz zu finden, und als ich gerade aus dem Wagen stieg, begann es zu regnen. Erst nieselte es nur, aber als ich überlegte, ob ich den Schirm mitnehmen sollte oder nicht, begann es zu schütten. Ich nahm den Schirm und spannte ihn in Rekordzeit auf. So gesehen war ich nicht allzu nass, als ich die Empfangshalle betrat. Auf die eine oder andere Art habe ich schon viel Zeit auf Polizeirevieren verbracht. Egal, ob sie nun neu oder alt sind – sie ähneln sich alle. So wie Schulen und Krankenhäuser. Es gab keinen geeigneten Ort, um meinen Schirm zu verstauen, also musste ich ihn mitnehmen. Ich hinterließ überall Tropfspuren und wusste, dass der Hausmeister heute noch viel zu tun haben würde. Die Latina hinter dem Tresen war schlank, muskulös und sehr professionell. Über eine Gegensprechanlage rief sie Detective Flemmons, und ich musste nur wenige Minuten auf ihn warten. »Guten Morgen, Miss Connelly«, sagte er. »Kommen Sie mit.« Er führte mich in ein Labyrinth aus Arbeitsplätzen, die durch brusthohe Trennwände voneinander abgeschirmt waren. Als wir hindurchgingen, merkte ich, dass jeder Arbeitsplatz nach dem Geschmack seines Benutzers dekoriert war. Sämtliche Computer waren schmutzig: Die Tastaturen waren verklebt, die Bildschirme dermaßen eingestaubt, dass man die Augen zusammenkneifen musste, um überhaupt etwas zu erkennen. Stimmengewirr hing über dieser Arrestzelle wie eine Rauchwolke. Das war kein angenehmer Ort. Obwohl mich die Polizei oft für eine Betrügerin und Schwindlerin hält, weshalb ich mit einzelnen Beamten oft nicht gut klarkomme, bin ich insgesamt schon sehr froh, dass es Leute gibt, die diesen Job machen. »Sie müssen sich den ganzen Tag Lügen anhören«, dachte ich laut. »Wie halten Sie das bloß aus?« Rudy Flemmons drehte sich um und sah mich an. »Das gehört einfach dazu«, sagte er. »Irgendjemand muss sich ja zwischen die Normalbürger und die Bösen stellen.« Mir fiel auf, dass der Detective nicht »die Guten« gesagt hatte. Wenn ich schon so lange bei der Polizei wäre wie Flemmons, würde ich wahrscheinlich auch niemanden mehr als gut bezeichnen. Am Ende des Labyrinths lag eine Art Besprechungsraum mit einem langen Tisch, um den ramponierte Stühle standen. An einem Ende war die Videoausrüstung aufgebaut worden. Nachdem ich mich gesetzt hatte, machte Flemmons das Licht aus und drückte auf einen Knopf. Ich war so angespannt, dass der ganze Raum summte. Ich starrte auf den Bildschirm, aus Angst, etwas zu verpassen. Gleich darauf sah ich eine Frau, die Ende zwanzig oder Anfang dreißig zu sein schien und über einen Parkplatz lief. Ihr Gesicht war nicht deutlich zu erkennen. Es war teilweise abgewandt. Sie hatte lange blonde Haare, war klein und gedrungen. Ich schlug die Hände vor den Mund, um keinen Laut zu geben, bis ich wusste, was ich sagen wollte. Die Szene wechselte abrupt und zeigte dieselbe Frau beim Betreten des Einkaufszentrums. Sie trug eine Einkaufstüte von Buckle. Diese Aufnahme war frontal gemacht worden. Obwohl der Film grobkörnig und sie nur kurz zu sehen war, schloss ich die Augen und spürte, wie mir mein Magen in die Kniekehle rutschte. »Das ist sie nicht«, sagte ich. »Das ist nicht meine Schwester.« Ich glaubte, weinen zu müssen – meine Augen brannten –, aber ich weinte nicht. Aber meine Anspannung und die anschließende Enttäuschung (oder Erleichterung) waren enorm. »Sind Sie sicher?« »Nicht ganz.« Ich zuckte die Achseln. »Wie auch, wenn ich ihr nicht direkt ins Gesicht sehen kann? Seit ich meine Schwester zum letzten Mal gesehen habe, sind mehr als acht Jahre vergangen. Aber ich kann sagen, dass das Gesicht dieser Frau runder ist. Und ihr Gang ist auch nicht der von Cameron.« »Lassen Sie uns das Band noch mal ansehen, um ganz sicher zu sein«, sagte Flemmons sachlich. Ich richtete mich auf und sah es mir erneut an. Diesmal konnte ich besser auf Kleinigkeiten achten. Die Frau von den Parkplatzaufnahmen trug eine riesige Handtasche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Schwester sich je so etwas aussuchen würde. Natürlich ändert man seinen Geschmack, wenn man älter wird, aber dass sich Camerons Taschengeschmack dermaßen anders entwickelt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Die Einkäuferin trug hochhackige Schuhe zur Hose, und Cameron hielt nichts von hohen Absätzen im Alltag. Dennoch konnte sie natürlich ihren Schuhgeschmack ebenso wie den Handtaschengeschmack geändert haben. Ich trug auch nicht mehr dieselben Accessoires wie damals auf der Highschool. Aber die Gesichtsform der Frau und die Art, wie sie sich in dem Film bewegte, nämlich mit leicht eingefallenen Schultern – nein, diese Frau konnte unmöglich Cameron sein. »Sie ist es auf gar keinen Fall«, sagte ich nach dem zweiten Anschauen. Ich war jetzt viel ruhiger. Der Schock war vorbei, und ich begriff, dass wieder eine Hoffnung enttäuscht worden war. Rudy Flemmons senkte kurz den Blick, und ich fragte mich, was er wohl vor mir verbarg. »Na gut«, sagte er leise. »Na gut. Ich werde Pete Gresham Bescheid geben. Ich soll Sie übrigens von ihm grüßen.« Ich nickte. Jetzt, wo ich das Band angeschaut hatte und wusste, dass diese Frau nicht meine Schwester war, platzte ich schier vor Neugier, wer der Anrufer gewesen war. Ich versuchte, ein paar Fragen zu stellen, aber Detective Flemmons hielt sich bedeckt. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich mehr weiß«, sagte er, was mich natürlich enttäuschte. Ich spannte wieder meinen Schirm auf und eilte zum Wagen. Während ich den Schirm ausschüttelte und hinterm Lenkrad Platz nahm, spürte ich, wie das Handy in meiner Tasche vibrierte. Ich warf den Schirm auf die Rückbank, knallte die Tür zu und klappte das Handy auf. »Mariah Parish hatte tatsächlich ein Kind«, sagte Victoria Flores. »Darfst du mir das überhaupt sagen?« »Ich habe bereits mit Lizzie Joyce gesprochen. Ich suche jetzt nach dem Kind. Nach Lizzies Auftrag habe ich Stunden am Computer verbracht und Erkundigungen eingeholt. Die ganze Sache ist äußerst merkwürdig, das kann ich dir sagen. Da sie erlaubt hat, dass du mit mir redest, gehe ich davon aus, dass ich auch mit dir reden darf.« Victoria, die immer so verschlossen und nüchtern wirkte, sprudelte förmlich über vor Mitteilungsdrang. »Das ist zwar nicht unbedingt gesagt, aber wie du weißt, werde ich niemandem davon erzählen.« Ich muss zugeben, dass ich selbst neugierig war. »Wollen wir zusammen essen gehen? Ich nehme an, dass du nicht viel rauskommst, jetzt wo dein Süßer im Krankenhaus liegt.« »Das klingt gut.« »Prima, wie wär’s mit dem Outback Steakhouse? Es gibt eines ganz in der Nähe des Krankenhauses.« Sie nannte mir die Adresse, und ich versprach, sie dort um halb sieben zu treffen. Ich staunte nicht schlecht, dass Victoria so gesprächig war. Ihr Interesse, mit mir zu reden, war irgendwie merkwürdig. Aber es stimmte, ich fühlte mich einsam. Es tat gut zu wissen, dass jemand mit mir reden wollte. Iona hatte genau einmal angerufen, um sich nach Tolliver zu erkundigen, aber es war ein kurzes, pflichtschuldiges Gespräch gewesen. Krankenhäuser sind eine Welt für sich, und dieses hier drehte sich unablässig um die eigene Achse. Als ich Tollivers Zimmer betrat, hatte man ihn gerade zu Untersuchungen abgeholt, aber niemand konnte mir sagen, was für Untersuchungen das waren und warum sie gemacht wurden. Ich fühlte mich mutterseelenallein. Nicht einmal der eigentlich ans Krankenhausbett gefesselte Tolliver war da, wo er sein sollte. Mein Handy klingelte, und ich zuckte schuldbewusst zusammen. Ich dürfte es im Krankenhaus gar nicht an haben. Aber ich ging trotzdem dran. »Harper? Alles in Ordnung?« »Manfred! Wie geht es dir?« Ich lächelte. »Ich hatte so das ungute Gefühl, dass du in Schwierigkeiten steckst, und musste anrufen. Störe ich gerade?« »Ich bin froh, dass du dich meldest«, sagte ich, wahrscheinlich begeisterter als ich sollte. »Na dann«, meinte er. »Ich nehme das nächste Flugzeug.« Das war nur halb im Spaß dahingesagt. Manfred Bernardo, ein Hellseher in spe, war drei oder vier Jahre jünger als ich, hatte aber noch nie einen Hehl daraus gemacht, wie attraktiv er mich fand. »Ich fühle mich einsam, weil Tolliver angeschossen wurde«, sagte ich, wobei mir sofort auffiel, wie egoistisch das klang. Nachdem ich Manfred erzählt hatte, was passiert war, wurde er ganz aufgeregt. Er wollte tatsächlich nach Texas kommen, damit ich eine Schulter zum Ausweinen hätte, wie er es nannte. Ich war völlig gerührt, und einen verrückten Moment lang überlegte ich, Ja zu sagen. Es wäre tröstlich, Manfred um mich zu haben – mit seinen Piercings, Tattoos und allem anderen. Erst als ich mir Tollivers Gesicht vorstellte, kam ich wieder davon ab. Bevor wir das Gespräch beendeten, hatte ich Manfred versprochen, anzurufen, »falls sich die Lage verschlechtert«. Das war vage genug, um uns beide zufriedenzustellen. Er hatte mir seinerseits versprochen, sich täglich telefonisch nach mir zu erkundigen, bis Tolliver aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Als ich auflegte, hatte sich meine Laune deutlich gebessert. Sie hob sich noch einmal, als ein Pfleger Tolliver im Rollstuhl hereinschob, kurz nachdem ich mein Handy zugeklappt hatte. Er hatte eine viel bessere Gesichtsfarbe als noch am Vortag, aber ich sah, dass er doch sehr schwach war, weil er so in sich zusammengesunken im Rollstuhl saß. Tolliver musste wieder ins Bett, auch wenn er das nur ungern zugab. Nachdem der Pfleger dafür gesorgt hatte, dass Tolliver bequem lag und alles hatte, was er brauchte, verschwand er mit diesen wippenden, leisen Schritten, die sich Krankenhausangestellte im Rahmen ihres Jobs anzueignen scheinen. Wie mir Tolliver sagte, war sein Schlüsselbein nochmals geröntgt worden. Ein Neurologe sei gekommen, um zu kontrollieren, dass auch wirklich keine Nerven verletzt worden waren. »Hast du schon mit Dr. Spradling gesprochen?«, fragte ich. »Ja, er kam vorher vorbei und meinte, dass es gut aussieht. Ich habe dich schon vor einer Stunde erwartet.« Tolliver hatte völlig vergessen, dass ich noch auf dem Polizeirevier vorbeischauen wollte. Ich erzählte ihm von dem Videoband und beschrieb ihm, wie sich die Frau von Cameron unterschieden hatte. »Das tut mir leid«, sagte er. »Ich habe mir schon gedacht, dass es jemand anderes ist, aber ein bisschen Hoffnung hat man immer.« Genauso war es mir auch gegangen. »Sie war es aber nicht. Ich frage mich nur, warum sie jemand verwechselt hat. Wer hat bitteschön die Polizei verständigt? Wer hat Pete dazu gebracht, sich die Bänder anzusehen? Diese Frau sah Cameron zumindest so ähnlich, dass ich mir auf Petes ausdrücklichen Wunsch hin das Band ansehen sollte. War der anonyme Anrufer jemand, der mit mir und Cameron die Highschool besucht hat? Jemand, der sich aufrichtig getäuscht hat? Oder war es nur irgendein Verrückter, der uns an der Nase herumführen will?« »Und warum ausgerechnet jetzt?«, fragte Tolliver und sah mich an. Aber diese Frage konnte ich ihm auch nicht beantworten. »Ich wüsste nicht, was das mit Rich Joyce und seiner Pflegerin zu tun haben sollte«, sagte ich. »Aber das Timing ist wirklich eigenartig.« Wir wussten nicht, was wir sonst noch zu dieser merkwürdigen Häufung von Vorfällen sagen sollten. Nach einer Weile fand ich Tollivers Kamm in einer Tasche seiner Jeans, die im Schrank hing. Sie war etwas fleckig. Ein neues Hemd brauchte er sowieso. Ich nahm mir vor, frische Sachen mitzubringen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen würde. Als ich begann, seine Haare zu kämmen, merkte ich natürlich, dass sie ungewaschen waren. Ich überlegte, wie ich sie waschen konnte. Mit etwas Fantasie, einer sauberen Bettpfanne, zusätzlichem Verbandsmaterial, das man gebracht hatte, falls seine Schulter nachblutete, und einem kleinen Fläschchen Shampoo vom Krankenhaus gelang es mir schließlich. Ich half ihm auch beim Rasieren und Zähneputzen und wusch ihn mit einem Schwamm, was zu meiner Überraschung in eine ziemlich obszöne Aktion ausartete. Danach war er sehr entspannt, schläfrig und glücklich und meinte, dass er sich schon viel besser fühle. Ich kämmte sein feuchtes, dunkles Haar und küsste ihn auf seine glatte Wange. Er hatte gerade eine seiner bartlosen Phasen. Ich war kaum damit fertig, als eine Schwester hereinkam, um ihn zu baden. Als ich sagte, das wäre bereits erledigt, zuckte sie nur die Achseln. Im Krankenhaus vergeht die Zeit unendlich langsam. Doch bevor ich Tolliver von Victorias Anruf erzählen konnte, schlief er ein. Ich wollte ihn auf keinen Fall wecken, da der überwiegende Teil des Tages noch vor uns lag. Ich machte selbst ein Nickerchen und wurde mühsam wach, als um halb zwölf Tollivers Tablett mit dem Mittagessen gebracht wurde. Noch so eine aufregende Abwechslung. Ich schnitt sein Essen klein – viel gab es da ohnehin nicht zu schneiden – und steckte einen Strohhalm in sein Glas. Er freute sich dermaßen, wieder feste Nahrung zu sich nehmen zu können, statt nur am Tropf zu hängen, dass ihm sogar das Krankenhausessen hochwillkommen war. Als ich mir sicher war, dass er genügend gegessen hatte, rollte ich den Tisch weg und reichte ihm die Fernbedienung für den Fernseher. Es wurde Zeit, dass ich mir selbst etwas zu essen besorgte. »Du musst hier nicht den ganzen Nachmittag herumsitzen«, sagte Tolliver. »Nachdem ich etwas gegessen habe, werde ich den Nachmittag mit dir verbringen«, sagte ich in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. »Um halb sieben treffe ich Victoria zum Abendessen und werde wahrscheinlich nicht noch mal wiederkommen.« »Gut. Ich will nicht, dass du hier den ganzen Tag eingepfercht bist. Du willst bestimmt laufen gehen, den Fitnessraum des Hotels ausprobieren oder so.« Da hatte er nicht ganz unrecht. Ich bin es zwar gewohnt, länger still zu sitzen, ganz einfach, weil wir so oft im Auto unterwegs sind. Aber ich bin es auch gewohnt, jeden Tag zu trainieren, und meine Muskeln waren steif. Ich holte mir einen Salat in einem Fastfoodlokal und genoss das geschäftige Treiben um mich herum. Es fühlte sich komisch an, allein dort zu sein, was mir allerdings gleich weniger ausmachte, als ich sah (und hörte), wie sich am Nebentisch eine Mutter mit drei Vorschulkindern herumplagte. Ob sich Tolliver wohl Kinder wünschte? Ich wollte keine. Ich hatte bereits zwei Babys gehabt, um die ich mich kümmern musste, nämlich meine kleinen Schwestern. Ich hatte keine Lust, das noch einmal zu erleben. Und obwohl ich nicht aus dem Leben meiner Schwestern verbannt werden wollte, wollte ich auch nicht für sie verantwortlich sein. Nicht einmal, als ich sah, wie der kleinste Junge seine Mutter spontan umarmte und küsste, bekam ich Lust, ein fremdes Wesen in meinem Körper zu beherbergen. Musste ich deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Wünschte sich nicht jede Frau ein eigenes Kind, das sie lieben konnte? Nicht unbedingt, dachte ich. Außerdem gibt es wahrhaftig genügend Kinder auf der Welt. Da muss ich nicht auch noch welche kriegen. Tolliver war wach und sah sich ein Basketballspiel an, als ich wieder in sein Zimmer kam. »Mark hat angerufen, während du weg warst«, sagte er. »Oh je, bist du überhaupt ans Telefon gekommen?« »Das war meine große Herausforderung für heute.« »Was wollte er?« »Oh, mir sagen, dass ich meinen Dad verletzt habe. Und dass er es blöd von mir findet, dass ich Dad nicht mit ausgebreiteten Armen im Land der Nüchternen empfange.« Ich kämpfte kurz mit mir und rang mich dann dazu durch, zu sagen, was ich dachte. »Mark hat eine echte Schwäche für deinen Dad, Tolliver. Du weißt, dass ich Mark sehr mag, er ist wirklich ein toller Kerl. Aber das mit Matthew wird er nie begreifen.« »Ja«, sagte Tolliver. »Da hast du recht. Er hing wahnsinnig an Mom, und als sie starb, hat er diese Gefühle auf unseren Dad übertragen.« Tolliver sprach nur selten über seine Mutter. Ihr Krebstod musste eine schreckliche Erfahrung für ihn gewesen sein. »Meiner Meinung nach glaubt Mark, dass Dad im Grunde seines Herzens ein guter Kerl ist«, sagte Tolliver langsam. »Denn sonst hätte er den einzigen Elternteil verloren, den er noch hat. Aber den braucht er.« »Glaubst du, dass dein Dad im Grunde seines Herzens ein guter Kerl ist?« Tolliver dachte lange nach, bevor er antwortete. »Ich hoffe, dass er sich einen guten Kern bewahrt hat«, sagte er. »Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er clean bleiben wird, falls er überhaupt clean ist. Er hat uns diesbezüglich schon so oft belogen. Letztendlich kehrt er immer wieder zu den Drogen zurück. Und wenn es ganz schlimm wird, nimmt er alles, was er kriegen kann. Er muss sehr gelitten haben, dass er so viele Drogen brauchte, um dieses Leid abzutöten. Andererseits hat er uns jedem überlassen, der uns ausnutzen wollte, nur um Drogen nehmen zu können. Nein, ich kann ihm nicht vertrauen«, sagte Tolliver. »Ich hoffe nur, dass ich es niemals tue, denn dann werde ich bloß wieder enttäuscht.« »Genauso ging es mir mit meiner Mutter«, sagte ich verständnisvoll. »Ja, Laurel war wirklich krass«, sagte Tolliver. »Weißt du, dass sie versucht hat, Mark und mich anzumachen?« Mir wurde ganz schlecht. »Nein«, sagte ich heiser. »Ja, so war es. Cameron wusste davon. Sie kam im … äh … entscheidenden Moment ins Zimmer. Mark wäre vor lauter Scham am liebsten im Erdboden versunken, und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.« »Was ist passiert?« Ich empfand eine tiefe, brennende Scham. Ich redete mir ein, nichts damit zu tun zu haben, aber das ist nicht so einfach, wenn man eine Geschichte über seine engsten Verwandten hört, bei der man sich am liebsten übergeben würde. »Na ja, Cameron hat ihre Mutter ins Schlafzimmer geschleift und sie gezwungen, sich etwas anzuziehen«, sagte Tolliver. »Ich glaube nicht, dass Laurel wusste, wo sie war und wen sie da anmachte, Harper, falls dir das etwas hilft. Cameron hat deine Mom mehrmals geohrfeigt.« »Meine Güte!«, sagte ich. Manchmal fehlen einem einfach die Worte. »Wir haben es hinter uns«, sagte Tolliver, wie um sich selbst zu überzeugen. »Ja«, sagte ich. »Und wir haben uns.« »Das kann uns nichts mehr anhaben.« »Nein«, sagte ich. Aber das war gelogen. 9 Das Steakhouse, in dem ich mich mit Victoria Flores traf, war ziemlich voll. Kellner eilten hin und her. Nach der gedämpften Geräuschkulisse im Krankenhaus empfand ich die Atmosphäre als unheimlich lebhaft. Zu meiner Überraschung kam Victoria nicht allein. Drexell Joyce, der Bruder von Lizzie und Kate, saß bei ihr am Tisch. »Hallo, Süße!«, sagte Victoria, stand auf und umarmte mich. Ich war überrascht, aber nicht so sehr, dass ich vor ihr zurückgewichen wäre. Ich wusste gar nicht, dass wir uns so nahestanden. Bestimmt zog sie diese Show bloß für Drexell Joyce ab. Ich hatte mich auf ein gemütliches Abendessen unter Frauen gefreut, die das Aufklären von Geheimnissen zu ihrem Beruf gemacht haben. Und nicht auf irgendwelche Spielchen mit einem Unbekannten. »Mr Joyce«, sagte ich, während ich mich setzte und meine Handtasche unter dem Tisch verstaute. »Oh, bitte nennen Sie mich Drex«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. Er musterte mich mit übertriebener Bewunderung, die ich ihm kein bisschen abnahm. »Wieso sind Sie nicht auf der Ranch?«, fragte ich mit einem hoffentlich entwaffnenden Lächeln. »Meine Schwestern haben mich gebeten, Victoria zu treffen, um zu hören, wie weit sie mit ihren Ermittlungen gekommen ist. Wenn wir eine kleine Tante oder einen kleinen Onkel haben, wollen wir das Baby finden und dafür sorgen, dass es standesgemäß aufwachsen kann«, sagte Drex. »Sie gehen also davon aus, dass Maria Parishs Kind von Ihrem Großvater war?« Ich fand das erstaunlich und machte keinen Hehl daraus. »Ja, genau. Er war alt, das schon, aber er war ein ziemliches Schlitzohr. Mein Granddad hatte schon immer eine Schwäche für Frauen.« »Und Sie glauben, dass sich Maria Parish auf seine Avancen eingelassen hat?« »Nun, er war sehr charismatisch, vielleicht dachte sie auch, ihr Job hinge davon ab. Granddad mochte es gar nicht, wenn man ihm etwas abschlug.« Wie reizend. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, und beschloss, lieber zu schweigen. »Und, wie geht es deinem Bruder?«, fragte Victoria mit aufrichtiger Anteilnahme. Ich war enttäuscht. Ich war mir sicher, dass mich Victoria nicht ohne Hintergedanken hergebeten hatte. Sie war gar nicht an meiner Gesellschaft interessiert. »Es geht ihm schon deutlich besser, danke der Nachfrage«, sagte ich. »Ich hoffe, dass er übermorgen entlassen wird.« »Wohin fahrt ihr als Nächstes?« »Tolliver managt unsere Aufträge. Wenn er wieder fit genug ist, werde ich unseren Terminplan mit ihm durchgehen. Wir hatten ohnehin geplant, eine Woche zu bleiben, um unsere Familie zu besuchen.« »Oh, Sie haben Verwandte hier?« Drex beugte sich neugierig vor. »Ja, unsere beiden kleinen Schwestern leben hier.« »Wer zieht sie groß?« »Meine Tante und ihr Mann.« »Und sie leben hier in der Nähe?« Vielleicht war Drex einfach nur fasziniert von allem, was ich tat, doch ich nahm ihm sein Interesse nicht ab. »Verbringt Ihre Familie viel Zeit in Dallas?«, fragte ich. »Ich habe erst neulich Ihre Schwestern getroffen, und jetzt sind Sie hier. Das ist eine ziemliche Fahrerei.« »Wir haben eine Wohnung hier und eine in Houston«, sagte Drex. »Auf der Ranch sind wir etwa zehn Monate im Jahr, aber ab und zu müssen wir auch mal ein bisschen Stadtluft schnuppern. Nur Chip nicht. Er liebt es, die Ranch zu leiten. Aber Kate und Lizzie sitzen in etwa zehn verschiedenen Vorständen, angefangen von Banken bis hin zu Wohltätigkeitsorganisationen. Und die tagen alle in Dallas.« »Und Sie nicht?«, fragte Victoria. »Engagieren Sie sich nicht für wohltätige Zwecke?« Drex lachte und warf den Kopf in den Nacken. Wahrscheinlich, damit wir sein markantes Kinn aus einer anderen Perspektive bewundern konnten. Ich fragte mich, was er wohl tat, wenn er eines Tages kein so straffes Kinn mehr besäße. Ich weiß aus Erfahrung, dass im Grab niemand mehr gut aussieht. »Die meisten Organisationen, Victoria, sind schlau genug, mich nicht in ihren Vorstand zu holen«, sagte er augenzwinkernd. Einer von den guten alten Millionärssöhnchen. »Ich kann nicht gut stillsitzen, und wenn ich mir die ganzen Reden anhören müsste, würde ich sofort einschlafen.« Wie konnte Victoria diesen Mist bloß ertragen? Sie sah aus, als fände sie dieses Arschloch tatsächlich charmant. »Aber um auf unser Gespräch von vorhin zurückzukommen, Victoria, wie läuft es mit der Suche?«, fragte Drex wie ein Mann, der nach einem Späßchen gezwungen ist, wieder zum geschäftlichen Teil überzugehen. »Ziemlich gut, würde ich sagen«, erwiderte Victoria, und ich wurde sofort hellhörig. Victoria klang ruhig und kompetent und mehr als nur ein bisschen vorsichtig. »Ich stelle gerade Mariahs vollständige Biografie zusammen, was schwieriger ist, als ich dachte. Was haben Sie denn für Erkundigungen über sie eingezogen, bevor sie als Pflegerin für Ihren Großvater engagiert wurde?« »Ich glaube nicht, dass Lizzie irgendwelche Erkundigungen eingezogen hat«, sagte Drex aufrichtig überrascht. »Ich glaube, mein Großvater hat sie eingestellt. Als wir davon erfuhren, lebte Mariah längst im Haus.« »Aber Sie hatten überlegt, eine Pflegerin für ihn zu engagieren?«, fragte Victoria. »Er brauchte jemanden, der mehr war als nur eine Haushälterin, aber weniger als eine Krankenschwester«, sagte Drex. »Er brauchte eine Hilfe. Im Grunde war sie so etwas wie ein Kindermädchen. Sie achtete darauf, dass er sich gesund ernährte, und versuchte, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren. Aber er wäre ausgeflippt, wenn wir sie so genannt hätten. Sie hat ihm auch täglich den Blutdruck gemessen.« Victoria hakte nach. »War Mariah eine ausgebildete Krankenschwester?« »Nein, nein. Ich glaube nicht, dass sie irgendeine Ausbildung hatte. Sie sollte darauf achten, dass er seine Medikamente nahm, ihn an seine Verabredungen erinnern, ihn fahren, wenn es ihm nicht gut ging, und den Arzt rufen, wenn ihr irgendwelche Warnsignale auffielen, die man ihr aufgeschrieben hatte. Sie war eine Art menschliche Alarmanlage oder sollte es zumindest sein.« Ich tauschte einen kurzen Blick mit Victoria. Ich war also nicht die Einzige, die so etwas wie Ablehnung aus Drex’ Monolog heraushörte. Inzwischen war ich längst nicht mehr davon überzeugt, dass sich Victoria für Drex interessierte. Victoria spielte ein raffinierteres Spiel, als ich es mir je hätte ausdenken und umsetzen können. »Sie selbst sah sich jedoch in einer etwas anderen Rolle?«, fragte ich. »Und ob! Sie sah sich wahrscheinlich als eine Art Wachhund«, sagte Drex. Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier und sah sich nach der Bedienung um. Dabei hatten wir erst vor wenigen Minuten bestellt. »Warum ist Ihre Familie für ihre Beerdigung aufgekommen und hat sie in der Familiengruft bestattet?«, fragte ich. Das hatte ich mich bereits mehrmals gefragt. »Was war mit ihren Verwandten?« »Nach ihrem Tod haben wir ihre Sachen durchgesehen und konnten keinerlei Namen oder Adressen finden«, sagte Drex. »Lizzie wollte wissen, was sie von ihrer Familie erzählt hätte, woher sie käme, aber niemand wusste irgendwas. Wir haben Chip gefragt, aber keiner seiner Leute konnte sich auch nur an das Geringste erinnern.« »Was war mit ihrer Versicherungsnummer? Als ihr Arbeitgeber musste Ihr Großvater die doch haben.« »Er hat sie schwarz bezahlt.« Ich staunte, dass ein Mann mit so viel Geld wie Richard Joyce so etwas tat. Die Joyces mussten doch genug Steuerberater und Geschäftspartner haben, die sich förmlich darum rissen, ihnen zu Diensten zu sein. Drex sagte: »Als Lizzie Mariah kennenlernte, sagte sie Granddad, dass Mariah nichts tauge. Granddad wollte, dass sie blieb, obwohl er wusste, dass wir nicht sonderlich viel von ihr hielten. Er war nicht scharf darauf, sich nach einer anderen Lösung umzusehen, nur um Mariah anschließend zu feuern.« Er klang defensiv, und ich verstand sehr gut, warum. Ich wechselte einen vielsagenden Blick mit Victoria. »Ihr Großvater hat also eine Frau eingestellt, die er nicht kannte, die er schwarzarbeiten ließ und von der er keinerlei Referenzen besaß. Er ließ sie sogar in seinem Haus wohnen.« Verständlich, dass ich ungläubig klang. »Sagten Sie nicht, dass Sie Chip gebeten hätten, nach Mariahs Tod mit seiner Familie zu sprechen?« Ich hörte es donnern und sah zum Fenster, gegen das der Regen schlug. »Ja, sie kannten sie. Es war Chip, der meinem Großvater Mariah als Hilfe vorschlug.« Eine lange Pause entstand, in der sich Drex erneut nach der Bedienung umsah und Victoria und ich unseren eigenen Gedanken nachhingen. Keine Ahnung, was Victoria durch den Kopf ging, aber ich für meinen Teil konnte nur hoffen, dass sich meine Familie besser um mich kümmern würde, als es die Joyces bei ihrem Patriarchen getan hatten. »Wie lange ist Lizzie schon mit Chip zusammen?«, fragte Victoria im Plauderton, als schnitte sie ein völlig neues Thema an. »Oh, bestimmt schon seit Jahren. Sie kennen sich natürlich schon ewig von der Ranch. Und vom Rodeoreiten. Nach ein paar Jahren und nach Chips Scheidung hat es Klick! gemacht. Er nahm an einem Rodeo in Amarillo teil, fing ein Kalb mit dem Lasso ein. Und sie startete beim Tonnenrennen. Sie hatte Probleme mit ihrer Anhängerkupplung, und er hat ihr geholfen.« »Hatte Mariah bereits für Chips Familie gearbeitet?« »Sie waren Pflegekinder in derselben Familie, und als sie auszog, empfahl Chip sie einem entfernten Cousin. Arthur Peaden, wenn ich mich nicht täusche. Der Cousin starb um den Zeitraum herum, in dem die Ärzte zu Granddad sagten, dass er eine Pflegerin brauche. Chip schlug sie vor, schickte sie her, und mein Großvater mochte sie. Nachdem wir uns von der Überraschung erholt hatten, waren wir mehr oder weniger erleichtert, dass wir keine Vorstellungsgespräche führen mussten. Und Großvater hatte jemanden mit der notwendigen Erfahrung, der keinen Kittel trug und ihn herumkommandierte. Sie sah gut aus, und sie war immer gut gelaunt. Sie war auch eine großartige Köchin.« Drex bekam sein frisches Bier, und Victoria stellte ihm einige Fragen, die ihn aus der Reserve locken sollten. Drex war nicht besonders helle, und Victoria war eine kluge Frau. Ich brauchte nur dazusitzen und zuzuhören, um mir ein Bild von Drex’ Leben machen zu können. Sein Dad war wahrscheinlich enttäuscht gewesen, dass sein einziger Sohn nicht das Zeug dazu hatte, sein Nachfolger zu werden. Aber Lizzie war nun mal nicht nur die Älteste, sondern auch die Intelligenteste. Katie, das mittlere Kind, war die Wildeste von den Geschwistern, zumindest aus Drex’ Sicht. Ich war erleichtert, dass unser Essen kam. Ich war keine Detektivin, und ich wurde nicht dafür bezahlt, mir lange Geschichten über die Joyce-Familie anzuhören. Als ich satt war, langweilte mich Drex Joyce zu Tode, und ich war alles andere als erfreut, Victoria helfen zu müssen, diesen Deppen auszuhorchen. Obwohl mich ihre Taktik nervte, konnte ich durchaus verstehen, dass Victoria auf die Idee gekommen war, Drex mitzubringen. So konnten wir uns abwechseln, ohne dass er merkte, auf was unsere Fragen abzielten. Auf diese Weise würde er uns wahrscheinlich mehr erzählen als er wollte. Mir fielen auch ein paar Fragen ein, an die Victoria nicht gedacht hatte. Anscheinend hatte Victoria Drex die Wahl zwischen zwei attraktiven Frauen lassen wollen, und ich war erleichtert, dass Drex mehr auf Victoria zu stehen schien. Es bereitete mir ein teuflisches Vergnügen, mich noch vor dem Dessert oder Kaffee zu verabschieden. Victoria war vorübergehend bestürzt, sagte dann aber, dass wir am nächsten Tag telefonieren würden. Ich dachte: Nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann. Ich mag es nicht, ausgenutzt zu werden, und ich war mir sicher, dass Victoria mich nur zu Recherchezwecken eingeladen hatte. Dabei hätte sie mir gegenüber ruhig aufrichtig sein können. Ich verstand nicht, warum sie auf so eine List zurückgegriffen hatte. Wenn die Familie Joyce ihr den Auftrag erteilt hatte, würde sie doch mit ihr zusammenarbeiten. Warum besaß Victoria diese Informationen nicht schon längst? Verärgert fuhr ich ins Hotel zurück. Da es aufgehört hatte zu regnen, hatte ich Lust auf etwas Bewegung. Ich gehe nur ungern nachts joggen, aber ich brauchte dringend eine körperliche Herausforderung. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, die Gegend zu erkunden, aber einen Block hinter dem Hotel hatte ich eine große Highschool entdeckt. Vielleicht konnte ich ihre Aschenbahn benutzen, wenn das Tor offen war. Wenn nicht, gab es gegenüber der Schule einen großen Busbahnhof. Zu meiner Überraschung saß Parker Powers, der Ex-Footballer, in der Lobby meines Hotels. »Warten Sie auf mich?«, fragte ich und ging auf ihn zu. »Ja. Können wir reden?« Er musterte mich durchdringend. »Was wollen Sie wissen?« »Ich wollte Ihnen noch ein paar Fragen zu Ihrem Bruder stellen. Gestern Abend gab es ein paar Blocks weiter ein Drive-by-Shooting, und wir versuchen herauszufinden, ob der Schuss auf Ihren Bruder etwas damit zu tun hatte. Wie ich höre, geht es ihm besser.« Wenn er das nicht gesagt hätte, hätte ich nicht angebissen. Ich hatte dieses Leuchten in seinen Augen gesehen. Aber wenn er in Tollivers Fall ernsthaft ermittelte, wollte ich ihm helfen. Ich wollte wissen, wer auf meinen Bruder geschossen hatte. Trotzdem hatte ich nicht vor, dieses Thema in der Lobby weiter zu vertiefen. Und bei diesem Leuchten in seinen Augen würde ich ihn auch nicht auf mein Zimmer bitten. »Ich wollte gerade laufen gehen«, sagte ich. »Begleiten Sie mich?« »Klar«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ich habe Laufschuhe im Wagen. Sie sollten sich lieber nicht allein hinauswagen, wenn es jemand auf ihren Bruder abgesehen hat. Wir wissen immer noch nicht, warum auf ihn geschossen wurde. Vielleicht hat es was mit dem Drive-by-Shooting zu tun, vielleicht aber auch nicht.« »Ich bin in zehn Minuten zurück«, sagte ich und ging nach oben auf mein Zimmer. Ich besaß ein Schlüsselband mit einer rechteckigen Plastikhülle, in die ich meine Hotel-Schlüsselkarte und den Führerschein steckte. Ich zog meine Trainingshose, ein T-Shirt und meine Laufschuhe an und war fertig. Dann steckte ich das Plastikrechteck unter mein T-Shirt und hüpfte ein paarmal auf und ab, um zu überprüfen, ob alles sicher verstaut war. Ich steckte mein Handy in die Hosentasche, zog den Reißverschluss zu und ging hinunter in die Lobby. Parker wartete schon auf mich. Er trug alte Shorts und ein ausgeleiertes Sweatshirt. Ich nickte ihm zu, und wir gingen hinaus auf den Parkplatz und machten Dehnübungen. Ich hatte den Verdacht, dass Parker schon länger nicht mehr trainiert hatte. Anscheinend waren die Shorts und das Sweatshirt seine Klamotten fürs Fitnesscenter, denn ich konnte das Spiel seiner Muskeln sehen, obwohl er einen leichten Bauchansatz hatte. Ich merkte, dass ihn das Training nicht gerade begeisterte, aber er genoss es, mich zu beobachten. »Fertig?«, fragte ich, und er nickte verbissen. Er machte eher den Eindruck, als wartete die Guillotine auf ihn statt eine angenehme abendliche Joggingrunde. Und schon ging es los, den Bürgersteig hinunter und an mehreren Häuserblöcken vorbei. Es folgten weitere Häuserblöcke und das Highschoolgelände. Die Straßenbeleuchtung war ausgezeichnet, und alle schienen zu Hause zu sitzen. Es war kühl, und überall standen noch Pfützen vom vorherigen Regenguss. In regelmäßigen Abständen fuhren Autos vorbei, einige schneller als erlaubt, andere extrem langsam. Aber da es einen Bürgersteig gab, war das keinerlei Problem. Ich fragte mich, ob einige Fahrer meinen Laufpartner erkannten. Die frische Luft tat mir gut. Ich lief in einem gemächlichen Tempo, genoss die Dehnung in den Beinen und meinen erhöhten Puls. Die Aschenbahn der Highschool war von einem hohen Zaun umgeben, das Tor war natürlich verschlossen. Ich führte meinen Laufpartner über die Straße auf den großen Parkplatz voller Schulbusse. Parker hielt mit mir Schritt. Ich warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu und sah, dass er selbstzufrieden lächelte. Ich beschleunigte mein Tempo, und das Lächeln verblasste schnell. Nachdem wir eine Weile richtig gelaufen waren, rang Parker nach Luft. Das Einzige, was ihn noch antrieb, war sein Stolz. Aber auf dem nächsten Kilometer verließ ihn auch der. Es gab drei Reihen mit Bussen, und wir waren von der Straße bis ans Ende der ersten Reihe gelaufen und dann auf der anderen Seite wieder zurück. Jetzt umrundeten wir gerade die zweite Reihe, um wieder bis ans Ende zu laufen. Ich war so richtig in Schwung und fühlte mich prima, aber Parker blieb stehen und stützte sich schwer atmend auf die Oberschenkel. Ich lief auf der Stelle weiter. Er gab mir ein Zeichen, dass ich weiterlaufen sollte. »Bleiben Sie in Sichtweite«, sagte er, wobei er jedes Wort einzeln hervorstieß. Ich winkte ihm zu und lief weiter. Ich lief nur halb so gut wie mein Bruder, aber an jenem Abend fühlte ich mich, verglichen mit Parker, leicht wie eine Feder. Ich musterte die stumme Reihe Busse, roch die Pfützen und den Asphalt, den der Abendregen gereinigt hatte. Ich blickte kurz über die Schulter und merkte, dass mir Parker in einem ordentlichen Tempo folgte. Doch so langsam verließ ich den Bereich, der sich noch in seiner Sichtweite befand. Mit leichtem Bedauern umrundete ich die letzte Reihe Busse nicht, sondern machte kehrt und nahm die Strecke, die ich gekommen war. Hinter den Bussen musste noch eine andere Straße verlaufen, denn ich hörte aus dieser Richtung ein langsam fahrendes Auto. In diesem Moment folgten mir Autoscheinwerfer, die Parkers Gesicht erhellten und meinen langen Schatten vor mir auf den Asphalt warfen. Angst stieg in mir auf, und ich wurde langsamer, weil ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Das Geräusch hinter mir stammte eindeutig von einem Motor im Leerlauf … aber es kam näher. Der Detective war zwar geblendet, steigerte aber sein Tempo und rannte auf mich zu. Als er näher kam, griff er unter sein Sweatshirt und zog eine Waffe. Ich begriff nicht gleich und glaubte, er würde auf mich schießen. Ich zögerte. Das Motorengeräusch kam näher. »Laufen Sie!«, brüllte er mich an. Ich verstand rein gar nichts, wurde aber immer schneller. Meine Arme sausten durch die Luft, wie um Schwung zu holen. Als ich ihn erreicht hatte, stieß mich Parker zwischen zwei Busse und wirbelte mit seiner schussbereiten Waffe zu dem herankommenden Wagen herum. Der Wagen brach zur Seite aus, wahrscheinlich, weil der Fahrer die auf ihn gerichtete Waffe bemerkte. Dann beschleunigte er mit quietschenden Reifen, schlingerte vom Parkplatz und brauste davon. »Was war denn das?«, sagte ich. »Was war das?« Ich sprang zwischen den Bussen hervor, um meinem Retter gegenüberzutreten, und breitete die Arme aus. »Was war das?«, schrie ich. »Eine Morddrohung«, sagte er, und sein Atem ging immer noch unregelmäßig. »Wir haben heute eine Morddrohung gegen Sie erhalten. Ich wollte nicht, dass sie allein laufen. Sie hätten ein leichtes Ziel abgegeben.« »Warum haben Sie mir nichts davon erzählt? Deshalb haben Sie eingewilligt, mit mir laufen zu gehen!« »Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie eine solche Gesundheitsfanatikerin sind«, sagte er unsportlicherweise. »Ich wollte Sie nur warnen, Ihnen von dem Drive-by-Shooting erzählen.« »Also statt …«, stammelte ich. Dann schloss ich die Augen, riss mich zusammen und richtete mich auf. »Wissen Sie, von wem diese Morddrohung stammt?« »Nein, es war eine Männerstimme. Der Typ sagte, Sie wären des Teufels und so. Dass Sie in Texas nichts zu suchen hätten und er sich schon darum kümmern würde, wenn er Sie das nächste Mal sähe. Er hat auch Ihr neues Hotel genannt.« Das mit dem Anruf traf mich auch so schon ziemlich unvorbereitet, aber als Parker dann noch erwähnte, dass der Anrufer den Namen meines Hotels kannte, war ich wirklich beunruhigt. Ich wusste, dass ich die Sache ernst nehmen musste. »Glauben Sie, er saß in dem Auto? Oder haben Sie nur ein paar Teenagern, die da hinten parkten, eine Heidenangst eingejagt?« Meine Beinmuskulatur verhärtete sich, also wippte ich sanft auf den Fußballen und beugte mich dann zu meinen Zehen. »Keine Ahnung«, sagte Parker düster. »Allerdings konnte ich einen Teil des Kennzeichens erkennen und werde es durch den Computer laufen lassen.« Plötzlich wurde mir klar, dass sich dieser Mann vor mich gestellt hatte, als er dachte, jemand würde auf mich schießen. Dieser unglaubliche Akt traf mich wie ein Schuss. »Danke«, sagte ich. Plötzlich zitterten mir die Knie. »Danke, dass Sie das getan haben.« »Das ist unsere Pflicht«, sagte er. »Es ist unsere Aufgabe, andere zu schützen. Zum Glück musste ich es damit nicht übertreiben, sonst hätte ich noch einen Herzinfarkt bekommen.« Er grinste, und ich freute mich zu sehen, dass er nicht mehr schwer atmete. »Wir sollten lieber umkehren. Das war wirklich ein unangenehmer Zwischenfall.« Ich wollte ihn nicht verletzen, was ziemlich absurd war. »Nein, ich glaube, die sind weg.« Er wirkte erleichtert. »Lassen Sie uns zurück zum Hotel gehen.« Er steckte seine Waffe ins Halfter. Ich wusste, dass ich den Polizisten nicht mehr zum Laufen bringen konnte. Zumindest legten wir ein flottes Marschtempo vor, als wir den Busparkplatz verließen und an der Highschool vorbeikamen. Dann befanden wir uns im Wohnviertel, wo es kaum noch Verkehr gab. Alle waren längst von der Arbeit zurückgekehrt, und niemand hatte vor, heute noch auszugehen. Die Temperatur war ein wenig gefallen, und ich begann zu frösteln. Wir hatten noch drei Blocks vor uns. Wir gingen durch eine Siedlung mit liebevoll gepflegten Vorgärten. Selbst im Winter gab es hier noch Bäume mit Blättern, Büsche und Kies, die die kleinen Vorgärten schmückten. Parker Powers stellte mir Fragen, die mich ablenken sollten. Unzusammenhängende Fragen darüber, wie lange ich schon joggte, wie lange pro Tag, ob mein Bruder auch joggte … Als mir gerade auffiel, dass der Schatten hinter einem der Bäume höchst menschliche Züge hatte, setzte er sich auch schon in Bewegung. Ein Mann trat hinter dem Baum hervor, und eine Waffe glänzte im Laternenlicht. Parker Powers machte einen Satz auf mich zu und stieß mich aus der Schusslinie. Der Schütze zielte direkt auf ihn und traf ihn in die Brust. Schreien wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Mein einziger Vorteil war meine Kondition, also sprang ich auf den winzigen Rasenstreifen und sauste davon wie ein Kaninchen auf Speed. Ich hörte Schritte hinter mir, sogar auf dem Gras, und versuchte, hinter das nächste Haus zu kommen. In dem Moment sah ich, dass der Garten umzäunt war. Es war kein hoher Zaun, eher eine Art Grenzmarkierung. Ich sprang darüber, landete sicher, raste dann über den toten Rasen und übersprang den Zaun auf der anderen Seite. Erst später fiel mir ein, über was ich alles hätte stolpern und mir das Bein brechen können. Ich fand mich im nächsten Garten wieder und konnte die nächste Straße gut erkennen. Nur eine Straßenseite war bebaut. Die andere war baumbestanden, und hinter den Bäumen ging es steil bergab, soweit ich das bei der Beleuchtung erkennen konnte. Ich begann in Richtung Hotel zu rennen, und zwar so schnell ich konnte. Hier hinten war es deutlich dunkler. Ich hatte Angst, zu stürzen. Angst, erschossen zu werden. Angst, dass der Detective tot war. Ich wusste, dass ich in die richtige Richtung lief, konnte das Hotel aber nicht sehen, weil die Straße eine Biegung machte. Ich hätte fast an eine Tür geklopft. Doch als mir einfiel, welche Gefahr das für die Bewohner des Hauses bedeutet hätte, rannte ich weiter. Ich glaubte, ein lautes Geräusch vor mir zu hören, also sprang ich zur Seite und ging hinter einem in der Auffahrt parkenden Wagen in Deckung. Einen Moment lang verharrte ich regungslos und lauschte, obwohl mein Herz so laut schlug, dass ich kaum wahrnahm, was außerhalb meines Körpers vorging. Ich machte den Reißverschluss meiner Hosentasche auf, zog das Handy hervor und klappte es auf. Ich hielt schützend die Hand davor, um das Licht abzuschirmen. Ich wählte den Notruf, und eine Frauenstimme antwortete. »Ich verstecke mich in der Auffahrt eines Hauses hinter dem Holiday Inn Express«, sagte ich so leise wie möglich. »Detective Parker Powers wurde angeschossen. Er liegt auf der Jacaranda Street. Der Schütze verfolgt mich. Beeilen Sie sich, bitte.« »Ma’am? Sagten Sie, ein Officer wurde angeschossen? Sind Sie verletzt?« »Ja, Detective Powers«, sagte ich. »Ich bin noch unverletzt. Ich muss jetzt auflegen.« Ich konnte nicht telefonieren, ich musste lauschen. Jetzt, wo sich meine Atmung beruhigt hatte, war ich mir ziemlich sicher, jemand anders atmen zu hören. Jemand, der leise durch die Vorgärten schlich. Jemand, der nicht hier draußen sein sollte. Merkten die Leute denn nicht, was um sie herum vorging? Wo waren all die bewaffneten Hausbesitzer, wenn man sie brauchte? Ich wusste nicht, ob ich losrennen oder in meinem Versteck bleiben und hoffen sollte, dass er mich nicht fand. Die Anspannung war schier unerträglich. In der Hocke neben dem Auto zu warten, war mit das Schwierigste, was ich je getan hatte. Ich wusste nicht einmal, ob diese ruhige Straße eine Sackgasse war. Vielleicht endete sie gleich hinter der leichten Biegung. Dann müsste ich mich durch die Gärten zurückschleichen, um wieder auf die Jacaranda Street und zurück zum Hotel zu kommen. Es könnte Zäune geben, Hunde … Ich hörte einen bellen, der nach einem ziemlich großen Tier klang. Die Schritte, leise Schritte, kamen ein wenig näher und blieben dann stehen. Konnte er mich sehen? Würde er mich in der nächsten Minute erschießen? Dann hörte ich die Polizeisirenen. Gott segne die Polizei, ihre Suchscheinwerfer, ihre Sirenen und Waffen! Der Schatten, der sich fast an mich herangeschlichen hatte, zog sich rasch zurück. Dann ließ der Schütze jede Vorsicht fahren und rannte die Straße in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Ich versuchte aufzustehen, aber das ging nicht. Meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Ich sah den Lichtkegel einer riesigen Taschenlampe auf mich zukommen, dann tanzte er über mir und kehrte zurück, um mich zu blenden. »Legen Sie sich mit ausgestreckten Armen hin«, sagte eine Frauenstimme. »Gut«, sagte ich. »Wird gemacht.« Im Moment erschien mir das besser, als aufzustehen. 10 Irgendwann kehrte ich ins Krankenhaus zurück und verbrachte die Nacht bei Tolliver. Ich wollte einfach nicht allein sein und fühlte mich in seiner Nähe sicherer, obwohl er angeschossen worden war. Detective Powers lebte noch. Ich war sehr froh, das zu hören, und sehr dankbar, dass sein Mut noch in diesem und nicht erst im nächsten Leben belohnt wurde. Ich hatte Gesprächsfetzen der Cops mitbekommen, die mich mehr oder weniger behandelten, als wäre ich gar nicht da. »Powers wird bestimmt durchkommen«, sagte die Polizistin, die mich irgendwann hatte aufstehen lassen. »Den bringt so schnell nichts um.« »Nach all dem Footballtraining!«, bemerkte einer der Sanitäter, die man gerufen hatte, um mich zu untersuchen. Er ließ sich Zeit beim Zusammenpacken, nachdem er festgestellt hatte, dass es mir ganz gut ging. »Ja, aber die vielen Kopfstöße haben ihm nicht gutgetan«, sagte ein Officer, ein junger Kerl mit kahl rasiertem Schädel. »Powers hat eine Saison zu lange gespielt.« »Hey, etwas mehr Respekt, Detective!«, sagte der ältere Sanitäter. »Er ist für uns das perfekte Aushängeschild.« Dem entnahm ich, dass Detective Powers seit seiner Einstellung ein beliebter Ansprechpartner gewesen war, was sicherlich auch zu seiner Beförderung zum Detective geführt hatte. Die Leute waren so begeistert, von einem ehemaligen Footballstar verhört zu werden, dass sie ihm mehr erzählten, als ihnen lieb war, nur um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er wurde also weniger wegen seiner Intelligenz oder seiner sonstigen Fähigkeiten geschätzt, sondern weil er prominent und stets bereit war, das Rampenlicht zu teilen. Außerdem hielt man ihn für einen wirklich netten Kerl. Es war mir ein Vergnügen, seinem Team zu erzählen, wie tapfer er gewesen war, und ein ebensolches Vergnügen, zu sehen, wie stolz man darauf war. Dass man es für ziemlich dämlich hielt, dass er mit mir laufen gegangen war, geriet dabei etwas in Vergessenheit. Ich hatte ein paar Blutspritzer im Gesicht und ging auf mein Hotelzimmer, um sie abzuschrubben. Die Polizistin, Kerri Sauer, begleitete mich und bot mir an, mich zum God’s Mercy Hospital zu bringen – ein Angebot, das ich gern annahm. »Haben Sie Parker jemals spielen sehen?«, fragte sie, während sie zusah, wie ich das Blut mit einem Waschlappen entfernte. »Nein«, antwortete ich. »Und Sie? Sie müssen damals noch ein Kind gewesen sein.« »Ja. Er war fantastisch. Dass er verletzt wurde, war einfach furchtbar für unsere Mannschaft. Er hat sich für schwer erziehbare Kinder engagiert und tut es immer noch. Er ist ein toller Typ. Sie haben uns bei Ihrem Anruf sofort gesagt, wo wir ihn finden können. Das hat ihm das Leben gerettet. Er hat gute Chancen, durchzukommen.« Ich hielt es für wenig produktiv darauf hinzuweisen, dass wahrscheinlich nie auf Powers geschossen worden wäre, wenn er mich nicht begleitet hätte. Ich nickte und vergrub mein Gesicht im Handtuch, damit sie es nicht sehen konnte. Nachdem ich vor dem Krankenhaus geparkt und es betreten hatte, winkte ich dem Streifenwagen zu, der sich wieder in den Verkehr einfädelte. Mir kam eine verrückte Idee: Falls ich kein Geld mehr mit dem Finden von Leichen verdienen konnte, könnte ich vielleicht Polizistin werden. Ich fragte mich, ob ich die körperliche Tauglichkeitsprüfung bestehen würde. Normalerweise funktioniert mein rechtes Bein, aber ab und zu fängt es an zu zucken. Außerdem bekomme ich oft Migräne. Insofern war eine Polizeikarriere wenig wahrscheinlich. Ich schüttelte den Kopf und sah, wie sich die Bewegung in den glänzenden Wänden der Liftkabine spiegelte. Was für ein Blödsinn!, dachte ich Ich schlich über den Flur und öffnete vorsichtig Tollivers Tür. In seinem Zimmer war es dunkel, obwohl das Licht im Bad brannte und die Tür einen Spalt aufstand. »Harper?«, sagte er verschlafen. »Ja, ich bin’s. Ich habe dich vermisst«, sagte ich leise. »Komm her.« Ich lief zum Bett, ging in die Hocke und zog mir die Schuhe aus. »Ich werde auf dem Stuhl schlafen«, flüsterte ich. »Lass dich nicht stören.« »Klettere zu mir ins Bett, auf meiner gesunden Seite.« »Bist du sicher, dass das bequem für dich ist? Dieses Bett ist verdammt schmal.« »Ja. Ich liege lieber dicht neben dir, als mich hier allein auszubreiten.« Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen, und unterdrückte das dazugehörige Schluchzen. »Was ist?« Nachdem ich zu ihm ins Bett gekrabbelt war, legte er seinen gesunden Arm um mich. Ich drehte mich auf die Seite, damit er genügend Platz hatte. »Nichts, worüber wir jetzt reden müssten«, sagte ich. »Schlaf weiter. Ich wollte bloß nicht allein sein.« »Ich auch nicht«, sagte er und schlief wieder ein. Nach wenigen Minuten tat ich es ihm gleich. Die Schwester, die um halb sechs Uhr morgens hereinkam, war ziemlich überrascht, mich bei Tolliver im Bett vorzufinden. Aber als sie sah, dass wir beide angezogen waren, und sie davon ausgehen konnte, dass Tolliver nichts getan hatte, was den Heilungsprozess seiner Schulter beeinträchtigte, entspannte sie sich. Bei Tageslicht betrachtet sah Tolliver schon deutlich besser aus. Seine Nähe hatte mir gutgetan, ich fühlte mich gestärkt. Nachdem man ihn gebadet und rasiert und er sein Frühstück gegessen hatte, erzählte ich ihm, was am Vorabend passiert war. Sofort sagte er: »Ich muss hier raus!«, setzte sich auf und wollte schon aus dem Bett springen. »Nein, das tust du nicht!«, sagte ich scharf. »Du bleibst brav hier, wo dir niemand etwas tun kann, bis dir der Arzt erlaubt, zu gehen.« Tolliver sagte: »Du bist in Gefahr, mein Schatz. Wir müssen einen sicheren Ort für dich finden.« Zum Glück wollte er das Krankenhaus doch nicht mehr verlassen, denn die Bewegung hatte ausgereicht, dass ihm der kalte Schweiß ausgebrochen war. »Von mir aus gern«, sagte ich. »Ich wüsste nur nicht, wo das sein sollte.« »Du könntest abreisen«, sagte er etwas impulsiv. »Und nach St. Louis in unsere Wohnung zurückkehren.« »Und dich hier allein lassen? Vergiss es.« »Du könntest das Land verlassen.« »Quatsch! Ich gebe kein Geld für einen Flug nach Europa oder sonst wohin aus, bloß weil hier jemand in meiner Anwesenheit auf Männer schießt.« »Du hast eine Morddrohung erhalten«, sagte Tolliver, als wäre ich schwer von Begriff oder taub. »Ich weiß«, sagte ich und äffte seinen Tonfall nach. Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Im Ernst, Tolliver, ich glaube, jemand will mir bloß Angst einjagen. Erst wirst du angeschossen und dann der arme Detective Powers. Dabei hätte mich der Schütze längst treffen können, wenn er es unbedingt gewollt hätte. Ich glaube nicht, dass ich beide Male einfach nur Glück hatte. Wahrscheinlich will mich der Schütze bloß in Panik versetzen.« »Dass dich jemand in Panik versetzen will, gefällt mir genauso wenig wie die Vorstellung, dass dich jemand töten will«, sagte Tolliver und zeigte auf sein Krankenhausbett. »Stimmt.« Eine ausweglose Situation. Dr. Spradling kam und stellte Tolliver die üblichen Fragen. Tolliver war eindeutig außer Gefahr, und der Arzt sprach schon von Entlassung, vorausgesetzt, Tolliver bekäme zu Hause die entsprechende Pflege. Ich hob die Hand, zum Zeichen, dass ich mich um ihn kümmern würde. »Ist er reisefähig?«, fragte ich. »Mit dem Auto?« »Ja.« »Ich würde eher davon abraten. Er sollte noch mindestens zwei Tage im Bett bleiben, bevor Sie auf Reisen gehen. Ich überlege, ihn an eine Antibiotika-Infusion zu hängen, aber wenn Sie mir versprechen, meine Anweisungen akkurat zu befolgen und ihm Ruhe gönnen, verschreibe ich ihm Antibiotikatabletten und entlasse ihn morgen.« »Gut«, sagte ich. »Versprochen.« »Wenn sich sein Zustand bessert und er kein Fieber bekommt, darf er morgen raus.« Ich freute mich, das zu hören. Auch Tolliver wirkte erleichtert. Als der Arzt gegangen war, sagte ich: »Ich sollte lieber ins Hotel zurückgehen, duschen und etwas essen.« »Kannst du nicht warten, bis Mark von der Arbeit kommt? Er könnte dich begleiten.« »Ich werde allein gehen. Ich kann mich nicht die ganze Zeit einschließen, Tolliver. Ich muss raus und ein paar Dinge erledigen.« Ich wollte nicht, dass auch noch auf Mark geschossen wurde. »Wer, glaubst du, steckt dahinter?« »Ich weiß, das klingt lächerlich, aber ich frage mich, ob es jemand ist, der über meine Webseite auf mich gestoßen ist. Ein Verrückter, der mich mit keinem anderen Mann sehen will. Vielleicht ist es auch bloß Zufall, dass ich beide Male in männlicher Gesellschaft war. Vielleicht ist der Kerl ein katastrophaler Schütze und hat doch auf mich gezielt. Vielleicht will mir auch nur jemand Angst einjagen und sehen, wie ich darauf reagiere.« »Warum ausgerechnet jetzt? Es muss doch einen Grund geben.« »Keine Ahnung«, sagte ich ungeduldig. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht findet die Polizei etwas heraus. Da einer ihrer Leute angeschossen wurde, dürfte das die Motivation, den Bösewicht zu finden, deutlich erhöhen. Sie haben mich weiß Gott oft genug gefragt, was ich in den letzten Tagen getan habe, und zwar immer wieder aufs Neue. Außerdem habe ich noch etwas zu erledigen – ich muss den Detective besuchen, der angeschossen wurde.« Tolliver nickte. Er wandte den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen. Es war ein kalter, wolkenloser Tag mit einem so knallblauen Himmel, dass er einen fast blendete. Ein schmerzlich schöner Tag. Und wir saßen hier im Krankenhaus und stritten uns. Ich trat an sein Bett und nahm seine Hand. Er reagierte nicht auf meine Berührung. »Ich muss duschen und etwas essen. Und ich muss den Detective besuchen«, sagte ich. »Danach komme ich zurück. Wenn ich in Bewegung bleibe, wird mir nichts passieren. Niemand kann mich rund um die Uhr verfolgen.« Ich hasse es, andere zu beschwatzen, aber es ging nicht anders. »Ich muss hier raus«, sagte er. »Ja, und das darfst du auch bald. Du hast ja gehört, was der Arzt gesagt hat. Mach bitte keinen Unsinn und fall hin oder so was, verstanden?« Es klopfte an der Tür, und als wir uns umsahen, kam ein kleiner Mann herein. Er sah ungewöhnlich aus, denn er war ganz in Schwarz gekleidet, hatte platinblonde Gelstacheln und Piercings in Braue, Nase und Zunge (wie ich aus Erfahrung wusste). Er war jünger als ich, ungefähr einundzwanzig, intelligent und auf eine schräge Art gut aussehend. »Hallo, Manfred«, sagte Tolliver. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber ich freue mich, dich zu sehen.« 11 Manfred schien ein wenig beleidigt zu sein, weil ich mich gegen sein Angebot, mich zu begleiten, zunächst gesträubt hatte. »Kann ich mich nicht irgendwie nützlich machen?«, fragte er, wobei seine blauen Augen sehr verloren wirkten. »Manfred«, hob ich erschöpft an. »Ich weiß einfach nicht, wie.« »Ich hätte da schon die eine oder andere Idee«, erwiderte er und wackelte mit den Augenbrauen. Er gab vor zu scherzen, meinte es aber todernst. Hätte ich ihm auch nur ansatzweise Hoffnungen gemacht, hätte Manfred uns ein Hotelzimmer gebucht, so schnell er sein Portemonnaie zücken konnte. Leider hätte ich dieses Zimmer selbst bezahlen müssen, denn sein Portemonnaie war bestimmt leer. Keine Ahnung, wie Manfred über die Runden kam. Seine Großmutter, Xylda Bernardo, war eine verrückte alte Schwindlerin gewesen. Trotzdem hatte sie tatsächlich eine hellseherische Gabe besessen. Sie stand ihr nur nicht immer zur Verfügung, wenn sie sie brauchte. Wenn sie keine Stimme hörte, pflegte sie sich eine auszudenken. Sie konnte mehr schlecht als recht davon leben. Sie neigte zur Theatralik, was allerdings wenig überzeugend gewirkt hatte. Manfred war da schon wesentlich geschickter. Auch er besaß die Gabe. Ich wusste nicht, wie weit Manfreds hellseherische Fähigkeiten reichten, aber wenn er sie genügend ausgelotet und sich darin geübt hätte, würde er bestimmt gutes Geld damit verdienen können. Aber soweit ich wusste, war er noch nicht so weit. »Als Erstes muss ich zurück ins Hotel, duschen und mich umziehen«, sagte ich und ignorierte seine anzügliche Bemerkung. »Anschließend werden wir zu einem anderen Krankenhaus aufbrechen, in dem Detective Powers liegt.« »Der Dallas Cowboy? Parker Powers?« Manfred begann zu strahlen. »Ich habe in ›Sports Illustrated‹ über ihn gelesen, damals, als er Polizist wurde.« »Ich wusste gar nicht, dass du ein Footballfan bist«, sagte ich. Das Leben hält doch immer wieder neue Überraschungen bereit. »Machst du Witze? Ich liebe Football. Ich habe auf der Highschool selbst Football gespielt.« Ich beäugte ihn misstrauisch. »He, lass dich nicht von meiner Größe täuschen«, sagte Manfred. »Ich kann rennen wie der Wind. Und es war eine kleine Highschool, sie hatten also keine große Auswahl«, fügte er der Ehrlichkeit halber hinzu. »Auf welcher Position hast du gespielt?« »Ich war Tight End.« Das kam wie aus der Pistole geschossen. Was Football anging, verstand Manfred keinen Spaß. »Das ist ja interessant«, sagte ich aufrichtig. »Manfred, ich wechsle nur ungern das Thema, aber warum hast du beschlossen, die weite Fahrt hierher zu machen, obwohl ich dir gesagt habe, dass ich schon klarkomme?« »Ich hatte das Gefühl, dass du in Schwierigkeiten steckst«, antwortete er. Er warf mir einen flüchtigen Seitenblick zu und schaute dann wieder geradeaus durch die Windschutzscheibe seines Wagens. Wenn wir verfolgt würden (was ich mir nach wie vor kaum vorstellen konnte), würde sein verbeulter Camaro den Stalker vielleicht abschütteln. »Und das konntest du tatsächlich sehen?« »Ich habe gesehen, wie jemand auf dich schoss«, sagte er und wirkte plötzlich wie um Jahre gealtert. »Ich habe dich fallen sehen.« »Wusstest du … Du wusstest also nicht, ob ich noch lebte, als du in Tollivers Zimmer kamst?« »Na ja, ich habe die Nachrichten gesehen, und es war nicht die Rede davon, dass du ermordet worden wärst. Ich hörte nur, dass ein Polizist aus Garland angeschossen worden sei. Seinen Namen haben sie da noch nicht herausgegeben. Ich habe gehofft, dass es dir gutgeht, wollte mich aber lieber persönlich davon überzeugen.« »Und deshalb bist du den ganzen weiten Weg hierher gekommen.« Ich schüttelte erstaunt den Kopf. »So weit war es auch wieder nicht«, sagte Manfred. Eine kurze Pause entstand, und ich wartete, bis er weitersprach. »Na gut, du hast mich neugierig gemacht«, sagte ich. »Wo warst du?« »In einem Motel in Tusla«, sagte er. »Ich hatte dort einen Auftrag.« »Du bist jetzt offiziell in dem Geschäft tätig?« »Ja. Ich habe eine Webseite, das volle Programm.« »Wie läuft’s?« »Die Beantwortung einer Frage kostet fünfundzwanzig Dollar. Eine Beratung, wenn ich das Sternzeichen und Alter weiß, fünfzig Dollar. Und wenn ich für eine Sitzung zum Kunden kommen soll … wird es deutlich teurer.« »Und das funktioniert?« Ich hatte mich offensichtlich getäuscht, was Manfreds Finanzen betraf. »Gut sogar«, sagte er lächelnd. »Natürlich profitiere ich von Xyldas gutem Namen, Gott segne sie.« »Du musst sie ganz schön vermissen.« »Ja, das stimmt. Meine Mutter ist zwar auch sehr nett …«, sagte er pflichtschuldig, »… aber meine Großmutter hat mir mehr Liebe geschenkt, und ich habe mich, so gut ich konnte, um sie gekümmert. Meine Mutter musste die ganze Zeit arbeiten, und an meinen Vater kann ich mich nicht erinnern. So gesehen war Xylda meine eigentliche … sie war mein Zuhause.« Das war schön gesagt. »Manfred, das mit Xylda tut mir sehr leid. Ich denke oft an sie.« »Danke«, sagte er betont munter, um die Atmosphäre aufzulockern. »Sie hat dich auch gemocht. Sehr.« Die restliche Fahrt über schwiegen wir. Während ich duschte und mich umzog, sah sich Manfred die Stelle an, wo man am Vorabend auf Parker Powers geschossen hatte. Vielleicht würde er dort irgendetwas wahrnehmen. Außerdem wusste er, dass ich ihn lieber nicht auf meinem Zimmer hatte, während ich mich zurechtmachte. Ich wusste beides zu schätzen. Als er an die Tür klopfte, war ich angezogen und so gut geschminkt, wie es meine Gesichtsverletzungen zuließen. Ich wappnete mich für mein nächstes Vorhaben. Manfred programmierte sein Navi, damit es uns zu dem Krankenhaus leitete, in dem Parker Powers lag. Es hieß Christian Memorial. Ich verstand nicht, warum man ihn dorthin gebracht hatte statt ins God’s Mercy, wo Tolliver lag. Tolliver und Parker hatten beide Schusswunden, also konnte es nicht daran liegen, dass der Fall der Notaufnahme nicht zuzumuten war. Ich war beeindruckt von Manfreds Navi. Ich überlegte schon länger, Tolliver eines zu schenken, also unterhielten wir uns auf der Fahrt zum Christian Memorial darüber. Ich wollte nicht an den bevorstehenden Krankenbesuch denken. Zum Glück mussten wir auf den Verkehr achten, und das lenkte mich ab. Jede Stadt der Welt behauptet, die schlimmsten Staus zu haben. Dallas ist sehr schnell gewachsen, und weil die vielen Zugezogenen keinen Stadtverkehr gewohnt sind, könnte Dallas mit seiner Behauptung durchaus recht haben. Der Verkehr staute sich bis in die Peripherie, und durch die fuhren wir gerade. Als sich unser Smalltalk über Navis erschöpft hatte, fragte mich Manfred nach dem Fall, den wir vor unserer Ankunft in Dallas bearbeitet hatten. »Erzähl mir davon«, sagte er. »Diese Schießerei muss etwas damit zu tun haben, denn dass der Carolina-Fall eine Rolle spielt, kann ich mir nicht vorstellen.« Ich pflichtete ihm bei. Da Manfred ein Kollege war, erzählte ich ihm, was auf dem Pioneer Rest Cemetery geschehen war. Normalerweise hätte ich meinen ungeschriebenen Vertrag mit den Joyces nicht gebrochen, aber so langsam glaubte ich auch, dass sie etwas mit den Vorfällen zu tun hatten. Außerdem konnte ich mir sicher sein, dass Manfred die Informationen für sich behielt. »Es gibt genau zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Du kannst das vermisste Baby suchen, das vielleicht von einem der beiden Männer, die du getroffen hast, gezeugt wurde. Obwohl es wahrscheinlich kein Baby mehr ist, sondern schon zur Schule geht. Oder aber du kannst dem Verdacht nachgehen, dass einer von ihnen die Klapperschlange nach Rich Joyce geworfen hat, um einen Herzinfarkt auszulösen.« »Diese beiden Möglichkeiten bestehen durchaus«, sagte ich, erleichtert, weil ich endlich darüber reden konnte. »Und dann ist da noch Tollivers Vater aufgetaucht, der wieder Kontakt zu ihm aufnehmen möchte. Zu ihm und den Mädchen. Außerdem hat nach all den Jahren jemand behauptet, Cameron gesehen zu haben, was auch reichlich merkwürdig ist.« Ich klärte Manfred über unsere Familienprobleme auf. »Die Sache könnte also irgendwas mit deinen kleinen Schwestern zu tun haben. Oder mit deiner vermissten Schwester. Was, wenn das alles mit Cameron zusammenhängt?« Ich war verblüfft. »Warum sollte es?« »Ein Anrufer behauptet, Cameron gesehen zu haben. Ein anderer Anrufer bedroht dich. Zwei anonyme Anrufe. Da gibt es doch bestimmt einen Zusammenhang, meinst du nicht?« »Ja«, sagte ich langsam und zog die Möglichkeit zum ersten Mal in Erwägung. »Ja, natürlich, das könnte sein.« Dass ich nicht längst selbst darauf gekommen war, musste daran liegen, dass ständig auf meine Begleiter geschossen wurde. »Es könnte also etwas mit Cameron zu tun haben.« »Oder mit dem Anrufer, der wusste, dass dieser Anruf die beste Methode ist, dich von Tolliver fortzulocken. Vielleicht dachte er, du würdest abreisen und nach Texarkana zurückkehren. Er konnte ja nicht wissen, dass die Polizei anbot, dir das Band auf dem hiesigen Revier zu zeigen.« Eine lange Pause entstand. »Äh, Harper«, sagte Manfred. »Bist du dir wirklich ganz sicher, dass die Frau auf dem Band nicht deine Schwester war?« »Ja, da bin ich mir sicher«, sagte ich. »Ihr Kinn war anders und ihr Gang auch. Klar, sie war blond und hatte die richtige Größe. Ich wüsste auch nicht, warum jemand behaupten sollte, sie gesehen zu haben. Ausgerechnet jetzt, wo der Fall längst zu den Akten gelegt wurde.« »Du … du bist vermutlich fest davon überzeugt, dass Cameron tot ist?« »Ja. Schon lange«, sagte ich nachdrücklich, so als bestünde daran nicht der geringste Zweifel. »Sie würde nie zulassen, dass ich mir solche Sorgen mache, nicht über so viele Jahre hinweg.« »Aber du sagtest, dass ihr es wirklich schwer zu Hause hattet.« »Ja, das kann man wohl sagen.« Ich atmete tief durch. »Sie würde so etwas niemals tun«, sagte ich mit soviel Nachdruck wie möglich. »Sie hat uns geliebt, und zwar alle ihre Geschwister.« »Dein Stiefvater taucht also wieder auf, und plötzlich wird Cameron gesehen«, sagte er und war so taktvoll, nicht mehr anzudeuten, dass meine Schwester freiwillig abgehauen sein könnte. »Ist das nicht auch ein ziemlich merkwürdiger Zufall?« »Allerdings«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Ich habe mir nie vorstellen können, dass er sie umgebracht hat. Vielleicht hätte ich mal darüber nachdenken sollen. Aber er besuchte damals gerade einen Freund, den er aus dem Knast kannte. Einen Typen, mit dem er Geschäfte machte, sodass Matthew rein zeitlich einfach nicht infrage kam.« »Was für Geschäfte?« »Drogen, alles, womit man Geld verdienen kann.« Ich verstummte einen Augenblick und musste nachdenken. Verrückt! Nie hätte ich geglaubt, auch nur ein Detail von diesem Tag vergessen zu können. »An jenem Nachmittag wollten Renaldo und Matthew Alteisen zum Schrottplatz bringen, um sich etwas Geld zu verdienen. Aber ich glaube nicht, dass sie jemals dort waren. Sie fingen an, Billard zu spielen.« »Wie hieß der Freund mit vollem Namen?« »Renaldo Simpkins.« Ich war sehr traurig, weil es mir so schwerfiel, mich noch an alles zu erinnern. »Er war jünger als Matthew und sah gut aus, das weiß ich noch.« Ich versuchte, sein Gesicht heraufzubeschwören. »Vielleicht kann sich Tolliver noch daran erinnern«, sagte ich schließlich. Wenn ich auch nur das winzigste Detail von diesem Tag vergaß, fühlte ich mich, als würde ich das Andenken meiner Schwester besudeln. Zum ersten Mal wusste ich es zu schätzen, dass die Polizei und Victoria Flores noch über die damaligen Ermittlungsakten verfügten. Wir hielten auf dem Parkplatz eines weiteren Krankenhauses. Das Christian Memorial war vielleicht etwas neuer als das God’s Mercy, obwohl in dieser Gegend nichts wirklich alt war. Wir betraten die Eingangshalle und fragten die Frau in dem knallrosa Kittel an der Information nach dem Weg. Sie schenkte uns ein routiniertes Lächeln, das warm und herzlich sein sollte. »Detective Powers liegt im vierten Stock, aber ich warne sie, dort ist jede Menge los. Kann sein, dass Sie gar nicht bis zu ihm vordringen.« »Danke«, sagte ich und lächelte genauso routiniert zurück. Wir durchquerten die Lobby und betraten den Lift, wo Manfreds Gesichtsschmuck ziemliches Aufsehen erregte. Er schien die ungläubigen, faszinierten Blicke gar nicht zu bemerken. Als sich die Türen im vierten Stock öffneten, schauten wir in ein Meer von Gesichtern. Die dominierende Farbe war Blau. Polizisten in verschiedenen Uniformen standen herum, und dann waren da noch Männer und Frauen in Zivil, die nur Detectives sein konnten. Es waren auch ein, zwei Footballspieler da. Obwohl ich gar nicht daran gedacht hatte, Manfred unten zu lassen, merkte ich sofort, dass es ein Riesenfehler gewesen war, ihn mitzunehmen. Er fiel ziemlich auf, und zwar nicht unbedingt angenehm. Ich nahm Haltung an. Manfred war mein Freund, und er hatte dasselbe Recht, hier zu sein, wie alle anderen auch. Eine große Frau mit breiten Schultern und dicken braunen Haaren kam auf mich zu. Sie hatte hier eindeutig das Sagen, und nicht nur hier. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Beverly Powers, Parkers Frau. Kann ich Ihnen helfen?« »Ich hoffe doch«, sagte ich zögernd. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, von so vielen Menschen angestarrt zu werden. »Ich bin Harper Connelly, und Parker wurde angeschossen, als man versuchte, mich umzubringen. Ich möchte mich bei ihm bedanken. Und das ist mein Freund Manfred Bernardo, mein Fahrer, solange mein Bruder noch im Krankenhaus liegt.« »Ach, Sie sind die junge Frau!«, sagte Beverly Powers und sah mich gleich viel neugieriger an. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Es kursieren nämlich zahlreiche Gerüchte darüber, warum Sie und mein Mann draußen unterwegs waren. Ich hoffe, Sie können mir erklären, was genau passiert ist.« »Aber gern«, sagte ich überrascht. »Da gibt es nicht viel zu erklären.« Sie wartete mit hochgezogenen Brauen, zum Zeichen, dass sie ganz Ohr war. Ich war etwas überrumpelt, dass ich die Ereignisse jetzt sofort schildern sollte. Alle hörten zu, obwohl sie das Gegenteil vorgaben. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich Manfred zurückgezogen und an eine Wand gelehnt hatte. Er verschränkte die Arme und ließ mich nicht aus den Augen. Er sah aus wie ein Geheimagent, und das bestimmt mit Absicht. Der Mann war das reinste Chamäleon. »Mein Bruder wurde vor zwei Abenden angeschossen«, erklärte ich und wählte meine Worte mit Bedacht. »Damals kam Detective Powers, um den Tatort zu untersuchen. Zusammen mit Rudy Flemmons. Der besuchte meinen Bruder am nächsten Tag im Krankenhaus, um uns zu informieren. Und als ich dann gestern Abend in mein Hotel zurückkehrte, wartete dort Ihr Mann auf mich. Als ich ihm sagte, dass ich eine Runde laufen wolle, da ich den ganzen Tag mit meinem Bruder im Krankenhaus eingesperrt gewesen war, willigte er ein, mich zu begleiten. Er zweifelte nämlich daran, dass es der Schütze auf meinen Bruder abgesehen hatte.« Powers’ begeisterte Blicke verschwieg ich lieber. »Er war der Ansicht, dass derjenige, der auf Tolliver schoss, eigentlich mich treffen wollte. Außerdem hatte ich an diesem Tag eine Morddrohung bekommen. Leider nahm die keiner von uns sonderlich ernst, was ein großer Fehler war – und das tut mir auch aufrichtig leid. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen, dass ich schon öfter Morddrohungen erhalten habe, ohne dass je etwas passiert ist. Ihr Mann meinte, seine Laufsachen wären im Auto. Er hat sich in seinem Wagen umgezogen, und dann sind wir losgelaufen. Bitte verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber er kam ziemlich schnell aus der Puste. Wahrscheinlich war er schon lange nicht mehr laufen.« Zu meiner Überraschung hatten sich meine Zuhörer deutlich entspannt, während ich Beverly Powers erklärte, warum auf ihren Mann geschossen worden war. Als ich beschrieb, wie sehr er aus der Puste gekommen war, lachten einige sogar, und ein Lächeln erschien auch auf Beverly Powers’ Gesicht. Plötzlich begriff ich: Mrs Powers und Parkers Kollegen hatten gedacht, ich hätte eine Affäre mit ihm. Meine freimütigen Erklärungen hatten diesen Verdacht zerstreut. Sie fanden die Sache nicht wirklich komisch, sondern waren bloß erleichtert. »Wir rannten die Reihen dieses großen Busdepots gegenüber der Highschool an der Jacaranda Street auf und ab.« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie genickt wurde. »Wir hörten, wie ein Wagen auf den Busparkplatz fuhr, und Detective Powers und ich fühlten uns verfolgt. Aber dann ist er davongebraust. Wir beschlossen, lieber wieder zum Hotel zurückzukehren. Auf dem Rückweg sprang plötzlich dieser Typ aus einem Gebüsch und schoss auf uns. Ich weiß nicht, ob er auf mich oder auf Ihren Mann zielte, aber Detective Powers stieß mich sofort zur Seite. Deshalb fing er sich die Kugel ein, was mir wirklich sehr leid tut. Er war so tapfer, und ich fühlte mich furchtbar, weil er so schwer verletzt wurde. Ich setzte so schnell wie möglich einen Notruf ab.« »Der hat ihm das Leben gerettet«, sagte Beverly. Ihr Gesicht war rund und sympathisch, aber ihre Augen sprachen eine andere Sprache. Egal in welcher Disziplin – diese Frau war eine beinharte Konkurrentin. Ich war heilfroh, keine Affäre mit ihrem Mann gehabt zu haben. »Bitte kommen Sie und besuchen Sie ihn«, sagte Beverly. »Ist er bei Bewusstsein?« »Nein«, sagte sie, und an ihrem Tonfall merkte ich, dass Detective Powers vielleicht nie wieder das Bewusstsein erlangen würde. Die große Frau nahm meinen Arm, führte mich in einen verglasten Raum und sah ihren Mann an. Er sah furchtbar aus und war völlig weggetreten. Ich weiß nicht, ob das an den Medikamenten lag oder ob er sich im Tiefschlaf oder im Koma befand. »Es tut mir so leid«, sagte ich. Er würde sterben. Ich kann mich auch täuschen – der Tod kann über den Menschen hängen wie ein Schatten, der sich niemals senkt –, aber bei Detective Powers war ich mir ziemlich sicher. Ich wünschte, dass ich mich irrte. »Danke, dass Sie mir noch ein bisschen mehr Zeit mit ihm geschenkt haben«, sagte sie. Wir standen eine Weile schweigend da. »Ich muss zurück zu meinem Bruder«, sagte ich. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mit mir geredet und mir erlaubt haben, ihn zu sehen. Bitte sagen Sie ihm, wie dankbar ich ihm bin für das, was er für mich getan hat.« Ich tätschelte Beverly unbeholfen die Schulter und bahnte mir einen Weg zu Manfred, der meine Hand nahm und auf den Liftknopf drückte. Die Tür öffnete sich sofort, und wir betraten einen leeren Fahrstuhl. Ich betete darum, dass sich die Tür schloss und die traurige Szene unseren Blicken entzog. »Ich bin froh, dass du dabei warst«, sagte ich. »Das muss ziemlich anstrengend für dich gewesen sein.« »Ach, Quatsch, ich liebe es, in die Höhle des Löwen zu gehen, mit einem Schild um den Hals, auf dem steht: Heute frisches Lammfleisch.« Jetzt, wo wir allein waren, sah der kurz zuvor noch so ausdruckslose Manfred genauso erleichtert aus wie ich. Wir hielten uns dermaßen fest an den Händen, dass sich unsere Knochen berührten. Genau in dem Moment, als ich merkte, wie weh das tat, lockerte er seinen Griff. »Das war heftig«, sagte er mehr oder weniger normal. »Was machen wir jetzt? Mit Alligatoren ringen?« »Nein, ich dachte, wir gehen mittagessen. Und danach muss ich zu Tolliver.« Wir fuhren gerade zurück zum Hotel, als Manfred fragte: »Hat der Arzt schon verraten, wann Tolliver entlassen wird?« »Er darf morgen raus. Ich werde ihn allerdings pflegen müssen. Vielleicht sollte ich mich um eine Suite in einem anderen Hotel bemühen und aus dem jetzigen Zimmer ausziehen. Kann sein, dass wir noch ungefähr eine Woche bleiben, denn der Arzt meinte, dass Tolliver Ruhe braucht. Er muss überwiegend liegen, und ich möchte ihn nicht beunruhigen.« »Du bist also tatsächlich mit Tolliver zusammen? Und er ist der Richtige?«, fragte Manfred plötzlich ernst. »Er ist der Richtige«, bestätigte ich. »Das war er schon, als ich ihm das erste Mal begegnete. Aber du warst immer die zweitbeste Lösung.« Ich rang mir ein Lächeln ab, und zu meiner Erleichterung wurde es erwidert. »Dann werde ich meinen Suchradius wohl oder übel erweitern müssen«, sagte er theatralisch. »Vielleicht ziehe ich eine Meerjungfrau an Land.« »Wenn hier jemand eine Meerjungfrau findet, dann du«, sagte ich. »Apropos Meerjungfrauen: Suchst du gerade im Rückspiegel nach einer oder hast du nur Angst wegen meines Fahrstils?« »Ich versuche herauszufinden, ob uns jemand folgt. Das ist mir hier schließlich schon mal passiert, aber ich kann beileibe niemanden entdecken. Nur gut, dass ich keine Polizistin bin.« Manfred hielt ebenfalls die Augen offen, aber auch ihm fiel kein Wagen auf, der unsere Manöver imitierte. Bei dem Verkehrsaufkommen sagte das zwar nicht viel, aber ein bisschen beruhigt war ich trotzdem. Als wir das Hotel erreichten, packte ich meine Sachen und checkte aus. Aber erst nachdem ich ein anderes Kettenhotel in der Nähe angerufen und nach einer Suite gefragt hatte. Wie sich herausstellte, war noch eine frei, und ich buchte sie unter Tollivers Namen. Der anonyme Anrufer hatte meine Hoteladresse gekannt. Obwohl es ihm nicht schwerfallen dürfte, mich erneut ausfindig zu machen, musste ich es ihm nicht extra leicht machen. Ich reservierte die Suite für sechs Nächte. Bestimmt konnte ich jederzeit früher abreisen, wenn Tolliver schon vorher reisefähig wäre. Ich rief auch Mark an, um ihm zu sagen, wo wir steckten. Dann fuhr mich Manfred zum neuen Hotel und half mir mit unserem Gepäck. Anschließend gingen wir in ein Familienrestaurant mit einer langen Salatbar. Es wurde Zeit, dass ich endlich etwas aß, das nicht ungesund war. Also türmte ich Salat und Obst auf meinen Teller. Zu meiner Überraschung tat Manfred das Gleiche. Mein Begleiter liebte es, Konversation zu machen, besser gesagt, zu reden. Während ich zuhörte, fragte ich mich, wie Manfred wohl mit Gleichaltrigen zurechtkam. Er musste so einiges loswerden, über das er sonst nur selten reden konnte. Es ging hauptsächlich um Xylda, darum, wie sehr er sie vermisste, was sie ihm alles beigebracht hatte und welche merkwürdigen Gegenstände er in ihrem Haus gefunden hatte. »Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich, als eine kurze Pause entstand. Er zuckte die Achseln. Er wirkte stolz, aber auch verlegen. »Ich wusste, dass du mich brauchst«, sagte er und wandte den Blick ab. »Ich würde dich gern einigen von diesen Leuten vorstellen. Und danach erzählst du mir, was du gesehen hast«, sagte ich. »Ich muss mir nur einen plausiblen Grund dafür ausdenken.« Er schien sich wahnsinnig zu freuen, mir helfen zu können. »Natürlich nur, wenn du nicht gleich wieder nach Hause musst«, sagte ich. »Nein«, meinte er. »Ich kann inzwischen viel übers Internet erledigen, und für diese Woche habe ich noch keine Aufträge. Ich habe meinen Laptop und mein Handy dabei, das müsste reichen. Nach was soll ich Ausschau halten?« Sein Schalk verließ ihn, und plötzlich sah ich einen deutlich älteren Manfred vor mir. »Nach allem, was mit diesen Leuten zu tun hat«, sagte ich. »Jemand hat auf Tolliver geschossen. Jemand hat auf Detective Powers geschossen, auch wenn man es wahrscheinlich auf mich abgesehen hatte. Und ich glaube, dass es einer von ihnen war. Ich möchte wissen, warum.« »Nicht wer?« »Na ja, das natürlich auch. Aber das Warum ist äußerst wichtig. Ich muss wissen, ob ich das Ziel bin oder nicht.« Er nickte. »Verstehe.« Wir fuhren zurück zum Krankenhaus, und Manfred setzte mich vor dem Seiteneingang ab. Unauffälliger konnte ich das Krankenhaus leider nicht betreten. Ich huschte hinein und ging auf die Aufzüge zu. Ich hatte nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, und niemand schien in der Lobby herumzulungern. Alle, die ich sah, schienen ein Ziel zu haben, und niemand sprach mich an. Als ich Tollivers Zimmer betrat, fand ich ihn auf dem Stuhl vor. Ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen. »Oh, du bist aber mutig!«, sagte ich und strahlte ihn an. »Ich bin schließlich kein Schlappschwanz«, konterte er und lächelte zurück. »Als ich erfuhr, dass ich vielleicht raus darf, ging es mir gleich viel besser. Wie war deine Fahrt quer durch die Stadt mit dem unglaublichen Manfred?« Ich erzählte Tolliver von unserem Besuch bei Detective Powers. »Als sie begriffen hatten, dass ich nichts mit ihm hatte, waren alle erleichtert«, sagte ich. »Wenn er sich wieder erholt hat, kannst du ihm sagen, für welchen Casanova ihn seine Kollegen gehalten haben.« »Ich fürchte, er wird sich nicht mehr erholen«, sagte ich. »Ich fürchte, er wird sterben.« Tolliver nahm meine Hand. »Harper, das liegt nicht in unserer Macht. Wir können nur hoffen, dass er durchkommt.« Das war wirklich lieb von ihm. Vielleicht weniger seine Worte, als wie er das sagte. Ich spürte, dass er mich liebte. Ich weinte ein wenig, und er ließ mich weinen, ohne mich irgendwie zu bevormunden. Danach half ich ihm zurück ins Bett, weil er müde war. Wir hätten überlegen können, wer auf ihn geschossen hatte, aber im Moment waren wir einfach zu kaputt dafür. Eine Stunde später kamen Mark und Matthew. Wir sahen uns gerade einen alten Spielfilm an, den wir sehr genossen, aber ich wollte nicht unhöflich sein und machte den Fernseher aus. Als sie nebeneinander am Fußende des Bettes standen, fiel mir auf, dass sich Mark und Matthew deutlich mehr ähnelten als Tolliver und sein Dad. Beide waren klein und gedrungen, beide besaßen dasselbe kantige Gesicht … Alle drei Männer hatten denselben Teint, aber ansonsten glich Tolliver eher seiner Mutter. Von der ersten Mrs Lang kannte ich nur Fotos, aber sie hatte Tollivers schmales Gesicht und seine zierliche Figur. Ich überlegte, ob sie wohl allein sein wollten. Tolliver machte nicht den Eindruck, und obwohl ich fast schon erwartete, dass Matthew sagte, er wolle mit seinen Söhnen allein reden, erwähnte er nichts dergleichen. Also blieb ich. Nach den üblichen Fragen zu Tollivers Genesungsfortschritten und seiner Entlassung sagte Mark: »Ich habe überlegt, ob ihr vielleicht zu mir kommen und bei mir wohnen wollt. Solange, bis du wieder gesund bist.« »Zu dir nach Hause?«, fragte Tolliver, als wäre das etwas völlig Abwegiges. Wir waren genau ein Mal bei Mark gewesen. Er hatte uns zum Abendessen eingeladen, aber die Gerichte kommen lassen. Er lebte in einer stinknormalen Dreizimmerwohnung mit Gartenanteil. »Ja, warum nicht? Da Harper und du …«, er machte eine vage Geste, die wohl besagen sollte, dass wir miteinander schliefen, »… könnt ihr euch ja ein Bett teilen. Es ist also Platz genug.« »Dad schläft also in dem anderen Zimmer?« Tolliver sah seinen Vater nicht an, während er mit Mark sprach, was diesem bestimmt nicht entgangen war. »Ja, genau«, sagte Mark. »Das war naheliegend, da er im Moment nicht viel verdient und das Zimmer ohnehin leer steht.« »Ich habe uns schon eine Hotelsuite gebucht«, sagte ich betont sachlich. Ich wollte niemanden brüskieren. Aber mein Wunsch schien nicht in Erfüllung zu gehen. »Jetzt hör mir mal zu!«, sagte Mark hochrot, wie immer, wenn er wütend wurde. »Halt dich da raus, Harper. Das ist mein Bruder, und ich werde ihn doch wohl noch fragen dürfen, ob er bei mir wohnen will. Das ist sein gutes Recht. Er gehört schließlich zur Familie.« Jetzt war ich nicht nur wütend, sondern auch verletzt. Es war mir egal, ob ich je zu Matthews Familie gehören würde, aber Mark und ich hatten gemeinsam viel durchgemacht. Ich dachte, wir Kinder wären unsere eigene Familie gewesen. Ich spürte, wie ich meinerseits rot wurde. »Mark!«, sagte Tolliver scharf. »Harper ist meine Familie. Und das schon seit Jahren. Deine übrigens auch. Du weißt bestimmt noch, wie sehr wir damals zusammenhalten mussten.« Mark starrte zu Boden. Es war kaum mit anzusehen, wie hin- und hergerissen er war. »Ist schon gut, Mark«, sagte Matthew. »Ich verstehe, was sie sagen wollen. Ihr musstet zusammenhalten. Laurel und ich haben nicht gerade viel zu einer funktionierenden Familie beigetragen. Wir waren zusammen, aber wir waren keine richtige Familie. Tolliver hat recht.« Jetzt übertreibt er es aber, dachte ich. »Dad«, murmelte Mark, als wäre er wieder siebzehn. »Du hast versucht, uns zusammenzuhalten.« »Das habe ich auch«, sagte Matthew. »Aber dann kam meine Sucht dazwischen.« Ich musste mich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Schmierentheater. Tolliver musste schon wieder mit ansehen, wie sein Vater den Büßer spielte, ließ sich aber nichts anmerken. Es gibt Momente, in denen ich nicht weiß, was Tolliver durch den Kopf geht, und das war einer davon. Vielleicht ließ er sich von seinem Vater erweichen, vielleicht malte er sich auch aus, ihn umzubringen. Wahrscheinlich Letzteres. »Tolliver, bitte, gib mir eine Chance, dich neu kennenzulernen«, flehte sein Vater. Ein langes Schweigen entstand. Mark sagte: »Weißt du noch, als Gracie so krank war? Weißt du noch, wie Dad sie ins Krankenhaus brachte? Die Ärzte haben ihr Antibiotika gegeben, und anschließend ging es ihr besser.« Das hatte ich ganz vergessen. Es war schon lange her. Gracie war noch sehr klein gewesen, vielleicht vier Monate alt. Wie alt ich wohl gewesen war? Fünfzehn? Es war sehr peinlich gewesen, noch eine kleine Schwester zu bekommen, ganz einfach deswegen, weil es bewies, dass meine Mutter und ihr Mann tatsächlich Sex hatten. Es ist schon erstaunlich, was einem mit fünfzehn alles peinlich sein kann. Damals kannte ich mich schon ziemlich gut mit Babys aus, schließlich mussten wir uns bereits um Mariella kümmern. Als unsere erste Halbschwester zur Welt kam, war es meiner Mutter noch etwas besser gegangen. Zumindest einen Teil der täglichen Pflege hatte sie übernommen, sodass wir Mariella zu Schulzeiten bei ihr lassen konnten. Als dann Gracie untergewichtig und kränklich geboren wurde, kam das überhaupt nicht mehr infrage. Warum man Mom Gracie nicht gleich im Krankenhaus wegnahm, ist mir ein Rätsel. Wir hatten uns fast gewünscht, dass jemand das getan hätte. Oder dass Mom zur Vernunft gekommen wäre und Gracie zur Adoption freigegeben hätte. Doch nichts von alledem war geschehen. Also hatten Cameron und ich abwechselnd bei anderen Familien als Babysitter gejobbt. Die Jungs hatten Geld verdient, und Matthew hatte auch manchmal gearbeitet. So hatten wir die Mädchen zu einer Tagesmutter geben können, wenn wir nicht zu Hause waren. Doch dann war Gracie, die schon immer Atemwegsprobleme gehabt hatte, noch kränker geworden. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, sondern wusste nur noch, dass ich eine Riesenangst gehabt hatte. Wir waren schwer beeindruckt gewesen, dass Matthew sie ins Krankenhaus gebracht hatte. »Willst du damit sagen, dass ich mich mit Dad anfreunden muss, nur weil er sich ein Mal, ein einziges Mal, wie ein Vater benommen hat?«, sagte Tolliver, und ich atmete hörbar aus. Er ließ sich nicht so leicht übers Ohr hauen. »Ach, Tolliver.« Matthew schüttelte den Kopf, das Wort »betrübt« stand ihm in Riesenlettern auf die Stirn geschrieben. »Ich versuche, anständig zu bleiben, mein Sohn. Verschließe dich nicht gegen mich.« Ich musste mich schwer zusammenreißen, nichts zu sagen, war aber stolz, dass ich es schaffte, meine Zunge im Zaum zu halten. Beinahe wäre mir doch etwas herausgerutscht, weil ich befürchtete, Tolliver könnte schwächeln. Doch dann sagte er: »Tschüs, Mark. Tschüs, Dad. Danke, dass ihr vorbeigekommen seid«, und ich atmete erleichtert auf. Die beiden Besucher sahen erst sich und dann mich an. Sie wünschten sich eindeutig, dass ich hinausging, aber den Gefallen tat ich ihnen nicht. Nach einer Weile war klar, dass ich bleiben würde. Matthew sagte: »Es tut mir leid, dass wir nicht alle …« Seine Stimme brach. »Meine Güte, ich wünschte, ihr beiden könntet vergeben und vergessen.« Ich fand das unglaublich. Ich hatte meinem Stiefbruder nichts vorzuwerfen, aber dafür meinem Stiefvater: »Während du uns vernachlässigt hast, habe ich einige der wichtigsten Lektionen meines Lebens gelernt, Matthew. Ich hasse dich nicht, aber vergessen werde ich das nie. Denn das wäre wirklich äußerst dumm von mir.« Matthew sah mich direkt an, und kurz spürte ich seine unverhohlene Abneigung, bevor er sein wahres Gesicht wieder hinter der Maske des reumütigen Büßers verbarg. »Es tut mir leid, dass du so denkst, Harper«, sagte er sanft. »Mein Sohn, ich werde dich in meine Gebete mit einschließen.« Tolliver sah ihn schweigend an. Dann drehten sich sein Vater und sein Bruder um und verließen das Zimmer. »Er hasst mich«, sagte ich. »Ich bin mir gar nicht so sicher, ob er für mich nicht genau dasselbe empfindet«, sagte Tolliver. »Falls ich mal einen Unfall haben sollte, verständige sie bitte nicht. Ich liebe Mark, und er ist mein Bruder. Aber jetzt steht er wieder unter Dads Fuchtel, und ich traue ihm nicht mehr über den Weg.« 12 Nach Einbruch der Dunkelheit verließ ich das Krankenhaus und fuhr eine Weile herum, um sicherzugehen, dass mir niemand auf den Fersen war. Ich war es nicht gewohnt, verfolgt zu werden, sodass mir gut und gerne fünf Wagen hätten folgen können, ohne dass ich es bemerkt hätte. Aber ich tat mein Bestes. Ich parkte ganz in der Nähe des Hoteleingangs und rannte mehr oder weniger in die Lobby. Die Suite befand sich im zweiten Stock, und ich wartete im Flur, bis niemand mehr da war, der sehen konnte, welche Tür ich öffnete. Ich packte meine Sachen aus und bügelte. Ich war so optimistisch, Tollivers Sachen durchzusehen, um etwas herauszusuchen, das er bei seiner Entlassung tragen konnte. Die Armbewegung, die nötig war, um in ein T-Shirt oder Polohemd zu schlüpfen, würde ihm bestimmt wehtun. Deshalb entschied ich mich für ein durchgeknöpftes Sporthemd und eine Jeans. Ich steckte beides in eine kleine Tüte und war vorbereitet. Nachdem ich die Nachrichten gesehen hatte, rief ich den Zimmerservice. Ich war froh, dass ein Restaurant zum Hotel gehörte, da ich nicht allein ausgehen wollte. Ich wunderte mich ein bisschen, dass Manfred nicht angerufen hatte, um mit mir essen zu gehen. Aber auch ohne Begleiter war ich hungrig. Ich bestellte einen Caesar Salad und eine Minestrone. Das dürfte auch schmecken, wenn der Koch nicht sonderlich talentiert war. Ich eilte zur Tür, als es wie erwartet klopfte, wartete aber, bevor ich sie aufriss. Meiner Erfahrung nach sagen Hotelangestellte immer »Zimmerservice«, aber das war diesmal nicht der Fall. Mit einem Ohr an der Tür lauschte ich. Ich hatte so das Gefühl, dass die Person auf der anderen Seite genau dasselbe tat. Natürlich hätte ich nachschauen können, wer davor stand. Aber merkwürdigerweise hatte ich zuviel Angst, durch den Spion zu sehen. Ich hatte Angst, der Schütze könnte vor der Tür stehen und schießen, sobald er wusste, dass ich im Zimmer war. Denn wenn man darauf achtet, kann man sehen, ob jemand durch das Guckloch schaut. Keine zehn Pferde würden mich dazu bringen. Ich hörte den Lift auf dem Flur und den Gong, als er mein Stockwerk erreichte. Ich hörte, wie sich die Türen öffneten. Ein Servierwagen klapperte, ein Geräusch, das ich kannte. Gleichzeitig hörte ich, wie sich jemand vor meiner Tür bewegte. Ja, da war immer noch jemand. Aber nach einer Sekunde verschwand mein Besuch. Ich sah durch das Guckloch, doch leider zu spät. Ich konnte keinen Blick mehr auf die Person erhaschen, die davor gestanden hatte. In der nächsten Sekunde klopfte es deutlich fester an die Tür, und eine Frauenstimme sagte: »Zimmerservice.« Das Guckloch bestätigte, dass es sich tatsächlich um eine Hotelangestellte mit Servierwagen handelte. Nachdem ich gesehen hatte, wie gelangweilt sie wirkte, öffnete ich ohne zu zögern die Tür. »Haben Sie jemand weggehen sehen?«, fragte ich. Ich wollte nicht paranoid klingen und fügte deshalb hinzu: »Ich habe gerade ein Schläfchen gemacht und dachte, es hätte geklopft, bevor Sie kamen. Aber als ich an der Tür war, war mein Besuch schon verschwunden.« »Mir kam jemand entgegen«, sagte die Frau, »Aber ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, tut mir leid.« Das war’s dann wohl. Ich war ziemlich wütend auf mich. Ich hätte doch durch den Türspion schauen sollen. Vielleicht hätte ich einen Fremden entdeckt, der sich in der Zimmernummer geirrt hatte. Vielleicht war es Manfred gewesen, der wusste, dass ich in diesem Hotel wohnte. Vielleicht hätte ich auch das Gesicht meines Feindes gesehen. Aus Enttäuschung darüber, so ein Angsthase gewesen zu sein, schaltete ich den Fernseher ein und sah mir eine alte Folge von ›Law and Order‹ an, während ich meine Suppe und meinen Salat aß. Sollte ich sie einmal zu oft gesehen haben, gab es bestimmt noch eine x-te Wiederholung von ›CSI‹. Im Fernsehen siegt häufig die Gerechtigkeit, aber leider nicht im wirklichen Leben. Vielleicht sehen wir deshalb so viel fern. Ich aß langsam und ertappte mich dabei, bewusst leise zu kauen, um mitzubekommen, wenn jemand vor der Tür wäre. Das war wirklich albern. Ich legte die Sicherheitskette vor und fühlte mich gleich ein Stückchen besser. Als ich mit dem Essen fertig war, sah ich mich sorgfältig um, bevor ich den Wagen auf den Flur schob. Dann verriegelte ich die Tür erneut und zog mich in mein Zimmer zurück. Zum Glück gab es keine Türen, die von meinem direkt in andere Zimmer führten, und weil es im zweiten Stock lag, konnte auch niemand durchs Fenster einsteigen. Trotzdem zog ich die Vorhänge vor. Dermaßen isoliert blieb ich bis zum nächsten Morgen auf meinem Zimmer. Das war wirklich kein Zustand. Am nächsten Tag sah Tolliver noch besser aus, und der Arzt meinte, er könne entlassen werden. Er gab mir eine Liste mit Anweisungen. Die Wunde durfte nicht nass werden. Tolliver sollte mit seinem rechten Arm nichts heben. Wieder zu Hause (in unserem Fall war damit wahrscheinlich St. Louis gemeint), sollte er mit diesem Arm physiotherapeutische Übungen machen. Natürlich dauerte es eine Ewigkeit, bis die Entlassungsformalitäten erledigt waren, aber irgendwann saßen wir endlich in unserem Wagen, und ich schnallte Tolliver an. Beinahe hätte ich gesagt: »Ich wünschte, wir könnten hier weg!«, wollte Tolliver aber nicht beunruhigen. Wir mussten die Anweisungen des Arztes befolgen, weshalb uns nichts anderes übrig blieb, als noch ein paar Tage hier in Dallas auszuharren. Ich konnte es kaum erwarten, Texas zu verlassen. Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir uns auf dieser Reise nach einem Haus umschauen könnten. Stattdessen wollte ich nur noch unsere Sachen packen und davonrasen, als wäre der Teufel hinter uns her. Tolliver sah aus dem Autofenster, als wäre er im Gefängnis gewesen. Als hätte er in Einzelhaft gesessen und jahrelang keine Restaurants, keine Hotels und keinen Verkehr mehr zu Gesicht bekommen. Er trug die Jeans und das Hemd, die ich ihm mitgebracht hatte, und besaß so endlich wieder mehr Ähnlichkeit mit sich selbst als in diesem Krankenhauskittel. Er ertappte mich dabei, wie ich ihn kurz schräg von der Seite ansah. »Ich weiß, dass ich furchtbar aussehe«, konstatierte er. »Das musst du mir nicht extra sagen.« »Ich dachte gerade, dass du wirklich toll ausschaust«, sagte ich unschuldig, und er lachte. »Klar«, konterte er. »Ich bin noch nie angeschossen worden. Nicht wirklich. Mich hat der Schuss damals nur gestreift. Hat es sich wirklich so angefühlt wie ein Fausthieb? So wird das in Büchern häufig beschrieben.« »Wenn dich eine Riesenfaust völlig durchdringt, dich bluten lässt und die schlimmsten Schmerzen verursacht, die du jemals hattest, dann ja«, sagte er. »Es tat so weh, dass ich einen Moment lang am liebsten gestorben wäre.« »Puh«, sagte ich und versuchte, mir so einen intensiven Schmerz vorzustellen. Ich hatte Schmerzen gehabt, schlimme Schmerzen, aber als mich der Blitz traf, hatte ich erst mal mehrere Sekunden gar nichts gespürt. Nur, dass ich in einer anderen Welt war, bevor ich wieder in diese hier zurückkehrte. Danach hatte mir alles höllisch wehgetan. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass man bei einer Geburt furchtbare Schmerzen hat, aber diese Erfahrung hatte ich bisher noch nicht gemacht. »Ich hoffe, das passiert nie wieder«, sagte ich. »Keinem von uns.« »Hast du irgendwas gehört?«, fragte er. Was für eine merkwürdige Formulierung. »Von wem, meinst du?« »Victoria hat mich gestern Abend im Krankenhaus besucht«, sagte er. Ich schwieg einen Moment. »Habe ich Grund zur Eifersucht?«, fragte ich, als es mir gelang, einigermaßen gelassen zu klingen. »Nicht mehr als ich wegen Manfred.« Oh je. »Dann solltest du mir lieber davon erzählen.« In diesem Moment hielten wir vor dem Hotel, sodass wir unser Gespräch vertagen mussten. Ich lief um den Wagen herum und hielt Tolliver die Tür auf. Er streckte die Füße aus dem Wagen, und ich stützte ihn beim Aussteigen ein wenig unter seinem gesunden Arm. Er verzog das Gesicht, woran ich merkte, dass er Schmerzen hatte. Ich verriegelte den Wagen und wir gingen langsam zum Hotel. Ich war erschüttert, wie wackelig Tolliver auf den Beinen war. Wir schafften es durch die Lobby und in den Lift. Ich ließ Tolliver nicht aus den Augen, falls er Hilfe brauchte, und versuchte gleichzeitig, nach nahendem Unheil Ausschau zu halten. Ich kam mir vor wie eine Geisteskranke, so wild irrte mein Blick hin und her, um sich anschließend auf meinen Patienten zu heften. Als wir endlich in unserem Zimmer waren, seufzte ich erleichtert und half Tolliver, sich hinzulegen. Ich zog einen Stuhl ans Bett, was mich allerdings zu sehr ans Krankenhaus erinnerte. Also legte ich mich neben ihn und drehte mich auf die Seite, damit ich ihn ansehen konnte. Er brauchte eine Minute, um sich in eine bequeme Position zu bringen. Dann drehte er den Kopf, sodass sich unsere Blicke trafen. »Das fühlt sich schon deutlich besser an«, sagte er. »Geradezu paradiesisch.« Ich pflichtete ihm bei. Um seine Entlassung aus dem Krankenhaus zu feiern, öffnete ich den Reißverschluss seiner Hose und ließ ihm eine Therapie angedeihen, mit der er nicht gerechnet hatte. Eine, die ihm so gut tat, dass er sofort einschlief, nachdem er mich geküsst hatte. Ich tat es ihm nach. Wir wurden wach, weil es an unserer Tür klopfte. Ich ertappte mich bei dem Wunsch nach einer Tür, an die niemand klopfen konnte. Ich hätte das Schild »Bitte nicht stören« hinaushängen sollen. Tolliver bewegte sich und öffnete die Augen. Ich rollte aus dem Bett, reckte mich und fuhr mir mit einer Hand durchs Haar. Dann verließ ich das Schlafzimmer und durchquerte den Wohnbereich, um nachzusehen, wer da war. Diesmal nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und schaute durch das Guckloch. Zu meinem Erstaunen stand Rudy Flemmons vor der Tür, obwohl ich die Polizei nicht über unseren neuen Aufenthaltsort informiert hatte. »Es ist der Detective«, sagte ich. Ich stand in der Tür des Schlafzimmers und war noch völlig verschlafen. »Rudy Flemmons, nicht derjenige, auf den geschossen wurde.« »Das habe ich mir bereits gedacht«, erwiderte Tolliver und gähnte. »Du solltest ihm lieber aufmachen.« Er schloss den Reißverschluss seiner Jeans, und ich knöpfte sie ihm zu, wobei wir uns anlächelten. Ich ließ Detective Flemmons herein und half dann Tolliver ins Wohnzimmer, damit er sich an dem Gespräch beteiligen konnte. Tolliver ließ sich vorsichtig auf dem Sofa nieder, und Flemmons nahm den Sessel. »Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte er. Ich sah auf meine Uhr. »Na ja, wir haben das Krankenhaus vor etwa anderthalb Stunden verlassen«, sagte ich. »Wir sind direkt hierher gefahren und haben ein Schläfchen gemacht.« Tolliver nickte. Rudy Flemmons sagte: »Haben Sie in den letzten beiden Tagen Ihre Freundin Victoria Flores gesehen?« »Ja«, sagte Tolliver wie aus der Pistole geschossen. »Sie hat mich gestern Abend im Krankenhaus besucht. Harper war schon gegangen. Victoria ist nach etwa einer Dreiviertelstunde aufgebrochen. Das muss so um … hm, keine Ahnung, ich habe ziemlich viele Schmerzmittel genommen. So gegen acht Uhr, nehme ich an. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« »Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Sie hat ihre Tochter Mari-Carmen bei ihrer Mutter gelassen, und als Victoria nicht kam, um ihr Kind abzuholen, hat diese die Polizei benachrichtigt. Normalerweise unternimmt die Polizei in solchen Fällen nicht sofort etwas. Aber Victoria war früher bei der Polizei von Texarkana, und einige von uns kennen sie. Sie hat ihr Kind noch nie zu spät abgeholt, jedenfalls nicht, ohne vorher anzurufen und Bescheid zu geben. Victoria ist eine gute Mutter.« Ich sah ihm an, dass er zu den Garland-Cops gehörte, die sie gut kannten. Vielleicht sogar sehr gut. »Haben Sie mit jemandem gesprochen, der sie nach meinem Bruder gesehen hat?« »Nein«, sagte er ernst und niedergeschlagen. »Leider nicht.« Zumindest nahm niemand an, dass Tolliver aus seinem Krankenhausbett gesprungen war, Victoria überwältigt und sie unter dem Bett versteckt hatte, bis er den Pförtner bestechen konnte, ihre Leiche zu entsorgen. »Ihre Mutter hat nichts von ihr gehört?« Der Detective schüttelte den Kopf. »Das ist ja furchtbar«, sagte ich. »Ich … das ist ja furchtbar.« Mir fiel ein, dass Tolliver mir vorhin etwas über Victoria hatte erzählen wollen. Ich saß neben ihm auf dem Sofa und wandte den Kopf, um seinen Blick zu erhaschen. Ich hob fragend die Brauen. Würde er das Thema anschneiden? Er schüttelte unmerklich den Kopf. Nein. Na gut. »Worüber haben Sie sich unterhalten? Hat Victoria irgendetwas erzählt? Woran sie arbeitet oder wohin sie nach dem Krankenhausbesuch wollte?« »Ich fürchte, wir haben überwiegend von mir gesprochen«, gestand Tolliver. »Sie hat mir Fragen zu der Kugel gestellt und wollte wissen, ob der Ort, von dem aus der Schütze geschossen hat, bereits ermittelt wurde. Ob es in jener Nacht noch andere Schießereien gegeben hätte. Sie haben Harper erzählt, dass es noch eine ganz in der Nähe des Motels gegeben hat, stimmt’s? Dann hat sie mich noch gefragt, wie lange ich noch im Krankenhaus bleiben muss. Solche Sachen.« »Hat sie irgendetwas von sich erzählt?« »Ja. Sie meinte, sie sei eine Zeitlang mit einem Mann zusammen gewesen. Mit einem von der Polizei. Sie hätten sich jedoch kürzlich getrennt. Sie meinte, sie hätte es sich anders überlegt und wollte ihn noch gestern Abend anrufen.« Ich hatte nicht mit so einer drastischen Reaktion gerechnet. Detective Flemmons wurde leichenblass. Ich hatte schon Angst, er würde in Ohnmacht fallen. »Das hat sie gesagt?«, würgte er hervor. »Ja«, sagte Tolliver genauso überrascht wie ich. »Mehr oder weniger wortwörtlich. Ich war erstaunt, da wir uns früher nie über ihr Liebesleben unterhalten haben. So nahe standen wir uns nicht, und sie sprach nicht gern über ihr Privatleben. Wissen Sie, mit welchem Cop sie zusammen war?« »Ja«, antwortete Flemmons. »Mit mir.« Darauf wusste niemand von uns etwas zu sagen. Flemmons blieb mindestens noch eine Viertelstunde und stellte Tolliver bestimmt weitere zwanzig Fragen. Er wollte genau wissen, was er und Victoria besprochen hatten, aber Tolliver wich ihm immer wieder geschickt aus. Ich staunte und war etwas beunruhigt, dass Tolliver sich so bedeckt hielt. Ich erzählte Rudy von der geheimnisvollen Person, die am Vorabend vor meiner Tür gestanden und geklopft hatte, bevor der Zimmerservice gekommen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Victoria Flores gewesen war, aber ich wollte, dass jemand über diesen kleinen Vorfall Bescheid wusste. Schließlich wandte sich Detective Flemmons zum Gehen. Ich war unheimlich erleichtert, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ich wartete, bis ich ihn zum Lift gehen hörte. Ich lauschte auf das Pling!, als der Lift kam, und auf das leise Rumpeln der auf- und zugehenden Lifttüren. Ich öffnete sogar die Zimmertür und sah mich suchend um, um sicherzustellen, dass niemand mehr da war. So langsam litt ich unter Verfolgungswahn, aber aus gutem Grund. »Los, raus mit der Sprache!«, sagte ich. Obwohl Tolliver sehr müde aussah und mühsam aufstand, damit ich ihn ins Bett bringen konnte, wollte ich unbedingt wissen, was er mir erzählen wollte, bevor Rudy Flemmons gekommen war. Als er wieder im Bett lag, sagte Tolliver: »Sie hat mich gefragt, ob die Joyces das Baby von Mariah Parish wirklich nur finden wollen. Oder ob ich mir vorstellen kann, dass sie das Kind töten wollen.« »Das Kind töten?!«, sagte ich verblüfft. Aber ich verstand natürlich sofort, was er meinte. »Ein weiterer Nachkomme der Joyces wird vermutlich mindestens ein Viertel des Vermögens erben. Er ist also ein direkter Erbe oder wie das heißt und wäre damit erbberechtigt, und zwar unabhängig davon, ob er unehelich geboren wurde oder nicht. Ich nehme nicht an, dass Rich Joyce Mariah heimlich geheiratet hat?« Tolliver schüttelte den Kopf. »Nein, er hätte sie offiziell geheiratet. Wenn Victoria recht hat, hatte er eiserne Prinzipien. Wenn das Kind von ihm war, wäre er auch dazu gestanden. Vorausgesetzt, er wusste davon.« »Und, konnte sie sich das vorstellen?« »Ja, da sie viele Leute befragt hat, die Rich Joyce gekannt haben und ihm nahestanden. Sie alle haben Victoria erzählt, dass Lizzie genau wie ihr Großvater ist, zupackend und grundehrlich, während es Kate und Drex nur ums Geld geht.« »Und was ist mit Chip, ihrem Freund?« »Ihn hat sie nicht erwähnt.« »Und das hat Victoria schon alles herausgefunden?« »Ja, sie war ziemlich fleißig.« »Warum hat sie dir das alles erzählt? Wahrscheinlich nicht, weil sie auf dich steht, wenn sie ohnehin wieder zu Rudy Flemmons zurückwollte.« »Weil sie glaubt, dass einer der Joyces auf mich geschossen hat, deshalb.« »Gut, aber ich verstehe trotzdem noch nicht.« »Die Joyces vermuten, dass du mehr über Richs Tod weißt, als du an seinem Grab gesagt hast. Sie sind nervös, weil du wusstest, woran Mariah gestorben ist, und die Existenz des Babys erwähnt hast. Ich nehme an, dass sie Angst haben, du könntest die Leiche des Babys finden.« »Victoria glaubt also nicht, dass das Baby noch lebt? Sie glaubt, dass das Baby umgebracht wurde?« Mir wurde ganz schlecht. Ich habe schon viel Schlimmes gesehen und gehört, wirklich schlimme Dinge, durch die »Gabe«, die mir der Blitz geschenkt hat. Früher sind viele Babys bei der Geburt gestorben, weil dabei so viel schiefgehen konnte. Heute gibt es das kaum noch. Ich habe schon auf unzähligen winzigen Gräbern gestanden und die reglosen, weißen Gesichter gesehen. Und es hat mich jedes Mal mitgenommen. Aber der Mord an einem Kind ist für mich das abscheulichste Verbrechen überhaupt, das absolute Böse. »Davon geht sie aus. Sie konnte keinen Eintrag im Geburtenregister finden. Vielleicht hat Mariah das Kind allein bekommen.« »Na hör mal, welche Frau geht nicht ins Krankenhaus, wenn sie spürt, dass es so weit ist?« »Vielleicht eine, die nicht dorthin kann«, sagte Tolliver. Ich spürte, wie ich meine Lippen angewidert und zugleich entsetzt zusammenpresste. »Du meinst, jemand hat verhindert, dass sie ins Krankenhaus gehen konnte? Und einfach zugelassen, dass sie bei der Geburt starb?« Ich brauchte nicht noch hinzuzufügen, wie grausam und unmenschlich ich das fand. Tolliver teilte meine Gefühle. »Das kann schon sein. Das wäre die beste Erklärung dafür, dass sie im Kindbett gestorben ist und dass es weder einen Eintrag im Geburtenregister noch einen aktenkundig gewordenen Krankenhausaufenthalt von ihr gibt.« »Und wenn ich nicht gekommen wäre …« »Hätte niemand je davon erfahren.« So gesehen war es kein Wunder, dass mich jemand tot sehen wollte. 13 Ich war im »Trainingsraum« und joggte auf dem Laufband auf der Stelle – ein eher symbolisches Zugeständnis des Hotels an das Thema Fitness. Zumindest befand ich mich in einem abgeschlossenen Bereich, was im Moment Sicherheit bedeutete. Ich war früh aufgewacht und hörte an Tollivers Atmung, dass er noch tief im Land der Träume war. Ich konnte inzwischen verstehen, warum diese schrecklichen Dinge um mich herum geschahen, wusste aber nicht, was ich dagegen tun sollte. Ich hatte nichts in der Hand, womit ich zur Polizei gehen konnte, nicht das Geringste. Und die Joyces waren reich und hatten gute Beziehungen. Ich wusste nicht, ob alle in die Sache verwickelt waren oder ob der Schütze und der Mörder (denn meiner Meinung nach waren sowohl Maria Parish als auch Rich Joyce ermordet worden) unabhängig voneinander agierten oder ob es ein und dieselbe Person war. Die drei Joyces und Lizzies Freund konnten alle mit Waffen umgehen, da war ich mir sicher. Vielleicht dachte ich in Klischees, doch ein Rancher wie Rich Joyce würde seinen Enkelinnen bestimmt nicht das Rodeoreiten beibringen und das Schießen vernachlässigen. Dasselbe galt natürlich erst recht für Drex und den Freund. Am wenigsten wusste ich über Chip Moseley. Er schien gut zu Lizzie zu passen. Er war genauso schlank und wettergegerbt und wirkte selbstbewusst und bodenständig. Er hatte mich skeptisch beäugt, aber das taten schließlich die meisten Leute. Ich war schweißnass und begann langsam mit dem Abkühlen. Ich lief noch zehn Minuten in gemächlichem Tempo, trocknete mir dann das Gesicht mit dem Handtuch ab und kehrte auf unser Zimmer zurück. So langsam fing ich an, Hotelzimmer zu hassen. Ich hielt mich für keine gute Hausfrau, wünschte mir aber ein Zuhause, ein richtiges Zuhause. Ich wünschte mir einen Bettüberwurf, der nicht aus Kunstfasern bestand. Ich wünschte mir Bettwäsche, in der nur ich schlief. Ich wünschte mir, meine Kleidung zusammengefaltet aus dem Schrank holen zu können, statt in einem Koffer wühlen zu müssen. Ich wünschte mir ein Bücherregal und keinen Pappkarton. In unserer Wohnung gab es das alles, aber selbst sie wirkte nicht wie ein echtes Zuhause, sondern war einfach nur ein besseres Hotelzimmer. Im Lift atmete ich tief durch und verdrängte diese Gedanken in einen Winkel meines Gedächtnisses. Dort lagerten viele Erinnerungen, aber jetzt, wo jemand Jagd auf uns machte, wollte ich mich durch nichts ablenken lassen. Da Tolliver außer Gefecht gesetzt war, musste ich doppelt vorsichtig sein. Rudy Flemmons stand vor unserem Zimmer und wollte gerade anklopfen. »Detective!«, rief ich. »Warten Sie einen Moment.« Er erstarrte mit erhobener Faust, und ich sah sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich trat näher und musterte sein Gesicht beziehungsweise sein Profil. Er drehte sich nicht zu mir um. »Oh nein!«, keuchte ich. »Kommen Sie, gehen wir hinein.« Ich ging an ihm vorbei, um die Tür aufzumachen, dann betraten wir das Zimmer. Ich machte das Licht an und hoffte, Tolliver nicht dadurch zu wecken. Doch dann sah ich, dass Licht im Bad brannte, und wusste, dass er wach war. Ich klopfte an die Tür. »Hallo, bist du da drin? Wir haben Besuch.« »So früh?«, fragte er, und ich wusste, dass er schlecht geschlafen hatte. »Komm da raus, mein Schatz«, sagte ich und hoffte, dass er die Botschaft begriff. Das tat er und kam keine halbe Minute später ins Wohnzimmer. An der Art, wie er sich bewegte, sah ich, dass es ihm nicht gut ging. Ich beeilte mich, ihm Orangensaft aus unserem kleinen Kühlschrank zu holen. Rudy Flemmons brauchte ich offensichtlich keinen anzubieten, so sehr war er in sich zusammengesunken. Entweder er war tieftraurig oder aber extrem besorgt. Um das unterscheiden zu können, hätte ich ihn besser kennen müssen. Ich sah nur, dass es ihm schlecht ging. Das war bestimmt kein schöner Start in den Tag für Tolliver, der sich auf dem Sofa zurücklehnte. »Erzählen Sie uns, warum Sie hier sind«, sagte Tolliver. »Ich glaube, Victoria ist tot«, verkündete Rudy Flemmons. »Ihr Wagen wurde heute Morgen gefunden, auf einem Friedhof in Garland. Ihre Handtasche war noch darin.« »Aber ihre Leiche haben Sie nicht gefunden?«, fragte ich. »Nein. Ich wollte Sie bitten, sich dort einmal umzusehen.« Das war sowohl schrecklich als auch ungewohnt. Wegen seiner offensichtlichen Trauer und unserer Freundschaft mit Victoria dachte ich gar nicht an Geld. Ich dachte an die anderen Cops da draußen, die mein Erscheinen am Tatort als extreme Panikreaktion von Rudy Flemmons deuten würden. Aber es gab nicht viel, was ich dazu sagen konnte, außer: »Geben Sie mir zehn Minuten Zeit.« Ich sprang unter die Dusche, seifte mich ein und spülte mich ab. Ich putzte mir die Zähne und zog mich an. Ich schlüpfte in meine Stiefel – kein modisches Modell mit hohen Absätzen, sondern flache, wasserdichte Uggs. Es hatte viel geregnet, und ich wollte unangenehme Überraschungen vermeiden. Obwohl ich noch keinen Wetterbericht gesehen oder gelesen hatte, war mir aufgefallen, dass Rudy eine dicke Jacke trug. Dementsprechend warm zog ich mich auch an. Dass Tolliver mitkam, war ausgeschlossen. Das wurde mir erst so richtig bewusst, als ich zur Tür ging. Schlechtes Wetter, ein Friedhof: nicht gerade ideale Bedingungen, um sich von einer Schusswunde zu erholen. »Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück«, sagte ich in plötzlicher Panik. »Du rührst dich hier nicht von der Stelle. Sprich, du gehst wieder ins Bett und siehst fern. Wenn irgendwas ist, ruf ich dich an, einverstanden?« Auch Tolliver dämmerte inzwischen, dass ich allein zu einem Auftrag unterwegs war. »Nimm einen Schokoriegel aus meiner Jackentasche«, sagte er, und ich gehorchte. »Tu nichts, was dich in Gefahr bringt«, befahl er streng. »Mach dir keine Sorgen«, erwiderte ich und sagte Rudy Flemmons anschließend, dass ich so weit war, obwohl das kein bisschen der Wahrheit entsprach. Während der Fahrt durch Nieselregen und dichten Verkehr schwiegen wir. Rudy kündigte unsere Ankunft über Funk an, mehr wurde während der nächsten Viertelstunde nicht gesprochen. »Ich weiß, dass Sie dafür Geld nehmen«, sagte er plötzlich, während er am Ende einer langen Autoschlange zum Stehen kam, auf einer Straße, die durch einen riesigen Friedhof führte. Es war einer von der modernen Sorte, auf dem Grabsteine verboten sind. Ich wurde regelrecht mit den Schwingungen der Leichen bombardiert, sie kamen aus allen Richtungen. Sie waren ausnahmslos sehr intensiv, da es sich um einen relativ neuen Friedhof handelte. Die älteste Bestattung lag vielleicht zwanzig Jahre zurück. »Kein Problem, bitte lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen«, sagte ich und stieg aus. Das Letzte, was ich jetzt wollte, war über Geld reden, während ich nach der Freundin dieses trauernden Mannes suchte. Man sollte meinen, dass es einfacher ist, wenn man die Person kennt, aber dem ist nicht so. Ansonsten hätte ich meine Schwester längst gefunden. Die Toten ringen mit gleicher Intensität um Aufmerksamkeit, und wenn Victoria irgendwo hier draußen lag, war sie einfach nur eine Stimme in diesem Chor. Es fiel mir schwer, die Gräber zu überhören, die um meine Aufmerksamkeit buhlten, und es war unglaublich schmerzhaft, ohne Tolliver hier zu sein. Ich besaß keinen Rückhalt. Benutz deinen gesunden Menschenverstand!, ermahnte ich mich. Ich blieb so nahe an dem verlassenen Wagen wie möglich. Ein Techniker von der Spurensicherung untersuchte die Reifenabdrücke, allerdings so unsystematisch, dass die gröbste Arbeit bestimmt längst erledigt war. Polizisten suchten den Friedhof ab, der sich über hügeliges Gelände erstreckte. Er war so angelegt wie viele moderne Friedhöfe: Es gab verschiedene Areale, die durch eine große Statue in der Mitte markiert wurden. Zum Beispiel durch einen Engel oder ein Kreuz, welche die Besucher zum richtigen Grab führen sollten. Ich wusste nicht, welche Methode hier vorherrschte: ob die Gräber beginnend von der Skulptur in der Mitte angelegt worden waren oder ob man sich ein bestimmtes Grab in einem bestimmten Areal aussuchen musste. Die Gräber lagen dicht an dicht. In der Ferne erkannte ich den Schuppen eines Friedhofgärtners und eine Kapelle – ein kleiner Marmorbau, der wahrscheinlich ein Mausoleum und eine Urnenhalle beherbergte. Auf der anderen Seite des Friedhofs fand gerade eine Beerdigung statt, während die Suche nach Victoria Flores weiterhin voll im Gange war. Ich hoffte inständig, dass mich niemand bemerken würde, schloss die Augen und streckte meine Fühler aus. Es gab so viele Signale, die ich durchgehen, so viele Rufe, denen ich Gehör schenken musste, dass ich zitterte. Aber ich ließ nicht locker. Frisch, frischer, am frischesten: Ich suchte nach den frischesten Rufen, nach etwas Brandneuem. Also nach jemandem, der erst gestern oder vor wenigen Stunden gestorben war. Hier, direkt vor mir. Ich öffnete die Augen und lief zu einem Grab, auf dem noch Blumenschmuck lag. Ich schloss die Augen erneut und streckte meine Fühler aus. »Nein«, murmelte ich, »hier ist sie nicht.« Ich wunderte mich nicht, als ich den Detective neben mir entdeckte. »Das ist Brandon Barstow, der bei einem Autounfall starb«, erklärte ich ihm. Ich streckte meine Fühler erneut aus. Ich spürte einen Sog aus dem Schuppen des Friedhofsgärtners. Er war noch ganz frisch. »Los geht’s!«, sagte ich zu niemandem im Besonderen und setzte mich in Bewegung. Ich achtete auf meine Schritte, denn wenn ich erst mal eine Spur aufgenommen habe, vergesse ich schnell, wo ich hintrete. Rudy Flemmons befand sich direkt hinter mir, aber er wusste nicht, wie er mir helfen konnte. Das war in Ordnung, ich schaffte es auch allein. Das Gras war nass, und die Kiefernnadeln sorgten dafür, dass der Boden an manchen Stellen rutschig war. Ich wusste, wo ich hinlief, jetzt gab es keinen Zweifel mehr. »Dort drüben wurde schon alles abgesucht«, sagte der Detective. »Trotzdem, da ist jemand«, erwiderte ich. Ich wusste schon, wie diese Suche ausgehen würde. »Man wird mir unterstellen, dass ich irgendwie davon wusste«, murmelte ich. »Und dann wird man versuchen, mich festzuhalten.« Die Leiche befand sich nicht in dem Schuppen und auch nicht gleich dahinter. Nach dem Schuppen fiel der Boden steil ab zu einem Entwässerungsgraben, wo eine dünne Erd- und Grasschicht eine unterirdische Wasserleitung bedeckte. Victoria lag in dem Wasserrohr. Man hatte ihre Leiche dort hineingestopft und so allen Blicken entzogen. Aber ich wusste, dass sie dort war, genauso wie ich wusste, dass sie angeschossen worden und verblutet war. Rudy sah verständnislos nach unten, und ich zeigte auf die Öffnung des Rohrs. Es gab nichts, was ich hätte sagen können. Er stolperte den Abhang hinunter und fiel auf die Knie. Er beugte sich vor und sah hinein. Dann schrie er. »Hier! Hier!«, brüllte er, und alle kamen angerannt. Jeder Polizist, der vor Ort war, einschließlich des Kerls, der den Wagen untersucht hatte. Rudy schien zu glauben, dass sie vielleicht noch am Leben war. Aber da täuschte er sich, er wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich finde nämlich keine Lebenden. Ich zog mich zurück und ging zu Victorias verlassenem Auto. Der Kofferraum stand offen. Ich ertappte mich dabei, wie ich hineinstarrte und vorgab, mich nicht näher dafür zu interessieren. Darin lagen Mappen, viele einzelne und einige, die von einem breiten Gummiband zusammengehalten wurden. Auf dem obersten Bündel stand »Lizzie Joyce«, und ehe ich wusste, was ich tat, griff ich danach und legte es in Rudys Wagen. Es waren noch genügend andere Mappen übrig, redete ich mir ein – und auch, dass wir es uns schuldig waren, unsere Feinde zu kennen. Im Nachhinein wurde auch mir klar, dass das falsch gewesen war. Ich hätte das lieber der Polizei überlassen sollen. Aber in diesem Moment fand ich es völlig selbstverständlich, ja, hielt es für einen besonders schlauen Schachzug. Mehr kann ich zu meiner Verteidigung nicht vorbringen. Einer dieser Leute hatte auf uns geschossen, und ich musste herausfinden, wer von ihnen das höchstwahrscheinlich gewesen war. Ich stieg in Rudys Wagen. Er hatte eine alte Jacke auf den Rücksitz geworfen, und ich nahm sie nach vorn und hüllte mich darin ein, als wäre mir kalt, was gar nicht mal gelogen war. Nach ein paar Minuten kam ein Uniformierter angelaufen und sagte, er würde mich ins Hotel zurückbringen. Ich hatte die Jacke angezogen, sie bis oben hin geschlossen und die Mappen darunter versteckt. Ich verließ Rudys Wagen und stieg in den Streifenwagen. Der Uniformierte, ein Mann um die dreißig, hatte einen kahl rasierten Schädel und ein finsteres Gesicht, was angesichts der Umstände nicht weiter verwunderlich war. Während der Fahrt machte er genau eine Bemerkung: »Damit das klar ist: Wir haben sie gefunden«, sagte er und warf mir einen Blick zu, der mich wohl das Fürchten lehren sollte. Es fiel mir nicht schwer, zustimmend zu nicken. Ich musste richtig eingeschüchtert gewirkt haben, denn anschließend schwieg er. Ich stieg recht unbeholfen aus, wegen der Mappen. Er muss sich gefragt haben, ob ich irgendwie behindert bin, aber das machte ihn auch nicht zuvorkommender. Mit verschränkten Armen betrat ich das Hotel und war froh über die sich automatisch öffnenden Türen, die es mir erlaubten, meine Hände an Ort und Stelle zu lassen und die Mappen in den Lift zu schmuggeln. Meine Hände waren kalt, und ich tat mich schwer, nach meiner Schlüsselkarte zu greifen und diese in den dafür vorgesehenen Schlitz zu stecken. Aber die Tür ging auf, und ich taumelte ins Zimmer. »Was ist passiert?«, rief Tolliver sofort, und ich eilte ins Schlafzimmer. Das Zimmermädchen war da gewesen und hatte das Bett gemacht. Er trug einen sauberen Schlafanzug und lag auf dem Bettüberwurf, wobei er sich mit der Sofadecke zugedeckt hatte. Die Vorhänge waren aufgezogen und gaben den Blick auf den erschreckend grauen Himmel frei. Während ich im Lift gewesen war, hatte es zu regnen begonnen. Das würde die Arbeit auf dem Friedhof verkomplizieren. Dicke Tropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Ich ging zum Bett, beugte mich darüber und zog Rudy Flemmons alte Jacke auf. Die Mappen plumpsten laut auf den Bettüberwurf. »Was hast du getan?«, fragte Tolliver weniger vorwurfsvoll als neugierig. Er machte den Fernseher aus und griff nach dem Bündel, aber ich war schneller. Ich löste das Gummiband, legte es für nachher beiseite und reichte ihm dann die oberste Mappe, auf der »Lizzie Joyce« stand. »Sie war also tatsächlich dort«, sagte er. »Verdammt, sie hat ihre kleine Tochter geliebt. Die Sache nimmt immer schlimmere Formen an. Hat es lange gedauert, bis du sie gefunden hast?« »Zehn Minuten«, sagte ich. »Ein Streifenpolizist hat mich zurückgebracht.« »Du hast die Mappen gestohlen?« »Ja. Aus Victorias Kofferraum.« »Wie wahrscheinlich ist es, dass sie danach suchen werden?« »Ich weiß nicht, wie genau sie hingesehen haben, bevor alle losgerannt sind, in der Hoffnung, sie wiederzubeleben. Vielleicht hatten sie schon Fotos gemacht.« Ich zuckte die Achseln. Ich konnte es nicht mehr rückgängig machen. »Nach was suchen wir?«, fragte er. »Wir versuchen herauszufinden, wer von diesen Leuten höchstwahrscheinlich auf dich geschossen hat.« »Dann hast du meine ungeteilte Unterstützung«, sagte er. Ich zog meine nassen, schlammbespritzten Stiefel aus und kletterte zu ihm ins Bett. Dann begann ich mit Kates Mappe, während er sich mit Lizzies beschäftigte. Eine Stunde später musste ich eine Pause einlegen und den Zimmerservice bestellen, damit er uns Kaffee und etwas zu essen brachte. Wir hatten noch nicht gefrühstückt, und es war schon fast elf. Wir hatten viel gelernt. »Sie war wirklich gut«, sagte ich. Ich hatte Victoria vorher nie besonders zu schätzen gewusst, aber jetzt tat ich es. In kürzester Zeit hatte sie unzählige Informationen zusammengetragen und viele Leute befragt. Tolliver war dankbar für eine Tasse Kaffee und freute sich auch über den Vollkornmuffin. Ich bestrich ihn mit Butter, ein ungewohnter Luxus. Er kaute, schluckte und nippte erneut an seinem Kaffee. »Meine Güte, schmeckt das gut nach dem Krankenhausfraß«, sagte er. »Lizzie Joyce ist eine schillernde Persönlichkeit, noch schillernder als auf dem Friedhof. Sie ist wirklich Champion im Tonnenrennen, und das gleich mehrfach. Außerdem hat sie öfter im Rodeo gewonnen. Schon als Teenager war sie Rodeo Queen, und zwar die des ganzen Bundesstaates. Außerdem hat sie die Highschool mit Auszeichnung abgeschlossen und war Dreizehnte ihres Jahrgangs an der Baylor University.« Ich hatte keine Ahnung, aus wie vielen Leuten ein Jahrgang an der Baylor University besteht, aber ich war schwer beeindruckt. »Was hat sie denn studiert? Ich bin bloß neugierig.« »Betriebswirtschaft«, sagte er. »Ihr Dad hatte sie bereits zur Nachfolgerin auserkoren. Den Joyces gehört die riesige Ranch, aber der Großteil des Geldes stammt aus dem Öl-Boom. Danach wurde es investiert, viel davon in Übersee. Es gibt gleich mehrere Steuerberater, die sich ausschließlich um die Firmenbeteiligungen der Joyces kümmern. Laut Victoria behalten sie sich gegenseitig im Auge, sodass sich keiner von ihnen Betrügereien erlauben kann, und wenn, nicht ungeschoren damit davonkommt. Die Joyces besitzen außerdem hohe Anteile an einer Anwaltskanzlei, die ein Onkel gegründet hat.« »Und was machen sie?«, fragte ich, Tolliver verstand sofort, was ich meinte, was im Grunde erstaunlich war. »Sie spenden viel für die Krebsforschung, denn daran ist die Frau von Rich Joyce gestorben. Sie unterhalten eine Ranch für behinderte Kinder. Das ist ihre größte Wohltätigkeitsorganisation. Sie ist fünf Monate im Jahr geöffnet, und die Joyces bezahlen die Angestellten, obwohl sie auch Spenden annehmen. Dann ist da noch die Hauptranch, die von Lizzies Freund Chip Moseley geleitet wird. Dort leben sie, wenn sie nicht gerade in ihren Apartments in Dallas oder Houston sind. Die Unterlagen über den Freund habe ich noch nicht gelesen.« »Ich komme gleich dazu«, sagte ich. »Kate, auch Katie genannt, ist nicht so klug wie ihre Schwester. Sie ist von der Texas A&M University geflogen, nachdem sie sich vor allem als wilde Partygängerin hervorgetan hat. Als Teenager wurde sie einige Male betrunken am Steuer erwischt, und sie hat das Wagenfenster eines Freundes zertrümmert, nachdem sie sich getrennt hatten. Seitdem scheint sie ein wenig erwachsener geworden zu sein. Sie arbeitet auf der kleinen Ranch, die für die behinderten Kinder gegründet wurde. Sie organisiert Fundraising-Veranstaltungen und macht Einkäufe. Ach ja, sie hat auch ein freiwilliges Praktikum im Zoo absolviert.« Das klang wirklich langweilig. Chip Moseley war da schon deutlich interessanter. Er hatte sich ganz schön hochgearbeitet. Seine Eltern waren gestorben, als er noch klein war. Danach war er in eine Pflegefamilie gekommen, und zwar auf eine Ranch. Er hatte das Rodeoreiten gelernt und sich darin einen Namen gemacht. Gleich nach der Highschool hatte er einen Job auf der Joyce-Ranch bekommen. Er hatte sich hochgeackert, die Abendschule besucht und managte jetzt den Viehhandel der Ranch. Er hatte schon eine Ehe hinter sich und war jetzt seit sechs Jahren mit Lizzie zusammen. Abgesehen von einem kleinen Gesetzeskonflikt mit Anfang zwanzig besaß er keinerlei Vorstrafen. Er war mal in eine Kneipenschlägerei in Texarkana verwickelt gewesen. Zu meiner Überraschung kannte ich den Namen des Lokals. Meine Mutter und mein Stiefvater waren dort manchmal hingegangen. Das Lesen hatte mich ermüdet und ich ließ mich zurück auf mein Kissen sinken. Tolliver erzählte mir, was in Victorias Unterlagen über Drex stand, obwohl ich mir das meiste schon nach zehn Minuten in Drex’ Gesellschaft zusammengereimt hatte. Der einzige männliche Nachkomme der Joyces war die totale Enttäuschung. Er hatte seine Freundin von der Highschool geschwängert, und die beiden waren zusammen abgehauen, um zu heiraten. Ein halbes Jahr später hatten sie sich wieder scheiden lassen. Drex zahlte Unterhalt für das Kind und seine Mutter. Mit achtzehn war er zu den Marines gegangen, um seinem Vater eins auszuwischen. Dort hatte er die Grundausbildung absolviert, bis er ein Magengeschwür bekam. Vielleicht hatte sich ein bestehendes Magengeschwür auch nur verschlechtert. Wie dem auch sei, er war ehrenhaft entlassen worden und hatte mal dies, mal jenes auf der großen Ranch seines Vaters erledigt. Phasenweise hatte er auch mit den behinderten Kindern gearbeitet und im Büro einer Firma, die dem Freund seines Vaters gehörte. Was genau er dort getan hatte, ging nicht aus den Unterlagen hervor. »Wahrscheinlich nicht viel, und wahrscheinlich nicht sehr erfolgreich«, sagte Tolliver. »Ich glaube, er hat nie studiert.« »Er tut mir leid«, sagte ich und gähnte. »Wie alt wohl Victorias Mom ist? Ob sie das Kind allein großziehen kann? Wer ist der Vater? Hat Victoria dir das jemals erzählt?« »Ich habe mich schon mal gefragt, ob es mein Vater ist«, sagte Tolliver, und ich erstarrte mitten in einem neuen Gähnanfall. »Du machst keine Witze«, stellte ich fest. »Du meinst das ernst.« »Ja«, erwiderte er. »Victoria war nach Camerons Verschwinden häufig bei uns. Aber als ich der Sache nachging, stimmte das Timing nicht. Ich glaube, er saß schon im Gefängnis, als das Kind gezeugt wurde. Ich habe noch nie verstehen können, was Frauen an ihm finden.« »Ich ganz bestimmt nichts«, sagte ich vollkommen aufrichtig. »Zum Glück. Du magst größere, schlankere Männer, stimmt’s?« »Und ob ich das tue!« Wir fassten uns bei den Händen, und ich schmiegte mich enger an Tolliver. Wir schwiegen eine Weile und sahen zu, wie der Regen gegen das Fenster prasselte. Der Himmel hatte beschlossen, sein Trauerkleid anzulegen. Mir taten alle leid, die noch am Tatort waren. Im Grunde mussten sie mir dankbar sein, dass ich Victoria so schnell gefunden hatte – gerade noch rechtzeitig, dass sie ihre Leiche aus dem Abflussrohr bergen konnten. Ich musste an die Joyces denken, was sie für typische reiche Gören geworden waren. Sie taten auch Gutes, aber ich interessierte mich für die bösen Dinge. Ich fand es vielsagend, dass keiner von ihnen glücklich verheiratet war – obwohl sie alle im entsprechenden Alter waren. Dem einen oder anderen würde es vielleicht doch noch beschieden sein. Ich dachte gerade an die Binsenweisheit, dass Geld nicht glücklich macht, als mir auffiel, dass Mark, Tolliver, Cameron und ich auch nicht gerade ein erfülltes Leben führten. Cameron war Gott weiß wo, Mark hatte meines Wissens noch nie eine ernst zu nehmende Freundin gehabt, und Tolliver und ich … »Möchtest du wirklich heiraten?«, fragte ich. »Ja, das möchte ich«, sagte Tolliver, ohne eine Sekunde zu zögern. »Ich würde dich gleich morgen heiraten, wenn das ginge. Du zweifelst doch hoffentlich nicht daran? Oder bist du dir nicht sicher, ob wir zusammenpassen?« »Nein«, sagte ich. »Ich habe keinerlei Zweifel. Du bist wirklich ganz anders als die beziehungsunfähigen Typen aus den Zeitschriften, Tolliver.« »Du bist auch ganz anders als die Frauen in den Männermagazinen. Und das ist jetzt als Kompliment gemeint.« »Wir kennen uns eben«, sagte ich. »Auch unsere größten Schwächen. Ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht vorstellen. Klinge ich jetzt wie eine Klette? Ich kann versuchen, unabhängiger zu werden.« »Du bist unabhängig. Du triffst Tag für Tag zahlreiche Entscheidungen«, sagte er. »Mir fällt es bloß leichter, mich um das Organisatorische zu kümmern, bevor du machst, was du am besten kannst. Anschließend reisen wir weiter, und ich bin wieder dran.« Irgendwie klang das nicht sehr gleichberechtigt. »Wo ist Manfred?«, fragte er plötzlich aus heiterem Himmel. »Puh, keine Ahnung. Ich soll ihn anrufen, wenn ich ihn brauche. Er hat mir nicht verraten, wohin er fährt und was er dort vorhat.« »Er hat wirklich eine Schwäche für dich.« »Ja, ich weiß.« »Und du? Wenn ich nicht wäre, würdest du dich dann mit dem Piercingwunder zusammentun?« Er sagte es in einem neckenden Ton, erwartete aber eine Antwort von mir. Ich war nicht so dumm, ernsthaft darauf einzugehen. »Spinnst du? Das wäre wie ein Hamburger im Vergleich zu einem Steak«, sagte ich loyal. Wobei es allerdings Tage gab, an denen ich wirklich Lust auf Hamburger hatte. Und es würde bestimmt auch Zeiten geben, in denen Tolliver anderen Frauen hinterhersah. Wenn sich das jedoch alles auf Blicke beschränkte, durfte ich mir auch welche gönnen. Ich wusste, wen ich liebte. »Nun, nach Durchsicht der Unterlagen – wen siehst du am ehesten in der Rolle des Schützen?«, fragte er munter. »Es könnte jeder von ihnen gewesen sein«, erwiderte ich. »Eine deprimierende Erkenntnis. Aber angesichts des Risikos, einen großen Teil ihres Vermögens zu verlieren, könnte jeder von ihnen beschlossen haben, dass es niemals so weit kommen darf. Sogar Chip Moseley. Er rechnet sich bestimmt aus, Lizzie zu heiraten. Und es wäre zu viel verlangt, dabei nicht auch an das viele Geld zu denken. Er dürfte den Umfang des Joyce’schen Vermögens besser kennen als die meisten Freunde, da er die große Ranch führt. Ich wette, er hat auch Einblick in die restlichen Finanzen.« »Ja, bestimmt. Ich neige dazu, Lizzie auszuschließen, da sie diejenige war, die dich beauftragt hat. Sie musste damit rechnen, dass du dein Handwerk beherrschst. Wenn sie die Mörderin wäre, wäre sie dieses Risiko niemals eingegangen. Dann hätte sie auch gewusst, dass der Tod ihres Großvaters kein natürlicher war, denn die Schlange, die den Herzinfarkt auslöste, flog schließlich nicht zufällig durch die Luft. Irgendjemand hat sie nach ihm geworfen. Vielleicht dachte derjenige, sie würde ihn beißen, aber stattdessen erlitt Rich einen Herzinfarkt, was sogar noch besser war. Jetzt brauchte diese Person nur noch dafür zu sorgen, dass Rich nicht an sein Handy kam, und damit war der Fall erledigt.« »Das war eiskalt«, sagte ich. »Und wer dazu in der Lage ist, ist wirklich böse.« »Auf wen, glaubst du, hat der Schütze gezielt, auf mich oder auf dich?«, fragte Tolliver. »Ich weiß, dass wir nichts beweisen können, aber das wäre schon interessant.« »Vor allem für dich.« Er lachte. Zwar nur ein bisschen, aber ich freute mich. Wie sehr ich das vermisst hatte! Ich wollte gerade etwas sagen, als es an der Tür klopfte. Wir seufzten beide. »Ich bin es leid, dass ständig an unsere Tür geklopft wird und jemand kommt, der schlechte Nachrichten für uns hat«, sagte ich. »Hier im Hotel sind wir eine leichte Zielscheibe.« Das wäre bei einem eigenen Zuhause wahrscheinlich ähnlich gewesen, hätte sich aber ganz anders angefühlt. Ich benutzte den Türspion, und zu meiner Überraschung sah ich Manfred. Da wir gerade von ihm gesprochen hatten, fühlte ich mich wie ertappt, als ich ihn hereinließ. Er warf mir einen vielsagenden Blick zu und wusste also, was mir durch den Kopf ging. »Wie geht es unserem Invaliden?«, fragte er. In dem Moment kam Tolliver aus dem Schlafzimmer, und Manfred sagte: »Hallo, Kumpel! Wie ist es so, angeschossen zu werden?« »Das wird überschätzt«, sagte Tolliver. Wir setzten uns. Ich bot Manfred eine Cola oder ein Mineralwasser an, und er nahm die Cola. »Ich habe das mit der Detektivin gehört«, sagte Manfred. »Sie hat für euch gearbeitet, nachdem eure Schwester entführt wurde, oder?« Ich staunte, dass er das wusste. Ich konnte mich nicht erinnern, das in seiner Gegenwart je erwähnt zu haben. »Ja«, sagte ich. »Das stimmt. Woher weißt du das?« »Es kam in den Nachrichten. Wegen ihres Buches.« Ich sah ihn fragend an. »Wusstest du nicht, dass Ms Flores an einem Buch schrieb? Hat sie dir nichts davon erzählt?« »Nein«, sagte ich. Tolliver schwieg. »Ja, es sollte ›Eine Detektivin in Texas‹ heißen. Sie hatte sogar schon einen Verlag dafür.« »Wirklich?« Ich war wie vom Donner gerührt. »Ja, wirklich. Camerons Fall war der Auslöser dafür, dass sie die Polizei verließ und Detektivin wurde. Ihre fortwährende Suche nach Cameron ist das Thema des Buches.« Ich wusste nicht, was ich davon halten, wie ich darauf reagieren sollte. Es gab keinen Grund, mich hintergangen zu fühlen, aber genau den Eindruck hatte ich. Besonders unangenehm fand ich die Vorstellung, dass jeder für den Preis eines Buches Einblick in mein schlimmstes Erlebnis überhaupt bekommen konnte. »Hat sie dir gestern Abend davon erzählt?«, fragte ich Tolliver. Er nickte. »Ich wollte es dir sagen, aber dann kam Rudy Flemmons, um dich abzuholen«, sagte er. »Du hattest anschließend noch reichlich Gelegenheit dazu.« Er zögerte. »Ich wusste nicht, wie du es aufnehmen würdest.« »Ich wünschte, ich hätte das Manuskript statt der Mappen gestohlen«, sagte ich, und Manfred sah mich neugierig an. »Welche Mappen? Weiß die Polizei, dass du sie hast? Was ist da drin?« »Ich habe ein paar Unterlagen aus ihrem Kofferraum geklaut«, sagte ich. »Die Polizei würde Hackfleisch aus mir machen, wenn sie wüsste, dass ich sie habe. Es geht um die Joyces.« »Aber über Mariah Parish gibt es keine?« »Nein«, sagte Tolliver. »Sollte es das?« »Ehrlich gesagt, nein«, sagte Manfred. »Weil ich sie habe.« Mit einer typischen Bernardo-Geste zauberte er sie aus seiner Jacke. Er hatte sie genauso versteckt wie ich meine, nur dass es sich bei ihm um nur eine einzige Mappe handelte. »Wo zum Teufel hast du die her?« Tolliver rutschte auf die Sofakante. Er starrte Manfred an, als hätte dieser ein Baby hereingeschmuggelt. Mit einer Mischung aus Faszination und Bewunderung. »Gestern bin ich noch spätabends an ihrem Büro vorbeigefahren. Da habe ich gesehen, dass die Tür offen stand«, sagte Manfred. »Eine innere Stimme sagte mir, dass es wichtig wäre, mit ihr zu reden. Aber ich kam zu spät. Ich nehme an, das war, bevor sie vermisst gemeldet wurde. Ich ging hinein und fragte die Geister, ob es irgendetwas gäbe, nach dem ich suchen sollte. Etwas, das sich auf – keine Ahnung wen bezieht.« Wir starrten ihn beide mit offenem Mund an, und zwar nicht, weil er die »Geister« erwähnt hatte. »Hatte jemand Victorias Büro durchwühlt?«, fragte ich. »Ja«, sagte er. »Irgendjemand hatte es gründlich auf den Kopf gestellt. Aber nicht gründlich genug.« Er schwieg, um die Spannung zu steigern. »Irgendetwas zog mich zu ihrem Sofa«, fuhr er dann fort, wobei der Moment ein wenig durch Tollivers Schnauben ruiniert wurde. »Doch, wirklich!«, sagte Manfred und wirkte auf einmal sehr jung. »Jemand hatte die Sitzpolster weggenommen. Aber es war ein Schlafsofa, wie das, auf dem ich bei Oma zu übernachten pflegte. Ich habe es ausgeklappt und die Unterlagen darin gefunden. Wahrscheinlich hat jemand an die Tür geklopft, woraufhin sie sie dort schnell hineinschob.« »Und so wie es aussieht, hattest du keine Probleme, sie zu entwenden.« Tollivers Stimme war staubtrocken. »Nein«, gab Manfred zu. Er hatte ein strahlendes Lächeln aufgesetzt, das einzig Strahlende an diesem Tag. »Wir haben eine Tote bestohlen«, sagte ich, plötzlich entsetzt über meine Tat. »Und wir haben der Polizei Beweismaterial vorenthalten.« »Wir versuchen, dein Leben zu retten«, sagte Manfred. Tolliver warf dem Hellseher einen misstrauischen Blick zu. Ich dachte schon, der würde etwas sagen, doch er nickte nur. »Aber die eigentliche Frage lautet doch: Wer stand vor ihrer Bürotür?«, fragte Tolliver. »Kannst du uns da auch weiterhelfen, Manfred?« Manfred wirkte sehr selbstzufrieden. »Vielleicht schon. Denn während ich in ihrem Büro war, nahm ich eine Nagelfeile aus ihrem Stiftehalter. Das ist ein sehr persönlicher Gegenstand, an dem sich noch Hautzellen finden. Ich werde sie für eine Sitzung verwenden und sehen, was ich herausfinde. Das kann hilfreich sein, muss es aber nicht. Man kann sich nicht darauf verlassen, deshalb schwindeln ja auch so viele in unserer Branche.« Da konnten wir ihm nicht widersprechen. Die meisten »Hellseher« sind Betrüger, selbst diejenigen, die über eine echte Gabe verfügen. Hellseher müssen auch von irgendwas leben, und wenn man sein Geld damit verdienen kann, dass man in einem Schaufenster sitzt und Mrs Sentimental erzählt, dass ihre Fluffy gerade im Paradies schnurrt, tut man das eben, wenn einen die Gabe im Stich lässt. »Was brauchst du, um loszulegen?«, fragte ich. Jeder Hellseher, den ich kenne, besitzt sein eigenes Ritual. »Nicht viel«, sagte er. »Bitte ganz leise sein. Schließt kurz die Augen, dann stimme ich mich ein.« Das fiel uns nicht weiter schwer. Tolliver und ich schlossen die Augen, und seine Hand fand die meine. Ich konnte mich entspannen und überlegen, wo genau sich Manfred in diesem erweiterten Bewusstseinsstrom befand, in jenem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, zwischen dieser und der nächsten Welt. Dort halte ich mich auf, wenn ich auf die Knochen in der Erde hinabsehe. An einem Ort, den Manfred jetzt ebenfalls erkundete. Es ist nicht weiter schwer, dorthin zu gelangen, aber manchmal ist es verdammt schwer, zurückzukommen. Im Zimmer war es still, vom Rauschen der Klimaanlage einmal abgesehen. Nach ein, zwei Minuten glaubte ich, meine Augen öffnen zu können. Manfred hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Er wirkte so entspannt wie eine leblose Puppe. Ich hatte Manfred noch nie in Aktion erlebt. Es war interessant, aber auch unheimlich. »Ich mache mir Sorgen«, sagte Manfred plötzlich. Ich machte gerade den Mund auf, um ihn zu beruhigen, als ich merkte, dass Manfred sich nicht mit uns unterhielt. Er lieh Victoria seine Stimme. »Ich sitze vor dem Computer. Ich habe in kurzer Zeit sehr viel herausgefunden, genug, um weitermachen zu können. Ich habe so einige Hypothesen. Wenn Mariah so gestorben ist, wie Harper gesagt hat, ist die Chance groß, dass das Kind noch am Leben ist. Wer würde ihr das Baby wegnehmen? Und wohin würde derjenige das Baby bringen? In ein Waisenhaus? Ich werde also alle Waisenhäuser zwischen Dallas und Texarkana abtelefonieren. Ich kann mich erkundigen, ob um Mariahs Sterbedatum herum ein kleines Mädchen abgegeben wurde. Vielleicht kann ich noch heute Abend ein paar anrufen.« Wow, Victoria war wirklich eine gute Detektivin gewesen. »Ich mache mir Sorgen«, fuhr Manfred fort und bewegte unruhig den Kopf. »Ich habe mit allen Joyces und mit dem Freund gesprochen. Ich habe mir eine Liste mit den anderen Angestellten gemacht, die für Rich Joyce arbeiteten, als Mariah auch dort war. Aber ich weiß nicht, wie weit ich damit komme. Mehr schaffe ich heute nicht mehr. Ich glaube, jemand ist mir zum Büro gefolgt. Rudy?« Manfred tat so, als hielte er ein Handy. »Ich spreche dir nur ungern auf den Anrufbeantworter, denn wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Aber ich glaube, dass mich jemand verfolgt. Und wenn man schon das Glück hat, mit einem Polizisten befreundet zu sein, sollte man ihn anrufen, wenn man in der Klemme steckt. Ich möchte ihn nicht zu meiner Mom führen, wenn ich MariCarmen abhole. Na ja … tschüs. Ich werde das Büro in etwa zehn Minuten verlassen. Ich muss noch ein paar Anrufe machen.« Manfred berichtete uns in der ersten Person, was Victoria gedacht hatte, und er sprach so, als wäre er sie. Jetzt bewegten sich Manfreds Hände. Er machte irgendetwas, woraus ich allerdings nicht schlau wurde. Ich sah Tolliver an und hob fragend die Brauen. Tolliver zeigte auf den Stapel mit Unterlagen auf dem Couchtisch. Gleich darauf begriff ich. Victoria schob die Unterlagen zu einem ordentlichen Stapel zusammen, steckte sie in eine Mappe und legte sie auf die anderen. Dann holte sie ein Gummiband aus einer Schublade und zog es um den Stapel. »Ich lege das nur schnell in den Kofferraum«, flüsterte sie. »Danach erledige ich meine Anrufe.« Manfreds Füße und Schultern bewegten sich unmerklich, was nahelegte, dass Victoria (verkörpert von Manfred) hinausging, den Kofferraum öffnete, die Unterlagen hineinwarf, den Kofferraum schloss und wieder zurückkam. Das war eine sehr merkwürdige Erfahrung. Erhellend, aber merkwürdig. »Da kommt jemand«, murmelte Victoria alias Manfred. »Hm.« Jetzt verstand ich besser, warum ich manche Leute so nervös mache, nachdem sie gesehen haben, wie ich mit Übernatürlichem Kontakt aufnehme. Mit dem unsichtbaren Teil unserer Welt, der für die meisten nur schwer zugänglich ist. Ich spürte die Anspannung in Tollivers Hand. Wieder suggerierten Zuckungen in Manfreds Körper, dass er Victorias Bewegungen nachvollzog. Er schien eindeutig an etwas zu ziehen. Ich war mir sicher, dass er die Schlafcouch auszog, um Mariahs Mappe zu verstecken. Victoria – nein, Manfred – wandte abrupt den Kopf und riss entsetzt die Augen auf. »Ich werde sterben«, sagte er. »Oh Gott, ich werde noch heute Nacht sterben.« 14 Manfred brauchte mindestens eine Viertelstunde, bis er nicht mehr Victorias letzte Minuten durchlebte. »Wen hat sie gesehen?«, fragte Tolliver. »Das weiß ich nicht«, sagte Manfred. »Ich konnte niemanden erkennen.« »Na, das hat uns ja wirklich wahnsinnig weitergeholfen«, bemerkte Tolliver, woraufhin ich eine Hand auf seine Schulter legte (auf seine gesunde, natürlich). »Das hat uns durchaus weitergeholfen«, sagte ich. »Wir wissen, was Victoria gedacht hat, und wir wissen, dass sie wegen dieses Falles umgebracht wurde. Davon ging Victoria aus, denn sonst hätte sie diese Unterlagen nicht versteckt. Sie befürchtete, jemand könnte ihr Büro durchsuchen, sie verfolgen. Deshalb hatte sie die anderen Unterlagen über die Joyces bereits in ihr Auto gebracht. Sie glaubte nicht, dass man ihr etwas antun würde, aber sie hat ihren Ex-Freund Rudy Flemmons angerufen, damit er auf sie aufpasst. Er ist nicht ans Telefon gegangen oder hat ihre Nachricht nicht rechtzeitig erhalten. Kein Wunder, dass er jetzt am Boden zerstört ist.« »Das alles wissen wir, aber weiterhelfen tut uns das nicht.« Tolliver blieb stur. »Lass uns Mariahs Akte anschauen. Vielleicht bringt uns das weiter.« Manfred wirkte erschöpft, ja regelrecht gealtert. Er sah sehr einsam aus. Ich hatte großes Mitleid mit ihm, wollte es aber nicht übertreiben. Mitleid und eine vage körperliche Anziehung reichten nicht aus, um meine Beziehung zu Tolliver aufs Spiel zu setzen. Manfred musste sich eindeutig eine andere suchen. Ich fragte mich, welche Frau wohl zu Manfred passen würde, bis mir klar wurde, dass die Antwort lautete: jede außer mir. Inzwischen war es fast fünf Uhr nachmittags. Ich bestellte beim Zimmerservice etwas zu essen und Kaffee, bevor ich nach den Unterlagen griff. Ich blätterte die erste Seite mit Mariahs persönlichen Daten auf und las sie sorgfältig durch. Dann reichte ich sie Tolliver, der sie seinerseits studierte. Während wir uns die Informationen ansahen, die Victoria über Mariah zusammengetragen hatte, las Manfred die Unterlagen über die Joyces. »Mariah Parish war nicht die, als die sie sich ausgab«, sagte ich, was noch untertrieben war. Tolliver schüttelte den Kopf. »Das kann man wohl sagen! Hätten die Joyces ihre Referenzen besser überprüft, hätten sie sie niemals eingestellt.« Mariah war keine Betrügerin. Sie war eine Waise gewesen, genau wie sie gesagt hatte. Sie hatte einen anderen kranken älteren Mann, Arthur Peaden, gepflegt, bevor sie zu Rich Joyce gekommen war. Sie hatte ihre Arbeit gut gemacht, denn es gab großes Lob von Art Peadens Nachkommen. Sie hatten erzählt, wie liebenswert und wie gewissenhaft Mariah gewesen sei, als sie sich um ihren Vater kümmerte. Sie hatte auch ein Fernstudium absolviert. Irgendwann hatte sie Abende frei bekommen, um die Seminare persönlich zu besuchen. Und schließlich hatte sie einen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht. Nebenbei hatte Mariah online an der Börse gehandelt, und zwar nicht zu knapp. Anfangs hatte sie Geld verloren, aber dann hatte sie sich trotz der abflauenden Märkte gut gehalten. Die Babysitterin eines Erwachsenen profitierte dermaßen von ihrem Job, wie es niemand für möglich gehalten hätte. »Wow«, sagte Tolliver bewundernd. »Sie hat sich sämtliche Tricks beigebracht.« »Ich nehme an, ihr ›Patient‹ hat in ihrem Beisein kein Blatt vor den Mund genommen, genau wie seine Freunde und Familienangehörigen. Und sie hat sich alles zunutze gemacht, was sie so mitbekam.« »Pflegerin bei Tag und Börsenhändlerin bei Nacht«, sagte Manfred. »Man muss sie direkt für ihre Nerven und ihre Zielstrebigkeit bewundern.« »Und für ihre Heimlichtuerei«, sagte ich und zog die Nase kraus. »Grenzt das nicht an Betrug?« »Ich weiß nicht«, sagte Tolliver nach langem Schweigen. »Findest du? Sie hat bestimmt nie behauptet, ungebildet zu sein und keinen besseren Job zu finden. Sie ließ ihre Arbeitgeber zwar in dem Glauben, aber das war nur eine Rolle, die sie spielte. Sie war wirklich clever und wollte so gut, wie es ging, von der Situation profitieren.« »Clever«, sagte Manfred. Es klang anerkennend. »Sie hatte zwei Gesichter und war nicht wirklich aufrichtig.« »Das ist der Neid der Besitzlosen«, sagte Manfred lächelnd. »Das sagst du nur, weil du noch nicht auf die Idee gekommen bist, die Gedanken der Toten auf Börsentipps hin zu durchforsten.« »Zu dumm, dass ich daran noch gar nicht gedacht habe«, konterte ich. »Ich muss mir also einen Friedhof suchen, dort nach dem Grab eines Finanzgenies Ausschau halten und gucken, ob er mir in den letzten Minuten seines Lebens noch ein paar Tipps geben kann.« »Mariah hat mehr oder weniger genau das getan«, sagte Manfred. Wenn ich näher darüber nachdachte, hatte er gar nicht mal so unrecht. »Ich frage mich, ob sie das von Anfang an geplant oder ob es sich bloß so ergeben hat.« Ich betrachtete das Foto der jungen Mariah, die einen kinnlangen Bob mit Pony trug. Sie hatte rotes Haar, Sommersprossen, braune Augen und eine Stupsnase. Fehlten nur noch ein Strohhut, ein Overall und ein Eierkorb am Arm. Doch hinter dieser harmlosen Niedlichkeit steckte ein eiserner Wille. »Bestimmt hat sie breitesten Dialekt gesprochen«, meinte Manfred. »Und zwar mit Absicht.« Mariah Parish war scharfsinniger und intelligenter gewesen, als ihr Äußeres vermuten ließ. Sie hatte eine Methode gefunden, mit der sie überleben und gutes Geld verdienen konnte. Und sie hatte sich gewissenhaft um diejenigen gekümmert, die sie engagiert hatten. »Gar nicht so schlecht, Mariah«, sagte ich und prostete ihr mit meinem Kaffeebecher zu. Unsere Sandwiches waren gebracht worden, und wir fielen wie ausgehungert darüber her. »Und zwar so lange, bis sie schwanger wurde«, sagte Tolliver. »Ich wünschte, wir wüssten, wer der Vater ist«, sagte ich. »Das ist die Millionenfrage.« »Ich glaube, es geht weniger um den leiblichen Vater«, korrigierte mich Manfred. »Sondern um denjenigen, der sich dafür hielt.« »Ich nehme nicht an …?« Ich zeigte auf das Foto. »Kannst du auf deine Weise vielleicht noch mehr über sie herausfinden?« »Nein, nicht ohne einen Gegenstand, der ihr persönlich gehört hat«, sagte er. »Lebend habe ich sie schließlich nie kennengelernt.« »Der Vater war entweder Rich Joyce oder Drexell oder vielleicht sogar Chip Moseley.« Ich dachte laut. »Oder jemand ganz anderes. Wichtig ist nur, dass einer von ihnen glaubt, der Vater zu sein«, meinte Tolliver. »Wir gehen also davon aus, dass sie Sex mit einem dieser Typen hatte. Wenn sie mit Rich Joyce Sex hatte, wäre es der absolute Coup gewesen, von ihm schwanger zu werden! Gut, er hatte einen Herzinfarkt, von dem er sich allerdings gut erholt hatte. Er war sehr aktiv und noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Dieses Kind hätte wahrscheinlich dieselben Rechte wie die anderen Kinder gehabt, und Lizzie, Kate und Drexell wären Millionen Dollars entgangen.« Ich griff nach einem weiteren Clubsandwich und biss hinein. Danach musste ich mir die Krümel von meiner Bluse fegen. »War Drexell vor neun Jahren noch verheiratet?« »Das weiß ich nicht. Wir müssen in Victorias Unterlagen nachsehen.« Manfred blätterte mehrere Seiten durch. »Ja, das war er, genauso wie Chip.« »Aha«, sagte Tolliver und streckte die Beine aus. Er legte seine Füße auf den Couchtisch, der mittlerweile von Papieren, Tellern und Gläsern übersät war. »Warum jetzt? Warum geschieht das alles jetzt? Mariah und Rich liegen schon seit acht Jahren unter der Erde. Warum jetzt?« »Weil Lizzie Joyce nach dem Fall in North Carolina auf Harpers Webseite gestoßen ist«, sagte Manfred, als wäre das das Selbstverständlichste von der Welt. »Für sie ist das Beste gerade gut genug. Und wenn sich Lizzie Joyce einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht sie das auch durch. Wir wissen nicht, welche Argumente ihre Freunde und Verwandten gegen Harper ins Feld geführt haben. Wir wissen nicht, wie oft sie ihr gesagt haben, dass sie spinnt.« »Wenn ich mich auf meinen persönlichen Eindruck verlasse«, sagte Tolliver, »schätze ich, dass sie nicht sehr freundlich darauf reagiert hat. Sie wollte, dass Harper kommt, und sie hatte das Geld, uns ein lohnenswertes Geschäft in Aussicht zu stellen. Doch dann unterlief ihr ein furchtbarer Fehler: Sie führte Harper nicht direkt zu Richs Grab. Sie ließ Harper herumlaufen und ihre Fühler nach anderen Gräbern ausstrecken. Und Harper landete auf dem von Mariah. Lizzie konnte Harper glauben oder es lassen. Aber da sie ihr gutes Geld gezahlt hatte, beschloss Lizzie, ihr zu glauben. Jetzt wusste Lizzie, dass Mariah schwanger gewesen war und dass ihr Tod wahrscheinlich hätte verhindert werden können. Oder dass die Geburt zumindest unter Umständen stattfand, die alles andere als günstig oder normal waren, weshalb sie sich nicht davon erholte. Das Baby lag nicht bei ihr im Sarg, also ist etwas mit ihm geschehen. Mariahs Todesursache wurde mit einer Infektion angegeben, aber um welche Infektion es sich dabei handelte, verschwieg man. Ich frage mich, ob der Arzt, der den Totenschein ausstellte, den wahren Grund kannte.« »Dem können wir nachgehen«, sagte ich. »Wir können ihn aufsuchen und ihm Fragen stellen. Befindet sich eine Kopie des Totenscheins bei Mariahs Unterlagen?« Mir fiel auf, dass Tolliver müde aussah, und es war Manfred, der die Kopie des Totenscheins fand. »Dr. Tom Bowden«, sagte er. Ich rief die Auskunft an, aber in dem kleinen Ort neben der Joyce-Ranch gab es niemanden dieses Namens. Als Nächstes versuchte ich es in Texarkana, aber auch dort wohnte kein Dr. Tom Bowden. Manfred ging in unser Schlafzimmer und kehrte mit dem riesigen Telefonbuch von Dallas zurück. Er schlug die Rubrik »Ärzte« in den Gelben Seiten auf und verkündete triumphierend, dass ein Dr. Bowden aufgeführt war. »Den müssen wir morgen aufsuchen«, sagte ich. »Tolliver braucht jetzt Ruhe.« »Oh, natürlich, klar«, sagte Manfred entwaffnend schuldbewusst. »Tut mir leid, Tolliver. Ich hatte ganz vergessen, wie gehandicapt du bist.« Tolliver runzelte die Stirn »Mir geht es von Tag zu Tag besser«, sagte er. »Klar«, versicherte ihm Manfred. »Da ich noch Energie habe, werde ich in der Zwischenzeit die Praxis dieses Arztes ausfindig machen.« »Bist du dir da wirklich sicher?«, fragte ich. »Vielleicht ist das keine gute Idee.« »Ich sehe sie mir nur mal kurz an«, meinte Manfred. »Ich habe nicht umsonst ein Navi und werde es einsetzen. Danke für das Abendbrot.« Er schob das Wägelchen vom Zimmerservice für mich hinaus auf den Flur, während ich Tolliver aufhalf. Zum ersten Mal seit Stunden nahm Tolliver zusätzlich zu den anderen Tabletten ein Schmerzmittel. Insgeheim machte ich mir Vorwürfe, dass ich nicht gemerkt hatte, wie müde er geworden war. Ich half ihm beim Ausziehen, und irgendwann lag er endlich mit seiner Schlafanzughose und seiner Medikamentenration im Bett. Ich fand eine Folge von ›Law and Order‹ und machte es mir gemütlich. Tolliver war keine zehn Minuten später eingeschlafen. Ich war erschöpft. Ich hatte über die Joyces, über Mariah Parish, über Victoria und ihre Tochter nachgedacht. Den ganzen Tag waren mir fremde Leute im Kopf herumgeschwirrt, und dann noch Rudy Flemmons Trauer. Jetzt wollte ich an nichts mehr denken und nicht die Last fremder Gefühle tragen. Es tat unheimlich gut, ins Wohnzimmer zu gehen und mir den dämlichsten Film anzusehen, den ich finden konnte. Dabei lackierte ich mir Finger- und Fußnägel. Ich rief meine kleinen Schwestern an und telefonierte zwanzig Minuten mit ihnen, bevor Iona meinte, sie müssten in die Badewanne. Iona versuchte das Gespräch auf meine Beziehung mit Tolliver zu bringen, aber ich ließ mich nicht darauf ein. Ich legte auf und war zufrieden mit mir – ein angenehmes Gefühl nach den vielen unerfreulichen Erlebnissen der letzten Tage. Apropos unerfreuliche Erlebnisse: Ich rief im Krankenhaus an und erkundigte mich nach Detective Powers. Die Rezeption verband mich mit dem Wartezimmer, und ich sagte dem Mann am anderen Ende, dass ich mit Beverly Powers sprechen wolle. »Sie kann gerade nicht ans Telefon. Parker ist soeben verstorben«, sagte die Männerstimme, danach wurde aufgelegt. Der Mann weinte. Egal, wie oft ich mir sagte, dass ich Parker Powers nicht umgebracht hatte: Hätte er nicht versucht, mich zu beschützen, wäre er bestimmt noch am Leben. Leider gab es keine Zauberformel, mit der ich das rückgängig machen konnte. Und auch keine Philosophie, die den Schmerz seiner Freunde und Verwandten lindern konnte. Ich schaffte es nicht, die Erinnerung daran, wie er zusammengebrochen war und das Blut aus seiner Wunde strömte, während ich im Schatten des Wagens kauerte, zu verdrängen. Ganz besonders ärgerlich war, dass ich mich vor dem Mann, der so etwas Abartiges getan hatte, verstecken musste. Das war der Stolz, der aus mir sprach. Aber wenn jemand versucht, einen umzubringen, ist es sehr wohl sinnvoll, sich zu verstecken. Trotzdem passte das so gar nicht zu dem Bild, das ich von mir hatte. Vielleicht lag es an den Comics, die ich als Kind gelesen hatte, oder an den Frauenthrillern, die ich jetzt las. Darin ist jede Detektivin oder Polizistin in der Lage, die Bürger ohne Skrupel zu beschützen und den Bösewicht zur Strecke zu bringen. Jede Comic-Heldin agiert völlig angstfrei und vollbringt wahre Heldentaten, wenn es darum geht, die Menschheit zu retten. Ich dagegen hatte mich von einem abgehalfterten, nicht besonders hellen Ex-Footballspieler beschützen lassen, und er war dabei ums Leben gekommen. Er wusste, dass er in Gefahr war. Er wusste, dass das zu seinem Job gehört. Er war bereit, das Risiko einzugehen, sagte mir mein gesunder Menschenverstand. Und ich habe es bereitwillig zugelassen, musste ich mir eingestehen. Ich überlegte, was ich sonst hätte tun können. Wenn ich darauf bestanden hätte, allein zu joggen, wäre er mir dann trotzdem gefolgt? Vielleicht. Was, wenn ich beschlossen hätte, im Hotel zu bleiben? Ja, dann wäre er noch am Leben. Ich fühlte mich Parker Powers verpflichtet und konnte nur hoffen, nicht noch einmal zu versagen. 15 In dieser Nacht schlief ich nicht besonders gut. Es war schön, Tollivers Atmung zu lauschen, während ich mich hin und her warf. Als das Licht unter den schweren Vorhängen hervordrang, gestattete ich mir, aufzustehen. Ich fühlte mich völlig erschöpft, bevor der Tag überhaupt begonnen hatte. Ich zwang mich, noch einmal aufs Laufband zu gehen, in der Hoffnung, so etwas Energie zu tanken. Eine Strategie, die sich nicht auszahlte. Falls Manfred Tom Bowdens aktuelle Praxis ausfindig gemacht hatte, würde ich Dr. Bowden noch am Vormittag einen Besuch abstatten. Dabei dürfte es mir nicht weiter schwerfallen, an der Arzthelferin vorbeizukommen, denn mein Spiegelbild sagte mir, dass ich nicht sehr gesund aussah. Obwohl wir uns für eine ganz bestimmte Uhrzeit verabredet hatten, klopfte Manfred leise an die Tür, als ich mich anzog. Tolliver, der gerade aufgewacht war, grummelte griesgrämig. Dementsprechend angenehm war es, in seiner Gesellschaft zu sein. Manfred war dumm genug, mit penetranter Fröhlichkeit und zahlreichen Genesungswünschen auf Tolliver einzureden. Er selbst strotzte nur so vor Gesundheit und Energie. Wenn man dann noch die Reflexe seiner silbernen Piercings dazunahm, sprühte er regelrecht Funken. Manfred war schon am frühen Morgen sehr gesprächig. Auf dem Weg zur Praxis, die Manfred am Vorabend ausfindig gemacht hatte, erzählte er mir, dass ihm seine Großmutter ihren gesamten Besitz vermacht hatte. Damit hatte seine Mutter, Xyldas einzige Tochter, nicht gerechnet. Aber nach ihrer anfänglichen Enttäuschung hatte sie es verstanden, da Manfred sich in den letzten Jahren sehr um Xylda gekümmert hatte. »Xylda hatte etwas zu …?« Ich verstummte verlegen. Ich hatte gerade erstaunt nachfragen wollen, ob Xylda tatsächlich etwas zu vererben gehabt hatte. »Sie hatte ein paar Ersparnisse, und sie besaß ein Haus«, sagte Manfred. »Ich kann von Glück sagen, dass es zentral gelegen ist und die Schulbehörde das Grundstück wollte, um dort eine neue Sporthalle zu errichten. Ich habe einen guten Preis erzielt. Wie bereits erwähnt fand ich beim Ausräumen jede Menge merkwürdige Sachen. Was ich behalten wollte, ließ ich einlagern, bis ich weiß, wo ich mich selbst niederlassen will.« »Du möchtest dir also in Xyldas Branche den Lebensunterhalt verdienen, aber überwiegend per E-Mail und Telefon arbeiten?« »Das ist mein Plan, ja. Aber ich bin offen für alles.« Er sah mich schräg von der Seite an und wackelte mit den Brauen. Ich lachte, wenn auch widerwillig. »Wenn du bei meinem derzeitigen Aussehen auch nur ansatzweise auf mich stehst, bist du nicht ganz bei Trost.« »Hast du schlecht geschlafen?« »Auf jeden Fall nicht sehr viel. Detective Powers ist gestorben.« Manfreds Grinsen erlosch, als hätte man es ausradiert. »Scheiße. Das tut mir leid, Harper.« Ich zuckte die Achseln. Dem konnte ich nichts mehr hinzufügen. Alles, was man dazu sagen konnte, war mir im Lauf der Nacht durch den Kopf gegangen, und Manfred war sensibel genug, das zu begreifen. Dr. Bowdens Praxis befand sich in einem vierstöckigen Gebäude. Der anonyme Kasten aus Glas und Ziegeln hätte alles Mögliche beherbergen können, angefangen von einem peniblen Steuerberater bis hin zu einer kriminellen Vereinigung. Wir liefen durch den strömenden Regen, bis wir die automatischen Schiebetüren auf der Südseite des Gebäudes erreichten. Als wir es betraten, sah ich, wie ein stämmiger grauhaariger Mann die Lobby auf der anderen Seite verließ. Er hielt die Jacke über den Kopf, um sich gegen den Regen zu schützen. Als die automatischen Türen hinter ihm zugingen, kam mir sein Gang bekannt vor. Ich sah ihm nach, zuckte die Achseln und trat neben Manfred, der vor den Firmenschildern stand. Wir stellten fest, dass Dr. Bowden im dritten Stock praktizierte. Er war Allgemeinarzt. Dr. Bowden besaß eine bescheidene Praxis in diesem bescheidenen Gebäude. Das Wartezimmer war klein, und eine Frau saß hinter dem Tresen der Anmeldung. Ihr Arbeitsplatz machte einen unordentlichen, fast chaotischen Eindruck. Sie schien Arzthelferin und Buchhalterin in einer Person zu sein. Ihr kurzes Haar war knallrot gefärbt, und sie trug eine schwarze Schmetterlingsbrille. Das nannte sich wohl Retrolook. »Hier versucht jemand, modisch zu sein«, murmelte Manfred, hoffentlich leise genug, dass sie es nicht hörte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich, da sie nicht von ihrem Computer aufsah. Dabei musste sie eigentlich merken, dass wir vor ihr standen, schließlich saß nur noch ein anderer Patient im Wartezimmer, ein etwa sechzigjähriger, extrem ausgemergelter Mann. Er las in einer Jagd- und Anglerzeitschrift. »Entschuldigen Sie«, wiederholte ich schärfer als beabsichtigt. »Oh, Verzeihung«, sagte die Arzthelferin. Sie nahm einen Ohrstöpsel aus dem Ohr. »Ich habe Sie nicht gehört.« »Wir würden gern mit dem Doktor sprechen.« »Haben Sie einen Termin? Oder einen Überweisungsschein?« »Nein«, sagte ich und lächelte. Davon völlig unbeeindruckt sah sie über meine Schulter hinweg Manfred an, als könnte er ihr erklären, warum jemand ohne einen Termin den Arzt sprechen wollte. »Ich bin ihr Begleiter«, sagte er netterweise. »Wir möchten beide mit dem Doktor sprechen. Es handelt sich um eine private Angelegenheit.« »Sie sind aber nicht die Schwiegertochter, oder?« Die Rothaarige sah mich ebenso entzückt wie entsetzt an. »Nein, leider nicht.« Ich enttäuschte sie nur ungern. »Er wird Sie nicht empfangen«, sagte sie plötzlich in einem vertraulichen Ton. Vielleicht hatte Manfreds Gesichtsschmuck ihr Herz erweicht. »Er ist schwer beschäftigt.« Ich sah mich nach dem einsamen Patienten um, der so tat, als hörte er uns nicht. »Das sieht mir aber nicht danach aus«, sagte ich. »Aber ich werde mal nachsehen«, fuhr sie fort, als ob ich gar nicht existierte. »Wie ist Ihr Name, bitte?« Ich nannte ihn ihr. Bevor sie weiterfragen konnte, sagte ich: »Und das ist mein Freund Manfred Bernardo.« »Worum geht es bitte?« Die vollständige Version würde sie ohnehin nicht verstehen. »Es geht um einen Fall, der sich vor acht Jahren ereignet hat«, erklärte ich. »Wir möchten mit Dr. Bowden über seine damalige Diagnose sprechen.« »Ich gebe ihm Bescheid«, sagte sie und stand auf. »Sie müssen warten, bis Sie an der Reihe sind.« Das taten wir, doch nachdem der ausgemergelte Mann weg war und niemand seinen Platz eingenommen hatte, warteten wir immer noch. Die Schmetterlingsbrille merkte, dass wir nicht vorhatten, zu gehen. Anscheinend hatte sich der Arzt dagegen entschieden, zu verschwinden, ohne uns empfangen zu haben. Nachdem wir mindestens eine Dreiviertelstunde gewartet hatten, erschien er in der Tür des Untersuchungszimmers. Dr. Bowden war Mitte sechzig und bis auf ein paar graue Strähnen kahl. Er war einer jener unscheinbaren Männer, die man nur schwer beschreiben kann. Selbst bei der sechsten Begegnung würde man sich noch nach seinem Namen erkundigen. »So, jetzt habe ich einen Moment Zeit für Sie«, sagte er. Er führte uns in sein Büro, ein kleiner Raum voller Bücherregale, Unterlagen, einer gerahmten Stickerei (»Doctors leave their patients in stitches«) und Fotos, die ihn mit einer kleinen, sehr stämmigen Frau und einem Jungen zeigten. Auf den Fotos sah man, wie der Junge groß wurde, und dann gab es noch ein Hochzeitsbild des erwachsenen Sohnes mit seiner Frau. Dr. Bowden ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und tat so wie ein viel beschäftigter, wohlhabender Mann, der aus reiner Menschenfreundlichkeit ein paar Minuten für uns übrig hat. »Ich heiße Harper Connelly, und das ist mein Freund Manfred Bernardo«, sagte ich. »Ich bin wegen eines Todesfalls hier, bei dem Sie vor acht Jahren den Totenschein ausgestellt haben. Die Tote hieß Mariah Parish.« »Man hat mir Ihr Kommen bereits angekündigt«, sagte er, was mir einen Riesenschrecken einjagte. »Ich kann es kaum fassen, dass Sie die Frechheit haben, sich hier blicken zu lassen.« »Warum?«, fragte ich völlig verwirrt. »Wenn Mariah Parish umgebracht wurde, lässt das eine sehr komplexe Situation in einem völlig neuen Licht erscheinen.« »Umgebracht?« Jetzt war er an der Reihe, verwirrt zu sein. »Aber mir sagte man … Mir sagte man, Sie würden behaupten, dass Mariah Parish noch lebt.« »Nein, das habe ich nie gesagt, und das glaube ich auch nicht. Wer hat Ihnen denn das erzählt?« Darauf antwortete der Arzt nicht. Er wirkte sehr beunruhigt, aber längst nicht mehr so abweisend. »Sie sind also nicht gekommen, um mit mir darüber zu streiten, dass ich den Totenschein ausgestellt habe?« »Nein. Ich weiß, dass Maria Parish tot ist. Ich frage mich nur, warum Sie nicht die korrekte Todesursache angegeben haben.« Tom Bowden errötete, was ihm nicht sehr gut stand. »Sind Sie ein Vertreter der Familie?« »Sie besaß keine Familie«, sagte ich. »Wir vertreten die Detektivin, die nach ihrem Baby sucht.« Was ja auch stimmte. »Das Baby«, sagte er, und war in einer halben Minute um fünf Jahre gealtert. »Ja«, sagte ich streng. »Erzählen Sie uns davon.« »Sie wissen doch, wie einflussreich die Joyces sind«, sagte er. »Sie hätten meine Karriere beenden, ja mich ins Gefängnis schicken können.« »Aber das haben sie nicht«, sagte Manfred genauso streng wie ich. »Erzählen Sie.« Wir hatten keine Ahnung, was da los war, doch es konnte nicht schaden, so zu tun als ob. »In jener Nacht, in der Nacht, in der sie starb, praktizierte ich natürlich noch in Clear Creek«, sagte Dr. Bowden. Er drehte seinen Stuhl so, dass er aus dem Fenster sehen konnte. »Damals regnete es in Strömen, genau wie heute. Ich glaube, es war Februar. Ich hatte noch nie ein Mitglied der Familie Joyce behandelt, die konsultierten ihre eigenen Ärzte in Texarkana und Dallas und hatten keine Probleme damit, kilometerweit dorthin zu fahren.« Plötzlich wirkte er tief verbittert. »Ich wusste natürlich, wer Rich Joyce war, jeder im Ort kannte ihn. Er war einer von den Reichen, die so tun, als wären sie ganz normal, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er fuhr einen alten Pick-up und trug Jeans. So als besäße er nicht genug Geld, jedes Auto zu fahren, das er wollte!« Der Arzt schüttelte den Kopf über die Marotten eines Menschen, der sich alles leisten konnte, aber lieber beim Schlichten, Altbewährten blieb. »War es Rich Joyce, der zu Ihnen nach Hause kam?« »Oh nein, natürlich nicht«, sagte Tom Bowden. »Es war einer seiner Angestellten, soweit ich weiß. Keine Ahnung, wie er hieß.« Er log. »Er sagte, Mr. Joyces Haushälterin sei krank und bräuchte mich. Man würde mir einen Zuschlag zahlen, wenn ich sofort zum Haus hinausführe. Natürlich bin ich hingefahren. Ungern, aber es war meine Pflicht und außerdem meine Chance, einen guten Eindruck bei Rich Joyce zu hinterlassen. Ich will gar nicht verhehlen, dass ich mir so etwas erhoffte.« Er hätte sonst was verhehlen können – mich hätte er damit ohnehin nicht überzeugt. Ich spürte, wie Manfred neben mir unruhig wurde. Verbiss er sich da gerade ein Lachen? »Was ist passiert?«, fragte ich. »Ich fuhr in seinem Truck mit, und wir liefen gemeinsam durch den Regen. Wir durchquerten das große leere Haus und betraten ein Zimmer, in dem diese junge Frau lag. Sie war in einer schlimmen Verfassung. Sie hatte gerade ein Kind zur Welt gebracht. Anscheinend hatte sie unerwartet Wehen bekommen. Aus den Worten des Mannes schloss ich, dass sie die Schwangerschaft nicht mal bemerkt hatte.« Ich versuchte vergeblich, das zu begreifen. »Aber als Sie dort hinausfuhren, wussten Sie da, dass Sie eine Schwangere behandeln mussten?« Er schüttelte den Kopf. Keine Ahnung, ob das heißen sollte, dass er nichts davon gewusst hatte oder nur, dass er nicht darüber reden wollte. Ich hatte den Verdacht, dass er sich nicht noch mehr belasten wollte, indem er zugab, schon auf der Fahrt zu den Joyces gewusst zu haben, eine Patientin unter mehr oder weniger illegalen Umständen behandeln zu müssen. »Was hat sie gesagt?«, fragte ich. »Sie hat nicht viel gesagt. Sie war furchtbar mitgenommen, und es ging ihr sehr, sehr schlecht. Sie hatte hohes Fieber, sie schwitzte, zitterte und war äußerst instabil. Sie redete zusammenhangloses Zeug. Ich verstand nicht, warum der Mann sie nicht ins Krankenhaus gebracht hatte, woraufhin der meinte, sie hätte das nicht gewollt. Sie dürfe eigentlich gar kein Kind kriegen, das Ganze sei eine extrem heikle Familienangelegenheit. Er behauptete, das Baby sei aus einer inzestuösen Beziehung hervorgegangen.« Dr. Bowdens Lippen schlossen sich auf eine Art, die keinen Zweifel daran ließ, wie unwohl er sich bei diesem Wort gefühlt hatte. »Er meinte, sie sei eine Art Liebling des alten Mr Joyce und wolle das Kind bekommen, ohne dass dieser etwas davon erfuhr. Dann wolle sie das Baby zur Adoption freigeben und ihren Job fortsetzen. Die mit der Zeugung verbundenen Erinnerungen wären zu schlimm, als dass sie es behalten wolle.« Und das haben Sie geglaubt?, wollte ich schon fragen, wusste aber, dass ich sein Geständnis nicht unterbrechen durfte. Er gab bereitwilliger Auskunft als vermutet. Wahrscheinlich lastete diese Sache schon seit Jahren auf seiner Seele. Ich wunderte mich kurz, welche Biographie dieser Mann hatte, dass er auf so etwas reingefallen war. Natürlich durfte man auch die Geldgier nicht vergessen, die sein Verhalten beeinflusst hatte. »Sie hatte gar keine Familie«, sagte Manfred, und nach einer Sekunde begriff Dr. Bowden die Tragweite von Manfreds Behauptung. Er starrte stur auf seinen Schreibtisch. Ich hätte Manfred am liebsten eine heruntergehauen, weil er ihn unterbrochen hatte. Andererseits hatte er bloß ausgesprochen, was ich ebenfalls dachte. »Ich wusste es nicht mit Sicherheit«, murmelte Bowden. »Der Mann, der mich zur Ranch fuhr … Ich hielt ihn für Drexell Joyce, den Sohn. Ich dachte, das Kind wäre wahrscheinlich seines. Vielleicht schämte er sich, seinem Großvater zu gestehen, dass er seine Frau betrogen hatte. Er trug einen Ehering, und Ms Parish hatte keinen.« »Hat sie mit Ihnen gesprochen?«, fragte ich. »Wer?« »Mariah. Hat sie mit Ihnen gesprochen?« Eigentlich eine ganz einfache Frage, aber Tom Bowden rutschte unruhig auf seinem schwarzen Ledersessel hin und her. »Nein«, sagte er seufzend. Manfred hob einen Finger, knapp außerhalb meines Gesichtsfelds. Er glaubte dem Arzt nicht. »Und was ist dann passiert?«, fragte ich, denn wir konnten die Wahrheit schlecht aus ihm herausprügeln. »Ich säuberte die Frau, was mir allerdings nicht leicht fiel«, sagte Dr. Bowden. »Ich wollte einen Krankenwagen rufen und sagte das dem Mann auch, aber der meinte, das käme gar nicht infrage. Ich ging meinen Mantel holen, in dem mein Handy steckte, aber er hatte es bereits aus der Manteltasche gezogen und wollte es mir nicht geben. Ich musste die Patientin behandeln und hatte keine Zeit, mit ihm um das Handy zu streiten. Sie lag mehr oder weniger im Sterben. Selbst wenn ich sie innerhalb einer Stunde ins Krankenhaus geschafft hätte – und das nächste Krankenhaus war etwa eine Stunde mit dem Auto entfernt –, hätte sie nicht überlebt. Sie hatte eine schlimme Infektion.« »Mit anderen Worten, sie ist in jener Nacht gestorben.« »Ja. Etwa anderthalb Stunden nach meiner Ankunft starb sie. Sie konnte das Baby noch im Arm halten.« Wir schwiegen einen Moment. »Und was ist dann passiert?«, fragte Manfred. »Der Mann bat mich, das Baby zu untersuchen, und ich stellte fest, dass es gesund war. Sie hatte etwas Fieber, aber nichts Ernstes. Rein körperlich war alles mit ihr in Ordnung.« »Das Baby war ein Mädchen.« »Ja. Sie war winzig, aber bei der richtigen Behandlung würde es ihr gut gehen. Er fragte, ob ich alles dabei hätte, was sie brauche. Er würde das Kind direkt zu den Adoptiveltern bringen. Ich hatte tatsächlich einige Antibiotika dabei, Muster eines Pharmavertreters. Ich nannte ihm die Dosis und erklärte die Art der Verabreichung, und er brachte das Baby aus dem Zimmer. Das war das letzte Mal, dass ich es sah. Anschließend tat die Mutter den letzten Atemzug.« Den letzten Atemzug. »Und was haben Sie anschließend gemacht?« Er seufzte, als würde er beinahe unter dem Geständnis zusammenbrechen. »Ich sagte dem Mann, dass wir die Behörden verständigen und den Todesfall melden müssten. Wir haben uns ziemlich gestritten. Er schien nicht zu verstehen, dass wir vom Gesetz her dazu verpflichtet sind.« Nachdem du es vorher schon so gebeugt hast, dachte ich. »Aber letztlich hat er in den Anruf eingewilligt?« »Ja, solange ich das Baby nicht erwähnte. Das Bestattungsunternehmen kam also, um die junge Frau abzuholen, und ich stellte den Totenschein aus.« Er ließ die Schultern hängen. Jetzt, wo das Schlimmste gesagt war, konnte er sich entspannen. »Sie sagten, sie starb an …?« »An einer Infektion infolge eines Blinddarmdurchbruchs.« »Und das hat niemand hinterfragt?« Er zuckte die Achseln. »Es haben sich keine Familienangehörigen gemeldet. Die Joyces schickten mir einen Scheck, mit dem sie meine Rechnung beglichen – aber auch nicht mehr –, und wenn danach einer ihrer Arbeiter oder Angestellten krank wurde, kam er zu mir.« Es war sehr schlau von ihnen gewesen, Dr. Bowden nicht offen zu bestechen. Ich war mir sicher, dass er eine ziemlich happige Rechnung gestellt hatte, und sie hatten sie ganz normal bezahlt. Das hatte den Arzt zufriedengestellt. Und da seine Praxis nicht sehr gut ging, hatten sie ihm einen dicken Knochen hingeworfen. »Und warum sind Sie dann nach Dallas gezogen?«, fragte Manfred. Wieder hätte ich nicht davon angefangen, aber wieder unterschätzte ich den Mitteilungsdrang des Arztes. »Wegen meiner Frau. Sie konnte Clear Creek nicht ausstehen«, sagte er. »Wobei ich dazusagen muss, dass sie dort auch niemand ausstehen konnte. Etwa vor sechs Jahren kam ich mit einem Arzt ins Gespräch, dem ich noch nie zuvor auf einem Ärztekongress begegnet war. Er besaß eine Praxis in Dallas und fragte, ob ich sie übernehmen wolle. Und zwar zum ursprünglichen Mietpreis, der deutlich niedriger war als das, was Mieter damals zahlen mussten. Die Ausstattung überließ er mir ebenfalls, weil er nach Übersee zog, um eine neue Stelle bei einem amerikanischen Konsulat in der Türkei oder so anzutreten.« Merkte er denn wirklich nicht, was für ein abgekartetes Spiel das alles war? »Ach du grüne Neune!«, entfuhr es Manfred. Er hätte fast noch mehr gesagt, hielt aber zum Glück den Mund. »Danke«, sagte ich, nachdem mir keine weiteren Fragen mehr eingefallen waren. Aber dann gab es doch noch eine: »Oh, war heute eigentlich schon jemand da, der sich nach Mariah Parish erkundigt hat?« »Äh … ja, in der Tat.« Warum hatte ich bloß nicht daran gedacht, Fotos von den Joyces mitzunehmen? Bisher hatte ich mich ganz gut geschlagen für jemanden, der nichts von der Arbeit einer Detektivin verstand. Aber in diesem Punkt hatte ich einen Riesenfehler gemacht. »Wer war es?« »Er sagte, er heiße Ted Bowman.« Und das klang natürlich kein bisschen wie Tom Bowden. »Und er wollte …« Tom Bowden wirkte nervös, besser gesagt, mehr als nervös. »Er hat mich genau dasselbe gefragt wie Sie, aber aus anderen Gründen.« »Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Er schien die ganze Geschichte bereits zu kennen. Er wollte nur wissen, wie viel ich über die daran Beteiligten wusste.« »Und was haben Sie ihm erzählt?« »Ich sagte ihm, dass ich keine Ahnung hätte, wer mich zu dem Haus gebracht hat. Und dass das Baby, als ich es zum letzten Mal sah, gesund zu sein schien. Auch, dass ich mit niemandem sonst über jene Nacht gesprochen hätte.« »Und was hat er dann gesagt?« »Er meinte, das seien gute Neuigkeiten. Er hätte gehört, das Baby sei gestorben, freue sich aber, dass es überlebt hatte. Er meinte, ich solle jene Nacht lieber vergessen, woraufhin ich ihm sagte, dass ich schon seit Jahren nicht mehr daran gedacht hätte. Er warnte mich, dass mir andere dieselben Fragen stellen und bloß für Ärger sorgen würden, indem sie behaupteten, Mariah Parish wäre noch am Leben.« »Und wie sollten Sie sich in diesem Fall verhalten?« »Er meinte, ich solle in meinem eigenen Interesse lieber den Mund halten.« »Aber Sie haben trotzdem mit uns gesprochen.« Zum ersten Mal sah mir Tom Bowden in die Augen. »Ich bin es leid, dieses Geheimnis mit mir herumzutragen«, sagte er, und ich glaubte ihm. »Meine Frau und ich sind längst geschieden. Die Praxis läuft nicht sehr gut, und mein ganzes Leben hat sich anders entwickelt als erhofft. Seit jener Nacht ging es für mich nur noch bergab.« Diesmal sagte er die Wahrheit, da war ich mir sicher. »Und wie sah dieser Mann aus?«, fragte ich. »Er war größer als Ihr Freund hier« – Dr. Bowden nickte Manfred herablassend zu – »und deutlich gedrungener. Sehr muskulös, mit einem breiten Oberkörper. Dunkles Haar, etwa vierzig oder fünfzig Jahre alt. Schon ein wenig grau.« »Irgendwelche erkennbaren Tätowierungen?« »Nein, er trug eine Regenjacke«, sagte Dr. Bowden in einem Ton, als wäre das doch wohl das Selbstverständlichste von der Welt. Er schien sich wieder zu fassen. Schluss mit dem Gejammer. Ich überlegte, was ich ihn noch fragen konnte, bevor er endgültig verstummte. »Und Sie wissen wirklich nicht, wer Sie zur Ranch gefahren hat?« Ich tat mich schwer, das zu glauben, erst recht in einem so kleinen Ort wie Clear Creek. Und das sagte ich ihm auch. Er zuckte die Achseln. »Ich lebte noch nicht lange dort, und die Leute von der Ranch blieben unter sich. Der Mann behauptete, für Mr Joyce zu arbeiten, und er fuhr einen Ranch-Truck. Vielleicht hat er mir sogar einen Namen genannt, doch ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Wie gesagt, ich hielt ihn für Drexell Joyce. Aber ich hatte Drexell nie kennengelernt, also kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Es war ein sehr anstrengender Abend.« Und ob das ein anstrengender Abend gewesen war! Vor allem für Mariah Parish, deren Leben hätte gerettet werden können, wenn nur ein Krankenwagen gekommen wäre … Vorausgesetzt, jemand wäre so mitfühlend gewesen, einen zu rufen. Ich staunte ein wenig, dass sie nicht direkt ermordet worden war und das Baby mit ihr. Damals hatte Rich Joyce noch gelebt, und vielleicht war es die Angst vor seiner Reaktion auf das Verschwinden der Pflegerin gewesen, die das verhindert hatte. Er hätte Mariah vermisst, wenn auch als Einziger. Und Rich Joyce hätte sicher nicht so schnell lockergelassen, wenn ihm etwas spanisch vorgekommen wäre. Vielleicht hatte jemand das Kind zu sich genommen, um es später als Druckmittel zu benutzen. Vielleicht zog ein Ranch-Angestellter das Mädchen auf. Da gab es viele Möglichkeiten, und alle waren gleichermaßen wahrscheinlich. »Wo war Rich Joyce an jenem Abend?«, fragte Manfred. »Der Mann sagte nur, er wäre unterwegs«, meinte Bowden. »Sein Truck war nicht da.« »Und er wusste nicht, dass seine Pflegerin schwanger war? Er hat nichts gemerkt?« Bowden zuckte die Achseln. »Davon war nie die Rede. Keine Ahnung, was sie Mr Joyce erzählt hat. Bei manchen Frauen sieht man kaum etwas, und wenn sie es vor ihm verbergen wollte …« Manfred und ich sahen uns an. Wir hatten keine weiteren Fragen mehr. »Auf Wiedersehen, Dr. Bowden«, sagte ich und erhob mich. Er konnte seine Erleichterung nicht verbergen. »Gehen Sie zur Polizei?«, fragte er. »Wissen Sie, selbst wenn man die arme Ms Parish exhumiert, lässt sich nicht mehr das Geringste feststellen.« Er bereute schon, mit uns gesprochen zu haben. Aber er war auch erleichtert. Dieser Kerl hatte in den letzten acht Jahren schlimme Gewissensbisse gehabt. Ich für meinen Teil gönnte es ihm. »Das wissen wir noch nicht«, sagte Manfred nachdenklich. Er hatte genauso reagiert wie ich. »Das überlegen wir uns noch. Wenn dem Kind nichts passiert ist, dürfen Sie Ihre Approbation sicherlich behalten.« Ein entsetzter Dr. Bowden starrte uns nach, während wir den Flur hinuntergingen und das Wartezimmer durchquerten. Darin saßen drei weitere Patienten, und sie taten mir leid. Ich fragte mich, welche Behandlung sie wohl erhalten würden – jetzt, wo der Arzt dermaßen verstört war. Er hatte heute gleich zwei Besucher gehabt, die wegen eines Vorfalls gekommen waren, den er am liebsten vergessen hätte. Das dürfte genügen, um jeden zu verstören, auch Menschen, die aus härterem Holz geschnitzt waren als Tom Bowden. »Der Typ ist wirklich das Letzte!«, sagte Manfred, als wir im Lift standen. Er war unheimlich aufgebracht, und sein Gesicht war knallrot vor Wut. »Ich weiß gar nicht, ob er wirklich so schlimm ist«, sagte ich und fühlte mich mindestens zehn Jahre älter als mein Begleiter. »Aber er ist schwach und eine echte Witzfigur, gemessen an seinem hippokratischen Eid.« »Ich würde ja nichts sagen, wenn das in den Dreißigerjahren passiert wäre«, meinte Manfred zu meiner Überraschung. »Das klingt doch nach einer echten Schauergeschichte: Es klopft mitten in der Nacht, ein Fremder kommt und bringt dich zu einem geheimnisvollen Patienten in einem großen Haus. Und dann noch eine sterbende Frau, ein Baby, das Ganze unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit …« Ich starrte Manfred an, während sich die Türen zum Erdgeschoss öffneten. Dasselbe hatte ich auch gedacht. »Glaubst du, er hat die Wahrheit gesagt? Wenn wir beide finden, dass er uns eine unglaubwürdige Geschichte erzählt hat, ist sie vielleicht auch unglaubwürdig. Vielleicht hat er uns bloß einen Haufen Lügen aufgetischt.« »So gut lügen kann er auch wieder nicht«, sagte Manfred. »Obwohl einiges von dem, was er uns erzählt hat, natürlich gelogen war. Wie hat er es nur so weit gebracht? Ahnte er nicht, dass man ihm eines Tages Fragen stellen würde? Ganz dumm kann er doch nicht sein, er ist schließlich Arzt. Und ein Medizinstudium schafft wirklich nicht jeder. Seine Approbation hing dort an der Wand, ich habe sie mir angesehen. Ich werde das überprüfen. Vielleicht müssen wir wieder einen Detektiv einschalten.« »Nein, auf keinen Fall. Wenn ich daran denke, was mit dem letzten passiert ist …«, konterte ich zynisch, bereute es jedoch gleich wieder. »Es tut mir leid, Manfred. Ich bin froh, dass du dabei warst. Vier Augen sehen mehr als zwei. Hast du ihm die Geschichte im Großen und Ganzen abgenommen? Du bist der Hellseher.« »Ich habe ihm geglaubt«, sagte Manfred nach einem langen Schweigen. »Ich habe mir noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen, und ich glaube, er hat uns die Wahrheit gesagt. Aber nicht die ganze Wahrheit. Er wusste beispielsweise, wer der Mann war, der ihn abholte. Und ich glaube auch nicht, dass der Mann sein Handy an sich genommen hat. Ich glaube, er sagte dem Arzt einfach, dass er kein Krankenhaus verständigen darf, und zwar in einem drohenden Ton. Das reicht schon, um einen Kerl wie Dr. Bowden zu überzeugen. Ich glaube auch, dass der Typ ihn vorgewarnt hat. Ärzte gehen heute nicht mehr mit riesigen Koffern auf Hausbesuch so wie damals, als meine Oma noch klein war. Ich glaube, Dr. Bowden wusste ganz genau, dass er Medikamente für eine Frau mitbringen musste, die gerade eine schwere Geburt gehabt hatte. Und welche für das Baby.« Das klang vernünftig. »Du hast recht. Wer ist also deiner Meinung nach in den Ort gefahren, um den Arzt zu holen? Wer trat die geheimnisvolle Fahrt zum großen leeren Haus an? Wer brachte das Baby weg? Wer auch immer Dr. Bowden zur Ranch fuhr, er trug einen Ehering.« »Ach ja, stimmt. Gut, dass du dich daran erinnerst. Nun, wir wissen, dass Drexell eine Zeitlang verheiratet war, dasselbe gilt für Chip. Es könnte einer von beiden gewesen sein oder jemand ganz anderes, den wir noch nicht kennen.« Wir fuhren zurück zum Hotel und hielten unterwegs, um in einem Fastfoodlokal zu Mittag zu essen. Ich bestellte ein Sandwich mit gegrilltem Huhn und ließ die Pommes liegen. Ich versuchte, mich gesünder zu ernähren, denn dann fühlte ich mich besser. Wir sprachen nicht viel während des Essens. Keine Ahnung, was in Manfred vorging, aber ich versuchte, das Gefühl heraufzubeschwören, das ich empfunden hatte, als ich die Joyces auf dem Pioneer Rest Cemetery zum ersten Mal aus ihren Trucks steigen sah. Ich hatte geglaubt, sie schon mal irgendwo gesehen zu haben, zumindest die Männer. Wo könnte das gewesen sein? Vielleicht am Wohnwagen? Dort hatte es ein ständiges Kommen und Gehen gegeben … und ich hatte mit aller Macht versucht, den Besuchern aus dem Weg zu gehen. Dem musste ich ein andermal auf den Grund gehen, denn als wir ins Hotel zurückkehrten, fanden wir dort einen völlig genervten Tolliver vor, was eher selten vorkommt. Er hatte versucht zu duschen. Als er seine Schulter mit einer Plastiktüte schützen wollte, war er gegen die Wand gestoßen. Das hatte wehgetan, außerdem war er sauer, weil ich so lange mit Manfred weg gewesen war. Er hatte sich vom Zimmerservice etwas zu essen bringen lassen, und dann hatte es ihn große Mühe gekostet, den Deckel von seinem Getränk zu entfernen und sein Besteck auszuwickeln. Er konnte schließlich nur eine Hand benutzen. Tolliver war eindeutig deprimiert, und obwohl ich bereit war, ihn zu knuddeln, um seine Laune zu heben, ärgerte ich mich, als er sagte, Matthew habe angerufen, um sich nach ihm zu erkundigen. Da ich Tolliver allein gelassen hatte, wollte Matthew noch vorbeikommen. Ich war wütend auf Tolliver, und er war wütend auf mich – und das nur, weil ich mich von jemand anderem hatte begleiten lassen. Normalerweise ist Tolliver weder launisch noch reizbar noch unvernünftig. Heute war er alles auf einmal. »Ach, Tolliver!«, sagte ich nicht gerade liebevoll. »Konntest du nicht einfach durchhalten, bis ich wiederkomme?« Er starrte mich an, aber ich sah, dass es ihm bereits leidtat, mit seinem Vater gesprochen zu haben. Trotzdem, es war zu spät. Anscheinend hatte McDonald’s äußerst flexible Arbeitszeiten, denn kurz darauf klopfte Matthew an die Tür. Als Matthew das Wohnzimmer betrat und zu seinem Sohn ging, während ich ihm die Tür aufhielt, sah ich ihm nach. Ich erstarrte, die Hand noch an der Klinke. Matthew war der Mann, den ich beim Verlassen des Gebäudes, in dem Dr. Bowdens Praxis war, beobachtet hatte. Er hatte die Lobby auf der anderen Seite verlassen, während wir sie gerade betreten hatten. Er trug dieselben Sachen, hatte denselben Gang und dieselbe Figur. Manfreds Blick folgte dem meinen, und er riss die Augen auf. Er stellte mir eine stumme Frage. Kurz darauf schüttelte ich den Kopf. Es war sinnlos, ihn zur Rede zu stellen – zumindest konnte mein verwirrter Kopf im Moment keinen Vorteil darin erkennen. Wenn Matthew zugab, dort gewesen zu sein, hätte er einfach behauptet, dort einen anderen Arzt, Anwalt oder Steuerberater aufgesucht zu haben, warum auch immer. Ich konnte ihm schließlich schlecht das Gegenteil beweisen. Aber seine Anwesenheit in Tom Bowdens Gebäude war mit Sicherheit kein Zufall. Nicht im Traum wäre ich auf die Idee gekommen, Matthews Auftauchen im Leben seiner Kinder könnte etwas mit den Joyces zu tun haben. Anstatt den drei Männern Gesellschaft zu leisten, ging ich ins Schlafzimmer und setzte mich auf die Bettkante. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand eine Autotür gegen die Beine geknallt, bevor ich ganz eingestiegen war. Ich zwang mich dazu, mich auf eine von den Dutzenden Möglichkeiten zu konzentrieren, die mir plötzlich durch den Kopf gingen. Für mich brach eine Welt zusammen, und mich in der neuen zurechtzufinden, war mir so gut wie unmöglich. Mariah Parish war tot. Sie war bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Rich Joyce war tot. Man hatte ihn sozusagen zu Tode erschreckt. Victoria Flores, die von Lizzie Joyce engagiert worden war, um Mariahs Tod zu untersuchen, war ebenfalls tot. Parker Powers, der in dem Fall ermittelt hatte, war tot. Mein Stiefvater war in der Arztpraxis gewesen, bei jenem Arzt, der anwesend war, als Mariah Parish starb. Und was war wenige Monate nach der geheimnisvollen Geburt des geheimnisvollen Kindes vor acht Jahren noch passiert? Meine Schwester Cameron war verschwunden. 16 Ich ging ins Bad und schloss mich ein. Ich klappte den Toilettendeckel herunter und setzte mich darauf. Ich ließ das Licht aus. Ich wollte mein Spiegelbild nicht sehen. Matthew hatte irgendwas mit den Joyces zu tun, auch wenn ich nicht wusste, was. Außerdem war er Camerons Stiefvater. Und wenn ich mich nicht sehr täuschte, war Cameron, kurz nachdem Maria Parish ihr Kind geboren hatte, verschwunden. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass jemand aus unserer Familie etwas mit Camerons Verschwinden zu tun haben könnte. Als die Polizei meine Mutter, Matthew, Mark, Tolliver und mich befragt hatte, hatte ich getobt, weil sie kostbare Zeit verschwendete, die sie lieber darauf verwenden sollte, den oder die wahren Mörder zu finden. Ich hatte ein paar Jungs von unserer Highschool verdächtigt, vor allem Camerons letzten Freund, der nicht gerade galant auf die Trennung reagiert hatte. Ich hatte Laurels und Matthews Junkiefreunde verdächtigt. Ich hatte Wildfremde verdächtigt, jemanden, der Cameron allein von der Schule heimgehen sah und beschloss, sie zu berauben/zu vergewaltigen/zu entführen. Ich hatte die Jungs in Verdacht, die uns manchmal nachgepfiffen hatten, wenn wir gemeinsam ausgegangen waren. Ich hatte mir Hunderte von Szenarien ausgemalt. Einige davon waren höchst unwahrscheinlich. Aber sie alle gaben mir eine mögliche Antwort auf das furchtbare Verschwinden meiner Schwester. Eine Antwort, die keinen Schmerz über den Verlust einer weiteren Person zur Folge hatte. Es schien zwar unglaublich, aber ich war fest davon überzeugt, dass zwei solche Vorfälle nicht so rasch aufeinander folgen können, ohne dass es da einen Zusammenhang gibt. Auch wenn ich noch nicht wusste, welchen. Und erst recht nicht, wenn ein und derselbe Mann in beide Vorfälle verwickelt war. Reagierte ich einfach nur übertrieben? Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, obwohl ich fast blind war vor Wut. Mein Stiefvater wusste etwas über die Joyces. Er wusste genug, um den Namen des Arztes zu kennen, der Mariah Parish »behandelt« hatte. Er wusste Bescheid. Vermutlich wusste er auch, was meiner Schwester zugestoßen war. Und hatte das all die Jahre vor mir verheimlicht. Ich spürte es bis tief in die Knochen. Ich konnte nicht ins Wohnzimmer gehen und ihn mir vorknöpfen. Er war mir körperlich überlegen. Tolliver würde nicht zulassen, dass ich seinen Vater umbrachte. Wahrscheinlich nicht einmal Manfred, der nicht persönlich betroffen war und sich verpflichtet fühlen würde, einzugreifen. Aber Tolliver war schwach und verletzt, und Manfred würde irgendwann gehen. Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht mehr ernsthaft darüber nachzudenken, wie ich meinen Stiefvater umbringen konnte. Ich konnte mich schließlich irren, was ich jedoch für wenig wahrscheinlich hielt. Aber was noch viel schwerer wog, war, dass ich einfach nicht genug wusste. Ich wollte die letzte Ruhestätte meiner Schwester finden. Ich wollte wissen, was Cameron zugestoßen war. Und deswegen musste ich mich überwinden, Matthews Anwesenheit zu erdulden. Ich zwang mich dazu, allein in der Dunkelheit. Ich zwang mich, stark zu sein. Dann stand ich auf, machte das Licht an und wusch mir das Gesicht. So als könnte ich damit mein neu erworbenes Wissen wegwaschen und mich in den Zustand glücklicher Ahnungslosigkeit zurückversetzen. Ich betrat das Wohnzimmer, musste aber ganz langsam gehen. Ich kam mir vor, als hätte man mir einen Stoß zwischen die Rippen versetzt. Ich fühlte mich zerbrechlich und war innerlich ganz wund wegen des Misstrauens und des Hasses, die ich mit mir herumtrug. Ich spürte sofort, dass Matthew Manfred zum Gehen bewegen wollte, damit er allein mit seinem Sohn sprechen konnte. Doch Manfred hatte nicht gehen wollen, bevor er noch einmal mit mir geredet hatte. Er sah von Matthew zu mir, als ich den Raum betrat, und fröstelte. Was auch immer Manfred gesehen hatte –Tolliver und Matthew blieb es glücklicherweise verborgen. »Manfred«, sagte ich. »Tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe. Und danke, dass du mich heute begleitet hast.« »Gern geschehen«, sagte Manfred und sprang dermaßen eifrig auf, dass ich merkte, wie wild er darauf war, dieses Hotelzimmer zu verlassen. »Wollen wir noch einen Kaffee zusammen trinken? Oder soll ich dich zum Einkaufen fahren? Hast du noch genügend … Kartoffelchips?« Hier hatte er schlecht geraten. Wir aßen niemals Kartoffelchips. Meine Mundwinkel kräuselten sich. »Danke, Manfred.« Ich rang kurz mit mir. Manfred wollte unsere neu gewonnenen Erkenntnisse über Matthew mit mir besprechen. Aber ich wusste selbst noch nicht, was ich diesbezüglich unternehmen wollte. Deshalb wartete ich tunlichst mit dem Tête-à-Tête, bis ich einen Plan hatte. »Ich bleibe lieber hier, falls Tolliver mich braucht.« Ich umarmte ihn spontan, und er fühlte sich zerbrechlich an. Zögernd erwiderte er meine Umarmung. Er musste sich noch von der hellseherischen Vision erholen, die er von mir gehabt hatte. Wenn er auch nur ansatzweise gesehen hatte, wie ich mich fühlte, hatte er etwas Furchtbares, Mörderisches gesehen. »Tu es nicht!«, flüsterte er mir ins Ohr. Dann ließ ich ihn los, und er trat einen Schritt zurück. »Mach dir keine Sorgen, wir kommen schon zurecht«, versicherte ich ihm. »Ich rufe dich an, wenn ich Hilfe brauche, das verspreche ich dir.« »Na gut. Ich habe heute Nachmittag noch ein paar Termine. Aber mein Handy steckt stets aufgeladen in meiner Tasche. Tschüs, Tolliver. Mr Lang.« Mit einem letzten, intensiven Blick in meine Augen verließ Manfred das Zimmer und eilte den Flur hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen. »Ein komischer Typ!«, sagte Matthew. »Hast du viel mit solchen Leuten zu tun, Tolliver? Das muss ein Freund von dir sein, Harper.« »Er ist tatsächlich ein Freund von mir«, sagte ich. »Und mit seiner Großmutter war ich ebenfalls befreundet.« Ich fühlte mich wirklich merkwürdig, so als stünde ich neben mir. Matthew saß bei Tolliver auf dem Sofa, also nahm ich den Sessel. Ich schlug die Beine übereinander und schlang die Hände um mein Knie. »Heute Morgen war das Wetter wirklich scheußlich, stimmt’s, Matthew?« Er sah mich überrascht an. »Ja, der Verkehr war furchtbar. Aber so ist das nun mal in Dallas. Und dann noch der Regen.« »Hattest du heute Vormittag etwas zu erledigen?« »Oh ja, so dies und das. Um halb drei muss ich in der Arbeit sein.« Arbeitete er tatsächlich bei McDonald’s? Oder traf er sich mit einem der Joyces? Hatte er schon immer in ihren Diensten gestanden? Und der Mann, den ich über alles liebte, der einzige, den ich aufrichtig liebte, war der Sohn dieses Mannes. Tolliver mochte Probleme damit haben, aber mir war das egal. Ich weiß besser als jeder andere, dass man von den Kindern nicht auf die Eltern schließen darf. Ich war von derselben Frau großgezogen worden, die ihre zwei kleinen Töchter so sehr vernachlässigt hatte, dass ihre älteren Kinder sich um sie kümmern mussten. Ich war der Meinung, dass ich etwas wohlgeratener war als meine Mutter. Aber wenn ich Matthew Lang tötete – wäre ich dann wirklich noch besser als meine Mutter? Nun, wenigstens hätte ich meine Entscheidung bei klarem Verstand gefällt. Das wohl kaum!, sagte mein vernünftigeres Selbst. Erstickst du nicht förmlich an deinem Hass? Das stimmte. Aber war es nicht besser, jemanden umzubringen, wenn man ihn so sehr hasste? Oder war es tugendhafter, zu warten, bis man ruhig und beherrscht war? Dann hätte ich auf jeden Fall mehr Chancen, ungeschoren davonzukommen und ein Leben mit Tolliver zu führen, anstatt mich mit einem Haufen Frauen im Gefängnis anzufreunden. Genauso hatte das Leben meiner Mutter geendet … und ich war nicht so wie meine Mutter. Auf gar keinen Fall. Ich muss ein ziemlich merkwürdiges Gesicht gemacht haben, während mir das alles durch den Kopf ging, auch wenn es kein fortlaufender Gedankenstrom, sondern eher Gedankenblitze waren. Tollivers Mimik nach zu urteilen, hätte er mich gern gefragt, ob alles in Ordnung sei. Doch vor Matthew verzichtete er lieber darauf. Dieser hatte sich an Tolliver gewandt und kehrte mir Gott sei Dank überwiegend den Rücken zu. Ich versuchte, mich auf ihr Gespräch zu konzentrieren. Matthew fragte Tolliver, ob er je daran gedacht habe, sein Studium abzuschließen. Was er davon halte, auf eines der vielen Colleges in Dallas zu gehen, wenn wir hierher zogen. Und dass Tolliver bestimmt einen guten Job fände, wenn er erst mal seinen Abschluss hätte. Dann wäre er auch nicht mehr von mir abhängig. Matthew wollte eindeutig einen Keil zwischen uns treiben. Tolliver war empört. »Ich bin nicht von Harper abhängig«, sagte er. »Du hast keinen Job, außer dem, sie zu begleiten, während sie … was auch immer«, sagte sein Dad. »Ich sorge dafür, dass sie ihren Job erledigen kann«, sagte Tolliver. Ich merkte, dass dieses Gespräch nicht zum ersten Mal geführt wurde, nur dass ich vorher nie dabei gewesen war. Mein Hass wuchs ins Unermessliche. »Würde ich Harper nicht begleiten, könnte sie diese Arbeit gar nicht machen.« »Er hat vollkommen recht«, sagte ich. »Mir wird schlecht von meiner Arbeit, und ohne Tolliver wäre ich dem hilflos ausgeliefert«, erklärte ich so sachlich wie möglich. Ich wollte mich nicht verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gab. »Du kannst dir viel einreden«, sagte Matthew zu Tolliver und überhörte meinen Einwurf. »Aber letztlich muss sich jeder selbst behaupten.« »So wie du?«, fragte ich. »Indem du Drogen verkauft und zugelassen hast, dass deine Frau mich an den Meistbietenden verhökert? Hast du dich behauptet, indem du deine Anwaltskanzlei aufgegeben hast und stattdessen im Gefängnis gelandet bist?« Matthew wurde rot. Jetzt konnte er mich nicht länger ignorieren. »Harper, ich versuche nur, ein guter Vater zu sein. Ich weiß, dass es dafür zu spät ist. Und ich weiß auch, dass ich abscheuliche Dinge getan habe, von denen mir noch im Nachhinein schlecht wird. Aber ich versuche, die Beziehung zu meinem Sohn zu retten. Ich weiß, dass er dich ›liebt‹, aber manchmal solltest du dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten kümmern und mich in Ruhe mit ihm reden lassen.« Dabei setzte er das Wort ›liebt‹ hörbar in Anführungszeichen. Tolliver sagte: »Harper soll sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich liebe sie. Es ist zu spät, und du hast Dinge getan, von denen uns allen kotzübel wurde. Wenn ich nicht da gewesen wäre, hättest du Harper glatt sterben lassen, als sie der Blitz traf.« Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Tief in meinem Innern nagte die Angst, dass Tolliver eines Tages doch noch auf seinen Dad hören, ihm glauben und sich wieder von ihm an der Nase herumführen lassen könnte. »Wenigstens Mark hört mir zu«, sagte Matthew und stand auf. Er stand kurz davor zu gehen, ohne dass ich ihn umgebracht hatte. Ich ließ ihn entkommen. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich hatte nur meine bloßen Hände zur Verfügung. Außerdem musste ich herausfinden, was er mit Cameron gemacht und warum er es getan hatte. Ich glaube nicht, dass er Cameron sexuell begehrte. Einige seiner Freunde hatten Sex mit uns haben wollen, aber nicht Matthew. Zumindest in dieser Hinsicht war ich mir ziemlich sicher. Aber irgendeinen Grund musste es schließlich geben, und ich wollte ihn herausfinden. Ich stand auf und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ich wusste nicht, ob ich auf ihn einschlagen sollte oder nicht. Matthew spürte meine Feindseligkeit. Wenn man länger im Gefängnis gesessen hat, besitzt man eine Antenne dafür. Auf dem Weg zur Tür blieb er bewusst auf Distanz. »Keine Ahnung, was heute mit dir los ist, Harper. Ich versuche nur, etwas wiedergutzumachen.« »Aber das geht leider nicht«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Ja«, erwiderte er mit einem nervösen Lachen. »Das habe ich auch schon gemerkt. Wir reden ein andermal weiter, mein Sohn. Ich hoffe, es geht dir bald besser. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.« Dann verließ er den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Er lebte immer noch. »Setz dich zu mir«, sagte Tolliver so leise, dass ich ihn kaum hörte. »Setz dich zu mir und sag mir, was in dir vorgeht.« »Er war in dem Gebäude, in dem sich auch die Arztpraxis befindet«, sagte ich. »Dein Vater war dort, heute Vormittag. Er verließ gerade die Lobby, als wir hereinkamen.« Ich blieb stehen und wartete, bis Tolliver diese Information verdaut hatte. Dann klopfte er neben sich auf das Sofa, und ich setzte mich zu ihm. »Dann wollen wir mal überlegen«, sagte er, und ich hätte Purzelbäume schlagen können vor Freude, weil er mich blind verstand. Ich erzählte Tolliver von Dr. Bowden. Ich schilderte ihm die Geschichte des Arztes und kommentierte sie. Und er hörte mir Gott sei Dank zu. Er hörte sich jedes Wort an, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Von seiner Gereiztheit war nichts mehr zu spüren. Ich sagte ihm, wie froh ich gewesen war, dass Manfred mich begleitet und dieselbe Geschichte gehört hatte wie ich, da ich ihr sonst kaum Glauben geschenkt hätte. »Und warum wolltest du deswegen meinen Dad umbringen?« »Weil ich nicht an solche Riesenzufälle glaube. Was hatte Matthew in diesem Bürogebäude zu suchen? Bestimmt hat er Tom Bowden besucht. Und woher kennt er den? Es muss irgendeine Verbindung zwischen ihm und den Joyces geben, oder zumindest zwischen ihm und dem Familienmitglied, das Mariahs Schwangerschaft und die Geburt des Kindes geheim halten wollte.« »Meinst du wirklich?«, wandte Tolliver ein. »Muss Dad wirklich mit einem oder mehreren Joyces unter einer Decke stecken? Wir wissen nicht, wer den Arzt in jener Nacht zur Ranch gebracht hat. Aber wir wissen, dass Chip Moseley schon einmal in Texarkana verhaftet wurde, zumindest geht das aus Victorias Unterlagen hervor. Er war also bestimmt öfter dort. Und wenn das stimmt, was Tom Bowden sagt, wissen wir auch, dass die Joyces ein paar Ärzte dort hatten. Also besaßen auch sie Verbindungen dorthin. Das ist kein sehr überzeugender Anknüpfungspunkt, aber immerhin ein Anknüpfungspunkt.« »Und als wir die Joyces trafen, kamen mir beide Männer irgendwie bekannt vor.« »Chip und Drex?« Ich nickte. »Ich weiß, dass das nicht sehr aussagekräftig ist, weil ich den Grund dafür nicht benennen kann. Aber die meisten Leute, an die ich mich nur noch vage erinnern kann, kamen zum Wohnwagen. Und ich hasse es, mich an diese Zeit zu erinnern. Außerdem habe ich damals versucht, bewusst wegzusehen, weil es gefährlich war, zu wissen, wer Drogen kauft und verkauft.« »Ja«, sagte Tolliver mit Nachdruck. »Das war gefährlich, und zwar jeden Tag aufs Neue, solange wir dort wohnten.« »Deshalb glaube ich, dass dein Dad in die Sache verwickelt ist. Ich frage mich, ob er sich bei Mark gemeldet hat, damit der Kontakt zu dir aufnimmt.« Tolliver überlegte. »Das kann schon sein«, sagte er. »Denn ich hätte weder seine Briefe noch seine Anrufe beantwortet. Gut möglich, dass er Mark nur benutzt hat.« Tollivers Gesicht zeigte Schmerz. Noch bis jetzt hatte er einen Funken Hoffnung gehabt, dass sein Dad versuchte, das Richtige zu tun, ja, dass sich Matthew wirklich geändert hatte. »Aber was ist passiert?«, fragte ich frustriert. »Warum hat er sich mit den Joyces eingelassen? Und wie wurde Cameron da mit hineingezogen?« »Cameron? Warum sollte mein Dad Cameron etwas antun?« Tolliver schüttelte den Kopf. »Er hatte ein Alibi, vergiss das nicht. Als die alte Frau sah, wie Cameron in den Truck stieg, spielte Dad mit diesem Arschloch und seiner Freundin Billard.« »Ich kann mich noch an den Kerl erinnern«, sagte ich. »Aber jetzt ab ins Bett mit dir! Wir können morgen weiterreden.« 17 Tolliver war erschöpft und wie betäubt. Ich musste ihm helfen, ins Bett zu klettern. Ich rief den Zimmerservice an und bestellte Suppe und Salat. Dann setzte ich mich auf die Bettkante, und wir warteten auf das Essen. »Matthew ist zu vielem fähig«, sagte er, »aber ich glaube nicht, dass er Cameron etwas angetan hat.« »Der Gedanke ist mir auch noch nie gekommen«, sagte ich. »Ehrlich gesagt, möchte ich es auch nicht glauben. Aber wenn er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun und uns all die Jahre im Unklaren gelassen hat, will ich ihn tot sehen.« Bei Tolliver brauchte ich nicht zu fürchten, dass er die Aussage in den falschen Hals bekäme. Er kannte mich. Und jetzt kannte er mich noch ein bisschen besser. Tolliver verstand. »Wenn er Cameron etwas angetan hat, hätte er es verdient, zu sterben«, sagte er. »Aber es gibt nichts, was ihn mit Camerons Verschwinden in Verbindung bringt. Außerdem hatte er keinerlei Motiv. So gesehen haben wir keinen Beweis dafür, dass er in die Sache mit den Joyces verwickelt ist. Wir brauchen mehr als die Rückenansicht eines Mannes, der ein öffentliches Gebäude verlässt.« »Verstehe«, sagte ich – und ich verstand ihn wirklich. »Also müssen wir der Sache tiefer auf den Grund gehen. Wir können schließlich nicht so tun, als wenn nichts wäre.« »Ja«, sagte Tolliver und schloss die Augen. Zu meiner Überraschung schlief er ein. Ich aß allein zu Abend, ließ ihm aber etwas übrig, falls er wieder aufwachte und doch etwas essen wollte. Nachdem ich meinen Salat intus hatte, tat ich etwas, das ich bestimmt schon seit einem Jahr nicht mehr getan hatte: Ich ging zu unserem Wagen, öffnete den Kofferraum und holte den Rucksack meiner Schwester heraus. Zurück auf unserem Zimmer setzte ich mich aufs Sofa und machte ihn auf. Wir fanden ihn so niedlich, als Cameron ihn sich aussuchte. Er war pink mit schwarzen Pünktchen. Cameron hatte eine schwarze Jacke und schwarze Stiefel aufgetrieben und sah fantastisch darin aus. Niemand brauchte zu wissen, dass alles aus einem Secondhandladen stammte. Die Polizei hatte uns den Rucksack schließlich überlassen, nach sechs Jahren. Man hatte ihn auf Fingerabdrücke untersucht, sein Innerstes nach außen gekehrt, ihn unter dem Mikroskop betrachtet … Soweit ich wusste, hatte man ihn sogar geröntgt. Cameron müsste jetzt knapp sechsundzwanzig sein. Sie war seit fast acht Jahren verschwunden. Es war Spätfrühling, als sie entführt wurde. Sie hatte die Sporthalle der Schule für den Abschlussball dekoriert. Sie hatte eine Verabredung gehabt, und zwar mit – oh Gott, ich konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Mit Todd? Ja, mit Todd Battista. Keine Ahnung, ob ich ebenfalls eine Verabredung gehabt hatte. Wahrscheinlich nicht, denn nach dem Blitzschlag war meine Beliebtheit schlagartig gesunken. Meine neue Gabe hatte mich völlig außer Gefecht gesetzt. Ich brauchte fast ein Jahr, um mich an das Summen der Toten zu gewöhnen. Und dann musste ich lernen, meine seltsame Gabe zu verbergen. In dieser schlimmen Zeit galt ich zu Recht als reichlich merkwürdig. Sie hatte sich an jenem Tag wahnsinnig verspätet, was so gar nicht Camerons Art war. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter so weit wach bekam, dass sie auf die Mädchen aufpassen konnte, die ich bei der Tagesmutter abgeholt hatte. Obwohl es nicht gerade schlau war, meine Mom mit ihnen allein zu lassen, konnte ich sie nicht mitnehmen. Ich lief die Straße hinunter, vorbei an den anderen Wohnwagen, und nahm den Weg, den wir immer von der Schule nach Hause gingen. Tolliver und Mark arbeiteten, und Matthew hatte bei einem seiner reizenden Freunde Billard gespielt, wie sich später herausstellte. Bei einem Junkie namens Renaldo Simpkins. Die Polizei hätte Renaldo nie geglaubt, aber seine Freundin Tammy war ebenfalls dabei gewesen. Sie sagte aus, dass sie während der Billardpartie mindestens fünf Mal ins Zimmer gekommen wäre. Sie war sich ganz sicher, dass Matthew das Haus zwischen vier und halb sieben nicht verlassen hatte. (Halb sieben deshalb, weil da eine Nachbarin angerufen und gesagt hatte, dass der Wohnwagen der Langs von Streifenwagen umstellt sei. Matthew solle seinen Arsch schleunigst nach Hause bewegen.) Gegen halb sechs hatte ich den Rucksack meiner Schwester gefunden – der, der jetzt vor mir auf dem Couchtisch stand. Und zwar am Straßenrand. Die Straße führte durch ein Wohngebiet mit einfachen Häuschen. Die Hälfte davon stand leer. Aber gegenüber der Stelle, wo ich Camerons Rucksack gefunden hatte, wohnte eine Frau. Sie hieß Ida Beaumont. Ich hatte mich vorher noch nie mit Ida Beaumont unterhalten, und obwohl ich oft an ihrem Haus vorbeigekommen war, hatte ich sie so gut wie nie im Garten gesehen. Sie hatte Angst vor den vielen Teenagern in ihrer Nachbarschaft – vielleicht sogar aus gutem Grund. Das war ein Viertel, in dem sogar die Polizei auf der Hut war. Aber an jenem Tag lernte ich Ida Beaumont kennen. Ich überquerte die Straße und klopfte an ihre Tür. »Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung. Aber meine Schwester ist heute nicht von der Schule nach Hause gekommen, und ihr Rucksack liegt da unter diesem Baum.« Ich zeigte zu dem bunten Farbfleck hinüber. Ida Beaumont starrte darauf, ihr Blick folgte meinem Finger. »Ja«, sagte sie vorsichtig. Sie war Anfang sechzig, und aus der Zeitung erfuhr ich später, dass sie von einer Art Behindertenrente lebte sowie von dem, was ihr noch von der Rente ihres Mannes übrig geblieben war. Ich konnte hören, dass ihr Fernseher lief. Sie sah sich eine Talkshow an. »Wer ist Ihre Schwester?«, fragte sie. »Ist sie das hübsche blonde Mädchen? Ich sehe euch immer zusammen von der Schule kommen.« »Ja, Ma’am. Das ist sie. Ich suche sie. Haben Sie dort drüben heute Nachmittag irgendetwas beobachtet? Sie hätte eigentlich im Lauf der letzten Stunde nach Hause kommen müssen.« »Normalerweise halte ich mich im hinteren Teil des Hauses auf.« Ida schien das bewusst zu betonen, wahrscheinlich, damit ich sie nicht als Wichtigtuerin abtat. »Aber ich habe etwa vor einer halben Stunde einen blauen Pick-up gesehen, einen alten Dodge. Der Mann darin sprach mit dem Mädchen. Ich konnte sie nicht richtig erkennen, weil sie auf der anderen Seite des Pick-ups stand. Aber sie stieg ein, und dann sind sie losgefahren.« »Oh.« Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Versuchte, mich daran zu erinnern, ob einer unserer Bekannten einen blauen Pick-up hatte. Aber mir fiel keiner ein. »Danke. Und das war ungefähr vor einer halben Stunde?« »Ja«, sagte sie sehr bestimmt. »Ganz genau.« »Und sie sah nicht so aus, als … als hätte er sie dazu gezwungen?« »Dazu kann ich nichts sagen. Sie haben sich unterhalten, sie ist eingestiegen, und dann sind sie davongefahren.« »Gut. Vielen Dank für Ihre Auskunft.« Dann machte ich kehrt und überquerte erneut die Straße. Ich drehte mich um. Ida Beaumont stand immer noch in ihrer Haustür. »Haben Sie Telefon?«, fragte ich. Wir lebten in einem Viertel, wo das nicht selbstverständlich war. »Ja.« »Würden Sie die Polizei rufen und ihr ausrichten, was ich Ihnen gerade über meine Schwester erzählt habe? Würden Sie sie bitten, herzukommen? Ich stehe da drüben, neben dem Rucksack.« Ich konnte so etwas wie Widerwillen auf Ida Beaumonts Gesicht erkennen und wusste, dass sich die alte Frau wünschte, nicht an die Tür gegangen zu sein. »Na, gut«, sagte sie schließlich und seufzte laut. »Ich rufe sie an.« Ohne die hölzerne Haustür zu schließen, ging sie zu einem an der Wand montierten Telefon. Ich konnte sehen, wie sie die Nummer der Polizei wählte, und hörte auch, was sie sagte. Eines muss ich der Polizei lassen: Sie kam sehr schnell. Anfangs zweifelte sie natürlich daran, dass Cameron wirklich vermisst wurde. Teenagermädchen haben of Besseres zu tun, als nach Hause zu gehen, vor allem wenn sie in so einem Viertel wohnen. Aber der zurückgelassene Rucksack sprach eine andere Sprache, nämlich die, dass meine Schwester nicht freiwillig mitgefahren war. Schließlich war ich weinend zusammengebrochen und hatte ihnen erklärt, dass ich nach Hause müsse. Dass man meine Schwestern meiner Mom nicht anvertrauen könne, was alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Ich durfte meine Brüder anrufen, die sofort alles stehen und liegen ließen und nach Hause kamen. Dass weder Mark noch Tolliver an Camerons Entführung zweifelten, überzeugte die Polizei zusätzlich, dass meine Schwester nicht freiwillig mitgegangen oder absichtlich weggelaufen war. Die Polizei zum Wohnwagen zu bringen, wäre auch unter normalen Umständen eine erniedrigende Erfahrung gewesen. Aber inzwischen hatte ich solche Angst, dass ich froh war über ihre Anwesenheit. Die Polizisten sahen, dass meine Mutter wieder bewusstlos auf dem Sofa lag, und die Mädchen weinten. Sie hatte angefangen, Gracie eine Windel anzulegen, sie aber nicht mehr zugemacht. Mariella versuchte, ein Stückchen Banane für Gracie zu zerdrücken, die erst seit Kurzem feste Nahrung zu sich nahm. Sie stand auf einem Stuhl, um die Arbeitsfläche zu erreichen. Die Küche war sauber, soweit sie das in einem alten, maroden Wohnwagen überhaupt sein konnte. Aber natürlich war es dort sehr beengt, und unsere vielen Sachen riefen den Eindruck einer totalen Unordnung hervor. »Sieht es hier immer so aus?«, fragte der jüngere Polizist, während er sich umsah. »Sei ruhig, Ken!«, sagte sein Partner. »Cameron und ich tun, was wir können«, erwiderte ich und fing erneut an, zu weinen. Meine Verbitterung machte sich in einem erklärenden Wortschwall Luft. Ein Teil von mir hatte längst begriffen, dass unser bisheriges Leben vorbei war, also brauchte ich auch niemandem mehr etwas vorzumachen. Während ich weinte und redete, wickelte ich Gracie und machte Mariella ein Sandwich mit Erdnussbutter. Ich zerdrückte die Banane für Gracie, vermischte sie mit etwas Babynahrung und gab alles in eine Schale. Ich holte ihr einen kleinen Löffel aus dem Abtropfgestell. Meine Mutter rührte sich nicht. Nur einmal tastete ihre Hand nach der Stelle, an der Gracie gelegen hatte, und fuchtelte suchend herum. Ich setzte Gracie in ihren Kinderstuhl und fing an, sie zu füttern, wobei ich Pausen machte, um mir die Tränen abzuwischen. »Sie kümmern sich um Ihre Schwestern«, sagte der ältere Polizist freundlich. »Meine Brüder verdienen genug, dass wir sie zu einer Tagesmutter bringen können, während wir in der Schule sind«, sagte ich. »Wir haben uns wirklich bemüht.« »Das sehe ich«, sagte er. Der jüngere Polizist wandte sein Gesicht ab. Seine Lippen waren nur noch ein schmaler Strich, und seine Augen funkelten wütend. »Wo ist dein Daddy?«, fragte er nach einer Minute. »Mein Stiefvater«, verbesserte ich ihn automatisch. »Ich habe keine Ahnung.« Als Matthew nach Hause kam, gab er sich erstaunt, dass die Polizei da war. Entsetzt, dass Cameron verschwunden war. Und bestürzt, dass seine Frau trotz des Tumults nichts davon mitbekommen hatte. So etwas wäre noch nie passiert, behauptete er vor den Cops. Inzwischen war Verstärkung eingetroffen. Ein Cop, der Matthew schon einmal verhaftet hatte, schnaubte verächtlich, nachdem dieser seine Vorstellung beendet hatte. »Klar, Kumpel«, sagte der Officer. »Und wo warst du heute Nachmittag?« Nachdem meine Mutter ins Krankenhaus gebracht worden war, saßen Tolliver und ich auf dem Sofa. Mark lief nervös auf und ab, soweit das in einem Wohnwagen überhaupt möglich ist. Eine Sozialarbeiterin war gekommen, um unsere Schwestern mitzunehmen. Matthew war festgenommen worden, weil er ein paar Joints in seinem Auto liegen hatte. Aber die Drogen waren nur ein Vorwand: Nachdem sie den Wohnwagen gesehen und mit mir geredet hatten, wollten sie ihn bloß noch verhaften. Mark und Tolliver hatten alles bestätigt: Mark sehr widerwillig, Tolliver ganz sachlich, was viel über unser Leben aussagte. Aber als die Polizei weg war, traf ich Mark weinend vor dem Wohnwagen an. Er saß im Gartenstuhl vor den Stufen zum Wohnwagen und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. »Wir haben uns so bemüht, zusammenzubleiben«, sagte er, als müsste er seine Verfassung erklären. »Damit ist es jetzt ein für allemal vorbei«, sagte ich. »Jetzt, wo Cameron entführt wurde. Wir können nichts mehr verheimlichen.« Im darauffolgenden Monat war Cameron mehrmals in Texarkana, Dallas, Corpus Christi, Houston und Little Rock »gesehen« worden. Man hatte sogar eine junge Stadtstreicherin aus Los Angeles hergeschafft, weil sie aussah wie Cameron. Aber keiner dieser Hinweise hatte irgendetwas ergeben, und ihre Leiche war nie gefunden worden. Drei Jahre nach ihrem Verschwinden war ich ganz aufgeregt, weil ein Jäger eine Mädchenleiche in irgendwelchen Wäldern rund um Lewisville, Arkansas, gefunden hatte. Die Leiche – beziehungsweise das, was noch davon übrig war – war die einer Frau, auch die Größe passte zu Cameron. Aber nach einer genaueren Untersuchung stellte sich heraus, dass das Skelett zu einer deutlich älteren Frau gehörte, und auch die DNA stimmte nicht überein. Die Leiche war nie identifiziert worden, aber nachdem man mich in ihre Nähe gelassen hatte, erfuhr ich, dass sie Selbstmord begangen hatte. Ich erzählte es nicht weiter, weil mir die Polizei ohnehin nicht geglaubt hätte. Tolliver und ich hatten damals schon mit dem Reisen begonnen und bauten gerade unsere Firma auf. Es hatte lange gedauert, bis sich herumsprach, was ich tat, und das Internet darüber berichtete. Die Cops hielten mich für eine Betrügerin. Die ersten zwei Jahre waren hart. Doch danach kam meine Karriere in Schwung. Aber ich wollte jetzt nicht über meine Biografie, sondern über die von Cameron nachdenken. Ich strich liebevoll über den Rucksack und nahm alles heraus, was darin war. Ich hatte jeden einzelnen Gegenstand hundertfach untersucht. Wir hatten jedes Buch Seite für Seite durchgeschaut und nach einer Botschaft, nach irgendeinem Hinweis gesucht. Alle Zettel, die Cameron von anderen Schülern bekommen hatte, steckten in einer Tasche. Wir hatten sie wieder und wieder gelesen, um eine Erklärung für das zu finden, was unserer Schwester zugestoßen war. Tanya hatte Camerons Aufmerksamkeit auf Heathers bescheuertes Outfit lenken wollen. Tanya hatte auch Jerrys Bemerkung über Heather kommentiert, der behauptet hatte, SEX mit Heather gehabt zu haben. Jennifer fand Camerons Bruder SCHARF, hatte er eine Freundin? Und war Mr Arden nicht ein furchtbarer Schwachkopf? Todd hatte wissen wollen, wann er sie zum Abschlussball abholen solle. Würde sie sich bei Jennifer umziehen so wie beim letzten Mal? (Wenn Cameron es irgendwie einrichten konnte, ließ sie sich woanders abholen. Ich konnte das gut verstehen.) Es war auch ein Zettel von Mr Arden dabei gewesen: Cameron solle ihren Eltern ausrichten, dass einer von ihnen in die Schule kommen und erklären müsse, dass er über die Anwesenheitspflicht informiert sei. Eine schriftliche Entschuldigung reiche einfach nicht. (Mr Arden hatte der Polizei erzählt, dass Cameron einmal zu oft nicht zum Unterricht erschienen sei. Deshalb hätte er sich Camerons Eltern einmal vorknöpfen wollen, um sicherzustellen, dass Cameron nicht noch öfter die Schule schwänzte und ihren Abschluss gefährdete.) Sie hatte nicht aus Faulheit geschwänzt. Wenn sie fehlte, dann in der letzten Stunde, denn manchmal mussten wir früher weg und die Mädchen von der Tagesmutter holen, falls Tolliver oder Mark verhindert waren. Natürlich zeigten sich alle unsere Lehrer entsetzt von unseren Lebensbedingungen, nur nicht Miss Briarly. Miss Briarly hatte gesagt: »Und was hätten wir tun sollen? Die Polizei verständigen, damit die Kinder getrennt werden?« Genau darauf hatte sich die Presse gestürzt, sodass Miss Briarly vom Rektor verwarnt wurde. Darüber hatte ich mich wahnsinnig aufgeregt. Miss Briarly hatte Camerons Lieblingsfach unterrichtet, Biologie. Ich weiß noch, wie sehr Cameron für ihr Genetikprojekt geschuftet hatte, für das sie die Augenfarbe sämtlicher Nachbarn notiert hatte. Sie hatte eine Eins bekommen, und Miss Briarly hatte mir die Arbeit nach Camerons Verschwinden ausgehändigt. Ida Beaumont musste ihre Geschichte immer wieder aufs Neue erzählen. Im Zuge dessen wurde sie zur totalen Einsiedlerin und ging nicht einmal mehr an die Tür. Die Einkäufe ließ sie sich von der Kirche bringen. Meine Mutter und Tollivers Vater waren zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Man legte ihnen alles Mögliche zur Last, angefangen von Kindesvernachlässigung bis hin zu Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Tolliver hatte man erlaubt, zu Mark zu ziehen. Ich war in eine Pflegefamilie gekommen, in der man mich sehr gut behandelte. Ich fand es herrlich, in einem richtigen Haus zu wohnen und mir das Zimmer nur noch mit einem anderen Mädchen teilen zu müssen. In einem Haushalt, in dem alles sauber war, ohne dass ich vorher saubermachen musste, und in dem es feste Hausaufgabenzeiten gab. Ich schreibe den Clevelands immer noch zu Weihnachten. Sie erlaubten, dass mich Tolliver samstags besuchte, wenn er nicht gerade arbeiten musste. Als ich meinen Schulabschluss machte, planten wir bereits, uns mit meiner seltsamen Gabe den Lebensunterhalt zu verdienen. Wir verbrachten Stunden auf dem Friedhof, wo wir übten und die Grenzen meiner Fähigkeiten ausloteten. Noch merkwürdiger als unser Plan war die Tatsache, dass das eine sehr schöne Zeit in meinem Leben gewesen war, und ich glaube, auch in dem von Tolliver. Das Traurigste daran war, dass ich alle meine Schwestern verloren hatte. Cameron war verschwunden, und Mariella und Gracie lebten bei Iona und Hank. Ich schlug Camerons Mathematikbuch auf. Sie hatte das Fach gehasst. Cameron war nicht besonders gut in Mathe. Dafür war sie gut in Geschichte, das weiß ich noch. Geschichte hatte ihr gefallen. Es war leichter, sich mit dem Leben von Personen zu befassen, die bereits tot waren und deren Probleme der Vergangenheit angehörten. Cameron war gut in Rechtschreibung und in Naturwissenschaften, vor allem aber in Biologie. Die Zeitungen hatten seitenweise über die schlimmen Zustände im Wohnwagen berichtet. Über Laurels und Matthews Lasterleben, über das Strafregister ihrer Besucher und über die Anstrengungen, die wir Kinder unternommen hatten, um zusammenbleiben zu können. Doch ehrlich gesagt fand ich unser Zuhause so ungewöhnlich auch wieder nicht. In der stillschweigenden Art, wie Kinder miteinander kommunizieren, wussten wir von einem Dutzend oder mehr Kindern, dass sie unter ähnlichen oder sogar noch schlimmeren Umständen lebten. Viele Leute können nichts dafür, dass sie arm sind. Aber sie können etwas dafür, dass sie schlecht sind. Wir hatten leider Eltern, die beides waren. Ich schlug eines der Hefte meiner Schwester auf. Ihre Schulhefte waren alle noch da. Die schmuddeligen linierten Seiten mit ihrer Handschrift waren alles, was mir noch von ihr geblieben war. Cameron war außer mir die einzige gewesen, die sich noch an die guten Zeiten erinnern konnte. An jene Zeiten, in denen unsere Eltern noch verheiratet und nicht drogensüchtig waren. Wenn mein Vater noch lebte, würde er sich wahrscheinlich kaum noch daran erinnern können. Ich schüttelte mich. Ich wollte nicht sentimental werden. Aber ich musste mich an den Tag zurückerinnern, an dem Cameron verschwand. Wenn sie freiwillig in diesen Pick-up gestiegen war, sollte ich vielleicht aufhören, nach ihr zu suchen. Denn dann wäre sie mir nicht nur fremd, sondern es gäbe auch keine Leiche aufzuspüren – außer ihr war in der Zwischenzeit etwas zugestoßen. Die Ironie des Schicksals bestand darin, dass ich Cameron erst finden konnte, wenn sie tot war. Ich fragte mich, ob Ida Beaumont noch lebte. Ich war damals so jung gewesen, dass sie für mich schon mit einem Bein im Grab zu stehen schien. Jetzt wurde mir klar, dass sie höchstens fünfundsechzig gewesen war. Aus einem unerklärlichen Impuls heraus rief ich die Auskunft von Texarkana an und erfuhr, dass sie noch immer im Telefonbuch stand. Meine Finger wählten die Nummer, bevor ich überhaupt wusste, was ich mir davon versprach. »Hallo?«, sagte eine Quietschstimme misstrauisch. »Mrs Beaumont?« »Ja, hier spricht Ida Beaumont.« »Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich«, sagte ich. »Ich bin Harper Connelly.« Schweigen. »Was wollen Sie?«, sagte die Stimme. Das war nicht unbedingt die Frage, die ich erwartet hatte. »Wohnen Sie noch in demselben Haus, Mrs Beaumont? Ich würde Sie gern besuchen«, sagte ich spontan. »Ich würde gern einen meiner Brüder mitbringen.« »Nein«, sagte sie. »Bleiben Sie bloß weg! Als Sie das letzte Mal hier waren, haben die Leute noch wochenlang an meine Tür geklopft. Die Polizei schaut immer noch manchmal vorbei. Bleiben Sie weg.« »Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte ich ebenso wütend wie bestimmt. »Die Polizei hat mir bereits jede Menge Fragen gestellt«, giftete sie zurück. In diesem Moment merkte ich, dass ich es völlig falsch angestellt hatte. »Ich wünschte, ich wäre damals nie an die Tür gegangen.« »Aber dann hätten Sie mir das mit dem blauen Pick-up nicht erzählen können«, sagte ich. »Ich habe Ihnen aber auch gesagt, dass ich das Mädchen nicht richtig erkannt habe.« »Ja«, sagte ich, obwohl ich das nach all den Jahren mehr oder weniger verdrängt hatte. Ich vermisste ein Mädchen, und sie hatte gesehen, wie ein Mädchen in einen Pick-up stieg. Außerdem lag Camerons Rucksack dort. Über die Leitung hörte ich ein lautes Seufzen. Dann begann Ida Beaumont zu reden. »Eine junge Frau bringt mir seit einem halben Jahr Essen auf Rädern«, sagte sie. »Das Essen schmeckt zwar nicht, ist aber dafür umsonst. Manchmal bringt sie mir sogar so viel, dass es für zwei Tage reicht. Sie heißt Missy Klein.« »Aha«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Mein Herz sackte mir in die Hose, weil ich wusste, dass sie schlechte Nachrichten für mich hatte. »Und sie sagte zu mir: ›Mrs Beaumont, wissen Sie noch, wie Sie vor all den Jahren das Mädchen in den blauen Pick-up steigen sahen?‹ Und ich sagte: ›Na klar, und es hat mir nichts als Ärger eingebracht.‹« »Ja.« Die böse Vorahnung wurde immer stärker. »Und dann hat sie mir erzählt, dass sie damals zu ihrem Freund in den Truck gestiegen ist, den sie eigentlich gar nicht treffen durfte, weil er schon über zwanzig war.« »Es war nicht meine Schwester?« »Nein. Es war diese Missy Klein, und jetzt bringt sie mir Essen auf Rädern.« »Sie haben meine Schwester nie gesehen.« »Nein. Und Missy hat mir erzählt, dass dieser Rucksack bereits dort lag, als sie vorbeikam, um in seinen Wagen zu steigen.« Ich drohte unter einer Riesenlast zusammenzubrechen. »Haben Sie das schon der Polizei erzählt?«, fragte ich schließlich. »Nein, ich rufe die Polizei nicht an. Das hätte ich wahrscheinlich tun sollen, aber na ja, sie ist schon so oft gekommen und hat mich nach jenem Tag befragt … Peter Gresham schaut immer noch in regelmäßigen Abständen vorbei. Ich dachte, ich sage es ihm, wenn er das nächste Mal da ist.« »Danke«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst. Trotzdem danke, dass Sie es mir gesagt haben.« »Aber das ist doch selbstverständlich. Ich dachte, Sie wären wütend auf mich«, sagte sie zu meinem Erstaunen. »Ich bin froh, dass ich Sie angerufen habe. Auf Wiederhören«, sagte ich. Meine Stimme war genauso betäubt wie mein Herz. Jede Minute konnte das Gefühl zurückkehren. Ich wollte nicht mehr mit dieser Frau telefonieren, wenn es so weit war. Ida Beaumont sagte noch etwas über Essen auf Rädern, als ich auflegte. Im selben Moment rief mich Lizzie Joyce an, ohne dass ich die Konsequenzen des soeben Gehörten überhaupt richtig begriffen hatte. »Oh Gott!«, sagte sie. »Ich kann es kaum fassen, dass Victoria tot ist. Sie waren mit ihr befreundet, oder? Kannten Sie sich schon lange? Harper, es tut mir so leid! Was, glauben Sie, ist ihr zugestoßen? Hatte es etwas mit der Suche nach dem Baby zu tun?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, erwiderte ich, auch wenn das gelogen war. Ich glaubte nicht, dass Lizzie Joyce etwas mit dem Mord an Victoria zu tun hatte, aber jemand aus ihrem Umfeld sehr wohl. Ich wunderte mich, warum sie mich anrief. Hatte Lizzie Joyce, die Geld wie Heu hatte, denn keine beste Freundin? Und was war mit der Schwester, dem Freund und dem Bruder? Warum rief sie nicht Leute an, mit denen sie in irgendwelchen Vorständen saß? Leute, die für sie arbeiteten, ihr die Haare und Fingernägel machten, bevor sie fein ausging? Leute, die die Tonnen für ihre Turniere aufstellten? Nachdem ich ihr kurz zugehört hatte, merkte ich, dass Lizzie mit jemandem sprechen wollte, den sie nicht erst noch einweihen musste. Mit jemandem, der Victoria gekannt hatte. Und ich war nun mal diejenige, auf die beides zutraf. »Ich glaube, ich werde mich an die Detektei wenden, die die Firma meines Großvaters immer beauftragt«, sagte sie. »Dabei dachte ich, es wäre besser, eine unabhängige Frau zu beschäftigen. Jemanden, der sich nicht mit unseren Geschäften auskennt und nicht in unsere Familiengeschichte verwickelt ist. Doch vermutlich bin ich für ihren Tod verantwortlich. Wäre ich zu unserer üblichen Detektei gegangen, wäre sie noch am Leben.« Dem konnte ich nicht widersprechen. »Wieso arbeiten Sie überhaupt mit einer Detektei zusammen?«, erkundigte ich mich stattdessen. »Granddaddy begann damit, als er Chef einer riesigen Firma wurde. Mehr als nur ein Rancher. Er wusste gern, wen er einstellte, wenigstens bei den Schlüsselpositionen.« Lizzie schien sich zu wundern, dass ich überhaupt fragte. »Warum hat er sie dann nicht beauftragt, Erkundigungen über Mariah Parish einzuholen?« »Granddaddy hatte sie kennengelernt, als sie noch für die Peadens arbeitete. Und als er jemanden brauchte und sie zur Verfügung stand, schien das die ideale Lösung zu sein. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl, sie zu kennen, und wollte deshalb keinerlei Erkundigungen mehr über sie einholen. Schließlich stellte sie keine Schecks für uns aus oder so etwas.« Er hätte ihr nicht sein Scheckbuch anvertraut. Aber er vertraute ihren Kochkünsten, ohne Angst zu haben, vergiftet zu werden. Und er vertraute ihren Putzkünsten, ohne Angst zu haben, bestohlen zu werden. Selbst misstrauische reiche Leute haben ihre Achillesferse. Nach allem, was wir aus den Unterlagen über Mariah wussten, war das wirklich eine Ironie des Schicksals. Ich hatte nicht gewusst, dass Rich Joyce Mariah bereits begegnet war, bevor sie bei ihm einzog. Drexell hatte das bei dem Abendessen mit Victoria gar nicht erwähnt. Vielleicht hatte Rich das als gute Gelegenheit gesehen, eine heimliche Geliebte einzuschleusen. Vielleicht hatte ihm sein Freund, bei dem Mariah zuerst gearbeitet hatte, erzählt, dass er mit ihr im Bett gewesen sei. Stups, stups, zwinker, zwinker. Ich habe hier eine gute Frau für dich, die kochen, deine Tabletten zählen und dein Bett wärmen kann, Rich. Sie kann sofort bei dir einziehen. »Und Sie haben nicht im Traum daran gedacht, Erkundigungen über sie einzuholen wie bei jedem anderen Angestellten auch?« »Na ja«, sagte Lizzie mit wachsendem Unbehagen. »Sie war sich längst mit Granddaddy einig geworden, als wir davon erfuhren. Da er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, konnten wir uns da nicht einmischen.« Alle Joyce-Enkel hatten Angst vor dem Patriarchen gehabt. »Und im Nachhinein haben Sie auch keine Erkundigungen einholen lassen?« »Na ja, dann hätte er davon erfahren. Damals hätte ich eine unabhängige Detektivin anheuern sollen. Aber um ehrlich zu sein, habe ich mir zu der Zeit nicht viele Gedanken darüber gemacht. Das Ganze ist so lange her, ich war noch jung und nicht so selbstbewusst. Außerdem glaubte ich natürlich, Granddaddy würde ewig leben.« Lizzie verstummte, wahrscheinlich weil sie merkte, dass sie zu viel von sich preisgab. »Na ja, ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid mir das mit Ihrer Freundin tut. Wie geht es eigentlich Ihrem Bruder? Die ganze Sache nimmt immer dramatischere Formen an.« »Wünschten Sie, Sie hätten mich niemals engagiert?« Schweigen. »Ehrlich gesagt, ja«, sagte sie. »So wie es aussieht, sind viele Menschen gestorben, und das vollkommen umsonst. Was hat sich schon geändert? Welche neuen Erkenntnisse habe ich gewonnen? Gar keine. Mein Großvater sah eine Klapperschlange und starb. Wir wissen nicht genau, ob noch jemand dabei war. Er ist und bleibt tot. Mariah ist ebenfalls tot. Nur dass sie in meiner Vorstellung jetzt nicht mehr in Frieden ruht, seit ich weiß, dass sie im Kindbett starb. Wo ist das Baby? Ist das Baby eine Tante oder ein Onkel von mir? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht werde ich es niemals herausfinden.« »Irgendjemand scheint dafür zu sorgen, dass Sie es niemals herausfinden werden«, sagte ich. »Auf Wiederhören, Lizzie.« Dann legte ich auf. Manfred kam vorbei, und ich war froh, ihn zu sehen. Aber ich hatte keine große Lust zu reden. Er fragte mich nach dem Rucksack. »Der gehört meiner Schwester«, sagte ich. »Sie hat ihn an dem Tag zurückgelassen, an dem sie verschwand.« Ich drehte mich um, um auf Tollivers Rufe zu reagieren. Er war kurz aufgewacht und bat um eine Schmerztablette. Noch bevor er sie einnehmen konnte, schlief er wieder ein. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, ließ Manfred den Rucksack los. Er sah traurig aus. »Tut mir leid, dass dir das passiert ist, Harper.« »Danke für deine Anteilnahme, Manfred, aber es ist meiner Schwester passiert. Ich habe nur mit den Folgen zu kämpfen.« »Wir sehen uns bald. Mach dir keine Sorgen, wenn ich mich für ein paar Tage nicht melde. Ich habe noch etwas zu erledigen.« »Oh … na gut.« Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir um Manfred Sorgen zu machen. Bevor er ging, gab er mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, und ich war froh, die Tür hinter ihm zumachen zu können. Ich setzte mich und dachte über meine Schwester nach. 18 Als Tolliver am nächsten Morgen aufwachte, ging es ihm deutlich besser. Er hatte zwölf Stunden durchgeschlafen, und kaum dass er wach wurde, ließ er mich spüren, wie energiegeladen er war. Wir mussten vorsichtig sein, aber wenn ich oben saß, konnten wir Sex haben. Und zwar völlig problemlos. Ehrlich gesagt, war es herrlich. Ich hatte schon Angst, er könnte explodieren, so sehr genoss er es. Danach lag er keuchend da, als hätte er den anstrengendsten Part gehabt. Ich ließ mich neben ihn plumpsen und lachte erschöpft. »Jetzt bin ich wieder ganz ich selbst«, sagte er. »Irgendwie fühlt man sich weniger männlich, wenn man bettlägerig und außerstande ist, Sex zu haben. Man verwandelt sich wieder in ein kleines Kind.« »Lass uns einfach ins Auto steigen und abhauen«, schlug ich vor. »Lass uns nach Hause fahren. Wir könnten einen Tag in St. Louis bleiben. Bis dahin überstehst du die Fahrt bestimmt.« »Wie wär’s, wenn wir bleiben und die Mädchen noch ein paarmal besuchen? Wie wär’s, wenn wir herausfänden, ob es tatsächlich eine Verbindung zwischen meinem Vater, den Joyces und Cameron gibt?« »Vielleicht hattest du doch recht. Vielleicht sollten wir die Mädchen Iona und Hank überlassen. Sie sind stabil, und zwar in jeglicher Hinsicht. Wir sind so oft unterwegs. Wir werden niemals eine Konstante in ihrem Leben sein. Und dein Dad? Der wird ohnehin zur Hölle fahren. Wenn wir die Sache nicht weiterverfolgen, wird es bloß ein bisschen länger dauern. Außerdem wären wir ihn los.« Tolliver wirkte nachdenklich. »Komm her!«, sagte er, und ich legte meinen Kopf auf seine gesunde Schulter. Er zuckte nicht zusammen, also war es in Ordnung. Ich strich über seine Brust, dort, wo er keinen Verband trug. Ich dachte an den Moment, in dem mir klar geworden war, dass ich ihn liebte. An den Moment, in dem ich entdeckt hatte, dass er mich auch liebte, und fragte mich, wie ich es bloß vorher ausgehalten hatte. Wir hatten unglaubliches Glück, und ich wusste, dass ich Persönlichkeitsanteile besaß, die mir Angst machten. Persönlichkeitsanteile, die alles tun würden, um das, was wir miteinander hatten, nicht zu gefährden. »Weißt du, was wir tun sollten?«, sagte er. »Was denn?« »Wir sollten einen Ausflug machen.« »Oh. Wohin denn?« »Nach Texarkana.« Ich erstarrte. »Meinst du das ernst?«, fragte ich und sah ungläubig zu ihm auf. »Ja. Es wird Zeit, dass wir noch einmal hinfahren, uns dort umsehen und anschließend loslassen.« »Loslassen.« »Ja. Wir müssen uns eingestehen, dass wir Cameron nicht finden werden.« »Ich muss dir diesbezüglich noch etwas erzählen.« »Hä?«, fragte er besorgt. Wenn mir schon nicht gefiel, was er gerade gesagt hatte, würde ihm das, was ich ihm nun sagen musste, erst recht nicht gefallen. »Ich habe gestern ein paar Anrufe gemacht«, sagte ich. »Und welche bekommen. Als du geschlafen hast. Ich muss dir davon erzählen.« Eine Stunde später sagte Tolliver: »Die Frau hat sich geirrt? Wir haben also die ganze Zeit eine falsche Spur verfolgt? Sie hat sich einfach bloß getäuscht?« »Sie hat nie behauptet, Cameron erkannt zu haben. Nur, dass da ein Rucksack lag, nachdem sie ein blondes Mädchen in einen blauen Pick-up steigen sah«, sagte ich. »Wir können also wieder ganz von vorne anfangen. Im Grunde …« Ich überlegte kurz. »Im Grunde wirft das den ganzen Zeitplan über den Haufen. Sie sagte, dass Cameron etwa eine halbe Stunde, bevor ich kam, mitgenommen wurde. Und ich habe etwa um Punkt fünf mit meiner Suche nach Cameron begonnen. Aber jetzt müssen wir davon ausgehen, dass Cameron früher entführt wurde.« »Sie hat die Schule gegen vier Uhr verlassen, stimmt’s?« »Ja, das stimmt. Das hat ihre Freundin – wie hieß sie noch gleich? – Rebecca erzählt. Aber sie hat auch gesagt, dass sie das so genau nicht beschwören kann. Sie hatten die ganze letzte Schulstunde über die Sporthalle dekoriert und auch nach Unterrichtsschluss noch damit weitergemacht. Ich habe immer angenommen, dass sie noch auf dem Parkplatz geblieben ist und mit Freunden geplaudert hat. Aber jetzt gehe ich davon aus, dass sie direkt danach nach Hause aufbrach. Du hast im Restaurant gearbeitet. Mark fuhr von seinem Job bei Taco Bell zu seinem Job bei Super-Save-a-Lot.« »Eine siebenminütige Autofahrt«, sagte Tolliver automatisch. Wir hatten so oft darüber gesprochen. »Dein Dad war etwa von vier bis halb sieben bei Renaldo Simpkin. Meine Mom war bewusstlos wie immer.« Wir sahen uns an. Nach dem neuen Zeitplan war Matthews Alibi deutlich weniger überzeugend als gedacht. »Egal, was ich von ihm halte – ich will das einfach nicht glauben«, sagte ich. »Wir müssen nach Texarkana.« »Lass uns zuerst im Krankenhaus anrufen und hören, was die Schwester dazu sagt.« Die Schwester verbot uns die Fahrt und meinte, Tolliver müsse im Hotelzimmer bleiben. Wir könnten so vorsichtig sein, wie wir wollten: Sie verbot es uns. Sie freute sich, dass es ihm schon viel besser ginge, aber er würde im Laufe des Tages immer müder werden. Natürlich hätten wir uns einfach über ihre Anweisungen hinwegsetzen können, aber das wollte ich nicht. Wahrscheinlich hatte sie recht mit ihrem Verbot. Obwohl ich froh gewesen wäre, wenn Tolliver hätte reisen dürfen, wollte ich es nicht riskieren, im Notfall weit weg von seinem Krankenhaus zu sein. Natürlich gab es auch in Texarkana Ärzte. Es gab dort sogar Krankenhäuser. Aber mein gesunder Menschenverstand sagte mir, dass er in dem Krankenhaus, das ihn ursprünglich behandelt hatte, am besten aufgehoben wäre. Wir sahen uns an. Wir hatten kaum eine Wahl: Entweder wir verschoben die Fahrt nach Texarkana, bis es Tolliver besser ging. Oder wir fragten Manfred, ob er mich begleiten könnte. Ansonsten konnten wir noch Mark bitten, sich einen Tag frei zu nehmen und mit mir zu fahren. »Mir ist noch etwas eingefallen: Ich könnte auch allein fahren«, sagte ich. Tolliver schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß, und du würdest das bestimmt auch hinkriegen. Aber wenn es um Cameron geht, sollten wir beide fahren. Wir warten noch bis morgen, maximal bis übermorgen, wenn es sein muss. Aber dann fahren wir.« Ich war froh, einen Plan zu haben, und ganz besonders froh, dass Tolliver fit genug war, diesen Plan zu schmieden. Iona rief an und lud uns zum Abendessen ein, vorausgesetzt, Tolliver wäre dazu in der Lage. Er nickte, also sagte ich zu. Ich fragte nicht, ob wir etwas mitbringen sollten, denn mir wäre ohnehin nichts eingefallen. Außerdem hatte sie meine Angebote bisher stets abgelehnt, so als wären meine Mitbringsel per se suspekt. Der Tag zog sich hin wie Kaugummi. Endlich gingen wir zum Wagen, wobei sich Tolliver mit äußerster Vorsicht bewegte. Ich fuhr betont umsichtig zu Iona und Hank und versuchte niemandem reinzufahren, was in Dallas gar nicht so leicht ist. Ich war froh, dass wir in der Stadt bleiben konnten und nicht in den Abendverkehr auf der Interstate kamen. Die Gegend östlich von Dallas ist Peripherie pur. Dort gibt es sämtliche Läden, die man auch in allen anderen Vororten findet: Bed Bath & Beyond, Home Depot, Staples, Old Navy, Wal-Mart … Kaum hat man eine solche Abfolge von Ladenketten hinter sich gelassen, beginnt die nächste. Einerseits bekommt man dort alles, was man will, vorausgesetzt man hat nicht allzu exotische Bedürfnisse. Andererseits … sieht man überall in Amerika dieselben Läden. Wir sind viel unterwegs, aber wenn es keine größeren Klimaunterschiede gibt, lassen sich die jeweiligen Gegenden kaum auseinanderhalten, obwohl Tausende von Kilometern dazwischen liegen. Und was für die Ladenketten gilt, gilt auch für die Architektur: Wir haben Ionas und Hanks Haus schon überall gesehen – von Memphis bis Tallahassee, von St. Louis bis Seattle. Tolliver erwähnte das gerade wieder, während ich mich auf den Verkehr konzentrierte. Ich war erleichtert über seine vertrauten Beschwerden, weil ich dann nur in regelmäßigen Abständen ein »Stimmt« oder »Genau« einwerfen musste. Die Mädchen waren völlig aus dem Häuschen wegen Tollivers Verband. Sie bestürmten ihn mit Fragen und wollten ganz genau wissen, was ihm zugestoßen war. Iona hatte ihnen erzählt, dass jemand unvorsichtig gewesen war und aus Versehen auf ihn geschossen hätte. Auf diese Weise konnten sie und Hank ihnen noch einmal unter die Nase reiben, wie wichtig es war, sich an die Regeln zu halten. Hank besaß ebenfalls eine Waffe, wie er uns erzählte, hielt sie aber sicher unter Verschluss. Da sie versuchten, perfekte Eltern zu sein, hatten er und Iona den Mädchen von klein auf die Sicherheitsregeln im Umgang mit Waffen erklärt. Ich wusste das sehr zu schätzen, hätte es aber noch besser gefunden, den Waffenbesitz generell infrage zu stellen. Aber das passte nicht zu Hanks Vorstellungen von einem echten Amerikaner, sodass ein solcher Vorschlag bei meiner Tante und bei meinem Onkel nur auf wenig Gegenliebe gestoßen wäre. Nachdem ihre Neugierde gestillt war, verschwanden Mariella und Gracie und beschäftigten sich selbst. Mariella machte Hausaufgaben, und Gracie übte ein Lied für den Chor ein. Iona dagegen kümmerte sich noch um das Essen. Tolliver und Hank gingen ins Wohnzimmer, um die Nachrichten zu sehen, und ich bot Iona an, das Geschirr zu spülen, das während des Kochens schmutzig geworden war. Sie nickte lächelnd, und ich krempelte die Ärmel hoch und machte mich an die Arbeit. Ich spüle gern. Dabei kann ich nachdenken, mich mit einem Leidensgenossen unterhalten oder mich anschließend einfach nur am sauberen Geschirr erfreuen. »Matthew war heute da.« Iona rührte in einem Topf auf dem Herd. Sie machte Chili. »Er hat vor ein paar Tagen angerufen und gefragt, ob er herkommen könnte. Wir haben darüber nachgedacht. Er hat den Mädels neulich auf der Eisbahn einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wir glaubten, dass sie sich weniger Sorgen machen, wenn sie ihm in unserem Beisein begegnen. Vielleicht lauert er ihnen dann auch nicht mehr auf, wenn er merkt, dass er mit uns reden kann.« Das zeugte von gesundem Menschenverstand. Ich ertappte mich dabei, zustimmend zu nicken, obwohl sie sicherlich keinen großen Wert auf meine Meinung legte. »Ich wette, er ist nicht bloß gekommen, um die Mädels zu besuchen. Was wollte er?« Matthew war ziemlich beschäftigt. Ich fragte mich, wann er da noch Zeit fand, um zu arbeiten. »Er wollte ein paar Fotos von den Mädchen machen. Er hatte keine aktuellen. Wir haben ihm ihre Klassenfotos geschickt, aber er meinte, die wären ihm im Gefängnis gestohlen worden. Diese Männer stehlen einfach alles.« »Matthew ist einer von ihnen.« Sie musste doch tatsächlich lachen. »Ja, da hast du auch wieder recht. Trotzdem, wenn er sich Fotos von seinen Töchtern wünscht, werde ich sie ihm nicht vorenthalten. Obwohl sie jetzt unsere Töchter sind, und daran haben wir auch keinen Zweifel gelassen.« »Hat er viel mit ihnen geredet?«, fragte ich gespannt. »Nein«, sagte Iona. Sie ging in den Flur und hörte, dass die Mädchen ein Videospiel in ihrem Zimmer spielten. Dann kehrte sie an ihren Platz am Herd zurück. »Ich verstehe diesen Mann einfach nicht. Er war mit solch wunderbaren Kindern gesegnet! Tolliver und Mark sind beide gute Jungen, und dann hatte er noch dich und Cameron als Stieftöchter. Ihr wart beide intelligent, hübsch und nahmt keine Drogen. Anschließend bekommt er noch diese zwei Mädchen! Mariellas Noten werden immer besser. Abgesehen davon, dass sie im letzten Herbst mal kurz geschwänzt hat, macht sie sich gut in der Schule. Die arme Gracie hinkt ihren Mitschülern zwar immer etwas hinterher, aber sie beklagt sich nie, und sie bemüht sich wirklich sehr bei den Hausaufgaben. Aber Matthew scheint sie gar nicht wirklich kennenlernen zu wollen. Er hat Fotos gemacht und sich dann mit Hank und mir unterhalten. Die Mädchen wissen nicht recht, was sie von ihm halten sollen.« »Sie können sich nicht mehr an Texarkana erinnern.« »Eigentlich nicht«, sagte Iona. »Manchmal reden sie darüber, aber nie über einen konkreten Vorfall. Gracie war natürlich noch ein Baby, und Mariella gerade aus dem Kleinkindalter heraus.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß, dass meine Schwester und Matthew oft nicht da waren, wenn man sie brauchte.« Und das war noch stark untertrieben. »Ich habe dir noch nie gesagt, wie froh ich war, dass Hank und du bereit wart, sie aufzunehmen«, gestand ich ihr zu meiner eigenen Überraschung. »Es muss ganz schön heftig gewesen sein, von heute auf morgen zwei Kinder zu haben.« Ionas Löffel erstarrte im Topf, und sie drehte sich zu mir um. Ich trocknete die Teller ab und stellte sie auf die Anrichte, damit Iona sie aufräumen konnte. »Schön, dass du das sagst«, erwiderte sie. »Aber ich habe mich gefreut, sie aufnehmen zu dürfen. Außerdem war es das Beste, sie zu uns zu holen. Wir haben darum gebetet und diese Antwort erhalten. Wir lieben diese Kinder wie unsere eigenen. Ich kann es kaum fassen, dass wir doch noch ein Baby bekommen! In meinem Alter! Manchmal komme ich mir vor wie Abrahams Frau. Wie eine Siebzigjährige mit Kind.« Bis das Essen fertig war, sprachen wir über Ionas unverhoffte Schwangerschaft. Wir sprachen über ihren Frauenarzt, über spezielle Untersuchungen, die sie als Risikoschwangere machen lassen musste, und über andere Schwangerschaftsthemen. Iona war glücklicher, als ich sie je erlebt hatte, und alles, was ihre »anderen Umstände« betraf, war ein ergiebiges Gesprächsthema. Ich versuchte, mich für sie zu freuen und die richtigen Fragen zu stellen, aber unterschwellig machte ich mir Sorgen über Matthews Auftauchen. Darüber, dass er die Mädchen fotografiert hatte. Er wollte die Fotos bestimmt nicht für sich, weil er so stolz auf seine beiden gesunden Töchter war. So etwas Normales, Offensichtliches passte einfach nicht zu Matthew. Der gehandicapte Tolliver nahm zuerst am Esstisch Platz, gefolgt von Hank. Die Mädchen wuschen sich die Hände und setzten sich ebenfalls, anschließend trug Iona das Essen auf. Iona hatte Chili und Maisbrot zubereitet, und ich rieb Käse, um ihn über die dampfenden Schüsseln zu streuen. Wir sprachen ein Dankgebet und ließen uns das Essen schmecken. Iona besitzt keine Eigenschaften, die ich mit guten Köchen verbinde – sie kocht weder mit Leidenschaft, noch liebt sie frische Zutaten wie all die Fernsehköche. Sie verreist selten und mag keine exotischen Gerichte. Aber ihr Chili war köstlich, und bei ihrem Maisbrot lief mir das Wasser im Munde zusammen. Tolliver und ich verlangten mehrmals Nachschlag, und Iona freute sich über unser Lob. Mariella und Gracie erzählten ausführlich von der Schule und von ihren Freunden, und ich freute mich, dass sie sich so gut mit den anderen Kindern zu verstehen schienen. Gracie trug ein grünes Oberteil, das zu ihrer Augenfarbe passte. Sie wirkte wie eine kleine Elfe, obwohl ihr freches Stupsnäschen ahnen ließ, dass sie alles andere als harmlos war. Sie war ein drolliges kleines Ding. An diesem Abend kam sie regelrecht in Fahrt: Sie erzählte Witze, die sie in der Schule gehört hatte, und bat Iona, am nächsten Tag Chili Dogs zu machen, falls noch etwas Chili übrig blieb. Mariella erwähnte Matthews Besuch mehrmals, er schien sie zu beunruhigen. Jedes Mal reagierten Iona und Hank gelassen, und ich konnte zusehen, wie Mariellas Angst nachließ. Tolliver und ich gingen bald nach dem Essen, um das Gutenachtritual der Mädchen nicht zu stören. Unsere Schwestern waren dermaßen damit beschäftigt, sich einen Namen für das Baby auszudenken, dass sie Tollivers und meine Hochzeit anscheinend ganz vergessen hatten. Ich war sehr erleichtert darüber. Ich fuhr zurück zum Hotel, und Tolliver saß schweigend neben mir. Jetzt, wo es dunkel war, musste ich mich mehr auf die Strecke konzentrieren, und ich bog einmal falsch ab. Der Fehler ließ sich leicht korrigieren, und bald darauf half ich Tolliver aus dem Wagen. Ich sah, dass er müde war, aber er war schon ein wenig beweglicher. Wir durchquerten gerade die Lobby, als er sagte: »Hank hat erzählt, dass Dad Fotos von den Mädchen gemacht hat.« »Dasselbe hat mir Iona auch gesagt. Ich finde es vernünftig, dass sie Matthew und die Kinder in ihrem Beisein zusammengebracht haben. So hatten sie ihn wenigstens unter Kontrolle.« »Ja, das war ein kluger Schachzug«, sagte Tolliver, schien das Thema aber nicht weiter vertiefen zu wollen. »Aber warum wollte er sie wirklich fotografieren?« »Ich glaube nicht, dass dein Dad der Typ ist, der Fotos von seinen Kindern auf Facebook hochlädt. Ich habe nicht den leisesten Schimmer.« »Nein, auf die Idee würde er bestimmt nicht kommen«, sagte Tolliver nüchtern. »Hör mal, du hast dich doch um die Mädchen gekümmert, als sie noch klein waren …« »Ja, aber das weißt du doch. Cameron und ich haben uns beide um sie gekümmert. Vor allem um Gracie, sie war so anfällig.« Die automatischen Schiebetüren gingen auf, und wir betraten die Lobby. Die Frau an der Rezeption aß ein Plätzchen. Sie sah flüchtig auf, als wir hereinkamen, und vertiefte sich dann wieder in ihr Buch. »Kannst du dich noch an damals erinnern, als Gracie ins Krankenhaus musste?«, fragte Tolliver. »Na klar! Ich habe mich zu Tode geängstigt. Sie war vielleicht drei Monate alt und wirklich noch klein. Sie hatte ein ganz niedriges Geburtsgewicht, weißt du noch? Sie war so krank und hatte vier Tage lang wahnsinnig hohes Fieber. Wir haben auf deinen Dad eingeredet, dass er sie in die Notaufnahme bringen soll. Mom war so daneben, dass sie es nicht selbst tun konnte. Kein Arzt hätte sie das Baby wieder mitnehmen lassen. Dein Dad war wirklich sauer auf uns, aber dann hat ihn ein Freund angerufen. Ich nehme an, der Typ hat Schulden zurückbezahlt oder Dope gekauft. Denn plötzlich beschloss Matthew, Gracie wegzubringen. Wir hatten kaum noch Zeit, ihre Windeln zu wechseln und ihm zu erklären, wie er den Kindersitz anschnallen muss, bevor er losfuhr. Er hat sie ins Wadley-Krankenhaus gebracht.« »Woher weißt du das?« Ich öffnete die Tür zu unserem Zimmer. »Na, woher wohl? Er hat sie ins Krankenhaus gebracht und sie nach ein paar Wochen wieder abgeholt. Sie lag auf der Intensivstation, deshalb konnten wir sie nicht besuchen. Er ist bei ihr geblieben. Wieso sollte das nicht stimmen? Als er sie zurückbrachte, sah Gracie so viel besser aus, dass ich kaum glauben konnte, dass …« Ich erstarrte. »Dass es Gracie war, stimmt’s?«, sagte Tolliver nach langem Schweigen. Ich schlug eine Hand vor den Mund. Tolliver ließ sich vorsichtig auf die Sofakante sinken. Als ich mich aus meiner Erstarrung gelöst hatte, nahm ich auf dem Sessel Platz, und unsere Blicke trafen sich. »Nein«, sagte ich. »Ich konnte kaum glauben, dass es Gracie war. Ihre Augen waren hellblau, aber nach ihrem Krankenhausaufenthalt waren sie grün. Ich dachte, sie wäre in das Alter gekommen, in dem Babys ihre eigentliche Augenfarbe entwickeln. Aber Matthew meinte, die Ärzte hätten ihm empfohlen, ihr wieder die Flasche zu geben, obwohl sie bereits angefangen hatte, Babynahrung zu essen …« »Du hast dich mehr um Gracie gekümmert als Cameron.« »Ja, das stimmt. Cameron hatte in dem Jahr viel um die Ohren. Es war ihr Abschlussjahr, und ich war ohnehin meist zu Hause, wegen des Blitzschlags.« »Du hast damals noch sehr an den Nachwirkungen gelitten, oder?« »Und ob! Noch monatelang. Bevor ich lernte, damit umzugehen. Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen, alle möglichen Schmerzen. Aber für Gracie und Mariella habe ich mein Bestes gegeben«, sagte ich, wie um mich zu verteidigen. »Natürlich hast du das. Du hast den Laden am Laufen gehalten. Aber was ich sagen will, ist Folgendes: Es gab vielleicht Dinge, die du nicht bemerkt hast. Eben weil du so viele Probleme hattest und abgelenkt warst, weil du Tote spüren konntest.« Das war wirklich eine schlimme Zeit gewesen. Teenager können nicht damit umgehen, wenn sie anders sind als ihre Altersgenossen. »Und du glaubst, dass mir die Veränderungen an dem Baby deshalb nicht aufgefallen sind? Du glaubst, dass Matthew mit dem einen Baby verschwunden und mit einem anderen zurückgekehrt ist? Du glaubst, dass die echte Gracie tot ist?« Er nickte. »Es war Chip, der manchmal zum Wohnwagen kam«, sagte er. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es war. Drex vielleicht auch, aber Chip mit Sicherheit. Er hat bei meinem Dad Drogen gekauft.« »Oh mein Gott!«, sagte ich. »Deshalb kamen sie mir irgendwie bekannt vor. Und wenn einer von ihnen Dr. Bowden in jener Nacht zur Ranch gebracht hat und sie das Baby loswerden wollten, ohne es umzubringen …« »Dann haben sie vielleicht Matthew angerufen, der ein schwer krankes Baby zu Hause hatte, das ohnehin nicht durchkommen würde.« »Wie konnten sie nur? Wie kamen sie bloß auf die Idee, dass Matthew Babys vertauschen würde? Warum sollten sie überhaupt ein Interesse daran haben?« »Wenn das Baby von Rich Joyce und Mariah Parish war, ist es buchstäblich Millionen wert.« Mir verschlug es einen Moment lang die Sprache. »Aber warum haben sie es dann nicht einfach umgebracht, damit die Millionen blieben, wo sie waren? Nämlich bei den drei Joyce-Enkeln?« »Vielleicht wollten sie kein Kleinkind umbringen.« »Sie waren auch bereit, Mariah sterben zu lassen, obwohl man sie hätte retten können.« »Es ist ein Unterschied, ob man jemanden sterben lässt oder jemanden umbringt. Ob es sich um eine ziemlich skrupellose Frau handelt oder um einen Säugling. Außerdem war ihnen vielleicht gar nicht klar, wie schlimm es um Mariah bestellt war.« Ich schüttelte benommen den Kopf. »Aber wenn das stimmt, was hat Matthew dann mit der echten Gracie, seiner tatsächlichen Tochter getan? Meinst du, er ist an jenem Abend absichtlich mit ihr verschwunden und hat sie ausgesetzt oder so was?« »Das weiß ich nicht und möchte es auch lieber gar nicht wissen … obwohl wir das herausfinden sollten«, sagte Tolliver, der plötzlich klang wie ein alter Mann. »Ich frage mich, ob er je vorhatte, sie ins Krankenhaus zu bringen.« »Und die Fotos?« »Er will Fotos von Gracie. Er hat nur welche von Mariella gemacht, damit man ihm seine Geschichte abnimmt«, sagte Tolliver. »Wie kommst du darauf?« »Vielleicht ist er zur Eisbahn gekommen, weil er dachte, dort unbemerkt Fotos von Gracie machen zu können. Aber wir haben ihn vorher entdeckt, und die Mädchen hatten Angst vor ihm. Er hatte schon damit begonnen, Kontakt zu Iona und Hank aufzunehmen, indem er ihnen einen Brief schrieb. Als er nichts von ihnen hörte, wollte er sie wahrscheinlich umgehen. Nachdem das auch nicht funktioniert hatte, versuchte er eine erneute Annäherung, und diesmal klappte es. Iona und Hank wollten ihn entmystifizieren, damit sich die Mädchen nicht mehr so fürchten müssen. Also taten sie so, als wäre sein Besuch völlig normal. Sie haben das Richtige getan, allerdings ohne sein wahres Motiv zu kennen.« »Und was sollen wir jetzt machen?« Ich hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich kann es einfach nicht fassen. Und was hat Cameron mit alldem zu tun? War es nur ein Zufall, dass sie damals verschwand?« »Vielleicht bilden wir uns das alles bloß ein«, sagte Tolliver. »Vielleicht sind wir genauso blöd wie die Leute, die glauben, JFK wäre von Marsmenschen erschossen worden.« »Ich wünschte, es wäre so«, sagte ich. »Ich wünschte es wirklich.« »Ob Mark irgendwas weiß?«, überlegte Tolliver laut. »Wir könnten ihn anrufen.« »Ja, aber Dad wohnt bei ihm.« »Vielleicht kann er uns irgendwo treffen.« »Wir rufen ihn morgen an. Danach fahren wir nach Texarkana.« »Traust du dir das wirklich zu? Du hast die Antibiotika noch nicht zu Ende genommen.« »Ich glaube, dafür geht es mir gut genug.« »Logisch, Dr. Lang.« »He, es gibt Wichtigeres, worüber wir uns Gedanken machen müssen, als meine Schulter!« »Mal sehen, was der Arzt morgen sagt«, meinte ich, woraufhin er sich von mir gegängelt fühlte. Ich fand es schön, mich um ihn zu kümmern. So sehr mich der Verdacht gegen Tollivers Dad umtrieb, so stolz war ich auch, alles so gut hinbekommen zu haben. Nach weiteren ergebnislosen Gesprächen gingen wir ins Bett, doch in dieser Nacht dürfte keiner von uns beiden besonders gut geschlafen haben. Als Tolliver eindöste, redete er im Schlaf, und das tut er nur, wenn er wirklich erschüttert ist. »Rette sie!«, sagte er. 19 Anstatt eine Schwester zu fragen, sprach ich am nächsten Morgen direkt mit Dr. Spradling. Zu meiner Überraschung fand auch er, dass es Tolliver gut genug ginge, um einen kurzen Ausflug unternehmen zu können – vorausgesetzt, er musste nichts heben und überanstrengte sich nicht. Die Aussicht auf den Ausflug veränderte Tolliver vollkommen. Zur Tatenlosigkeit verdammt, hatte er sich vorher wie ein Todkranker gefühlt. Jetzt hielt er sich für einen Gesunden mit vorübergehenden Beschwerden. Ich war entzückt (und erleichtert), dass sein Gesicht und sein Körper erneut Energie und Entschlossenheit ausstrahlten. Aber ich ermahnte mich, nicht zu vergessen, dass ich mich um ihn kümmern musste. Da wir nicht mehr ans Krankenhaus gefesselt waren, checkten wir aus dem Hotel aus. Wir wussten nicht, was der Tag bringen würde, und auch nicht, ob wir nach Garland zurückkämen, um dort zu übernachten. Es tat so gut, den Vorstadtsiedlungen zu entrinnen! Wir waren wieder gemeinsam auf der Interstate unterwegs. Für eine Stunde gelang es uns, unsere Probleme zu vergessen. Aber je näher Texarkana kam, desto mehr verstörende Fragen quälten uns. Wir fuhren an der Ausfahrt Clear Creek vorbei, und ich sagte: »Vielleicht müssen wir nachher hier anhalten.« Tolliver nickte. Wir waren inzwischen kurz vor Texarkana und nicht sehr gesprächig. Texarkana liegt bekanntlich an der Staatsgrenze zu Arkansas und hat etwa fünfzigtausend Einwohner. Entlang der Interstate, die eine Schneise durch den Norden der Stadt schlägt, sind Gewerbegebiete entstanden. Gewerbegebiete mit den üblichen Verdächtigen. Wir hatten nicht dort gewohnt, sondern in einem heruntergekommeneren Teil. Dabei ist Texarkana auch nicht besser oder schlechter als jede andere Südstaatenstadt. Die meisten unserer Mitschüler stammten aus normalen Familien und hatten normale Eltern. Wir hatten einfach Pech gehabt. Die Straße, in der wir gelebt hatten, war von Wohnwagen gesäumt. Das hatte den Vorteil, dass sie sich nicht zu kleinen Parks zusammendrängten, zumindest nicht dort, wo unserer gestanden hatte. Jeder hatte sein eigenes Grundstück. Unser Wohnwagen stand so auf dem Grundstück, dass sein Heck zur Straße zeigte. Man bog also in eine zerfurchte Auffahrt ein und wendete, um im Vorgarten zu parken. Ein Vorgarten insofern, als es eine freie Fläche vor dem Wohnwagen gab, allerdings ohne Rasen. Und die Azaleen, die einmal beidseitig der Betonstufen zum Wohnwagen gestanden hatten, waren zu mickrigen Büschen verkümmert, die keine Pflege mehr lohnten. Das wiederzusehen, war merkwürdig. Wir saßen im Auto am Straßenrand und betrachteten alles wortlos. Ein Latino ging vorbei und starrte uns wütend an. Wir sahen nicht mehr so aus, als gehörten wir hierher. »Was empfindest du?«, fragte Tolliver. »Ich spüre keinerlei Leichen«, sagte ich, und mir wurde fast schwindelig vor Erleichterung. »Keine Ahnung, warum ich mich so davor gefürchtet habe. Wenn hier irgendjemand verscharrt worden wäre, hätte ich es gemerkt, als wir noch hier wohnten.« Tolliver schloss kurz die Augen und spürte seiner eigenen Erleichterung nach. »Na, das ist doch schon mal was«, sagte er. »Wo sollten wir uns deiner Meinung nach als Nächstes umsehen?« »Ich weiß gar nicht mehr, warum wir unbedingt herkommen wollten«, sagte ich. »Wohin als Nächstes? Am besten zu Renaldo. Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass Tammy und er immer noch dort wohnen, aber einen Versuch ist es wert.« »Weißt du noch, wie man dahin kommt?« Das war eine gute Frage, und ich brauchte zehn Minuten länger als erwartet, um das heruntergekommene, kleine Mietshaus zu finden, in dem Renaldo und Tammy zum Zeitpunkt von Camerons Entführung gewohnt hatten. Ich war nicht überrascht, als mir eine Unbekannte die Tür öffnete. Es handelte sich um eine Afroamerikanerin, die ungefähr in meinem Alter war und zwei noch nicht schulpflichtige Kinder hatte. Sie machten sich gerade mit Kinderscheren über einen alten Versandhauskatalog her und bastelten irgendwas. »Schneidet nur aus, was ihr in eurem Haus haben wollt, falls ihr euch mal eines bauen werdet«, ermahnte die Frau sie, bevor sie sich wieder an mich wandte. »Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sie sich. »Ich bin Harper Connelly, und ich habe hier früher ganz in der Nähe gewohnt«, sagte ich. »Mein Stiefvater hatte Freunde, die in diesem Haus lebten. Vielleicht wissen Sie ja, wo sie hingezogen sind? Es geht um Renaldo Simpkins und seine Freundin Tammy.« An Tammys Nachnamen konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich. »Ja, die kenne ich«, sagte sie. »Sie wohnen in einem anderen Haus, etwa sechs Straßen weiter. In der Malden Street. Aber das sind üble Leute, wissen Sie.« Ich nickte. »Ich weiß, aber ich muss mit ihnen reden. Sie sind immer noch zusammen?« »Ja, obwohl ich nicht verstehe, wie man freiwillig mit Renaldo zusammenbleiben kann. Aber er hatte einen Unfall, und Tammy kümmert sich um ihn.« Die Frau warf einen Blick über ihre Schulter, und ich merkte, dass sie es eilig hatte, zu ihren Kindern zurückzukommen. »Wissen Sie ihre Hausnummer?« »Nein, aber es ist die Malden Street, etwa ein, zwei Blocks westlich von hier«, sagte sie. »Es ist ein braunes Haus mit weißen Fensterläden. Tammy fährt einen weißen Wagen.« »Danke.« Sie nickte und schloss die Tür. Ich erstattete Tolliver Bericht, der im Auto geblieben war. Mit einigen Schwierigkeiten fanden wir ein Haus, das der Beschreibung ähnelte. »Braun« kann vieles bedeuten. Aber wir fanden, dass ein ungefähr fleischfarbenes Haus noch in die Kategorie Braun gehört. Außerdem stand ein weißes Auto davor. »Tammy«, sagte ich, als sie die Tür aufmachte. Tammy – die mit Nachnamen Murray hieß, wie mir plötzlich einfiel – war um mehr als jene acht Jahre gealtert, die seit Camerons Verschwinden vergangen waren. Sie war eine üppige Mulattin mit rotgewelltem Haar und grellen Outfits gewesen. Jetzt trug sie die Haare ultrakurz und eng an den Kopf gegelt. Tätowierungen bedeckten ihre nackten Arme. Sie war mager. »Wer sind Sie?«, fragte sie nicht ohne Neugier. »Kennen wir uns?« »Ich bin’s, Harper«, sagte ich. »Matthew Langs Stieftochter. Mein Bruder sitzt im Wagen.« Ich zeigte darauf. »Komm rein«, sagte sie. »Und sag deinem Bruder, dass er mitkommen soll.« Ich ging zurück zum Wagen und hielt Tolliver die Tür auf. »Sie will, dass wir reinkommen«, flüsterte ich leise. »Ist das in Ordnung?« »Ja«, sagte er, und wir gingen zur Veranda. »Was ist denn mit dir passiert, Tolliver?«, fragte Tammy. »Du bist ja verletzt.« »Ich wurde angeschossen«, erwiderte er. In diesem Haushalt wunderte das niemanden, sodass Tammy bloß sagte: »So ein Pech aber auch!«, bevor sie zur Seite trat und uns hereinließ. Das Haus war winzig, aber da es nicht viele Möbel gab, fühlte man sich nicht übermäßig beengt. Das Wohnzimmer bot Platz für ein Sofa, auf dem eine in Decken gehüllte Gestalt lag, sowie für einen durchgesessenen Lehnstuhl. Darin pflegte sich Tammy aufzuhalten. Daneben stand ein altes Fernsehmöbel samt Fernbedienung, Kleenex und einer Schachtel Zigaretten. Es roch nach Rauch. Wir umrundeten das Sofa und warfen einen Blick auf den darauf liegenden Mann. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es Renaldo war, hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Renaldo, ebenfalls ein Mulatte, hatte helle Haut, einen dünnen Schnurrbart und einen Zopf gehabt. Jetzt trug er einen Kurzhaarschnitt. Irgendwann einmal hatte Renaldo für hiesige Verhältnisse viel Geld besessen. Damals hatte er als Mechaniker bei einem Autohaus gearbeitet, aber seine Drogensucht hatte ihn den Job gekostet. Renaldos Augen waren geöffnet, aber ich wusste nicht, ob er unsere Anwesenheit mitbekam. »He, Schatz!«, rief Tammy. »Schau mal, wer da ist. Tolliver und seine Schwester, weißt du noch? Matthews Kinder?« Renaldos Lider flatterten, und er murmelte: »Natürlich erinnere ich mich.« »Es tut mir leid, dass es dir so schlecht geht«, sagte Tolliver ebenso aufrichtig wie taktvoll. »Ich kann nicht mehr laufen«, erwiderte Renaldo. Ich sah mich nach einem Rollstuhl um und entdeckte einen zusammengeklappt vor der Hintertür in der Küche. Da das Haus so klein war, schien das Aufklappen des Rollstuhls reine Zeitverschwendung zu sein, aber wahrscheinlich konnte Tammy Renaldo nicht heben. »Wir hatten einen Unfall«, sagte Tammy. »Vor ungefähr drei Jahren. Wir sind wirklich ganz schöne Pechvögel. Hier, Harper, nimm diesen Stuhl, ich hole noch zwei aus der Küche.« Tolliver war frustriert, weil er das nicht tun konnte, aber Tammy machte es nichts aus, selbst zu gehen. Sie war einen hilflosen Mann gewohnt. Ich stellte keine weiteren Fragen zu Renaldos Gesundheitszustand, denn mehr wollte ich lieber gar nicht wissen. Er sah schlimm aus. »Tammy«, begann Tolliver, nachdem er und unsere Gastgeberin sich in die Klappstühle gequetscht hatten, die kaum noch ins Zimmer passten. »Wir müssen uns über den Tag unterhalten, an dem mein Vater hier war. Der Tag, an dem Cameron entführt wurde.« »Oh, logisch, worüber solltet ihr sonst reden wollen«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Wir sind es leid, darüber zu reden, stimmt’s, Renaldo?« »Ich bin es nicht leid«, sagte er mit einer merkwürdig gedämpften Stimme. »Diese Cameron war ein hübsches Mädchen. Wirklich schlimm, dass sie verschwand.« Ich fühlte mich, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Bei der Vorstellung, dass jemand wie Renaldo meine Schwester angaffte, zog sich alles in mir zusammen. Aber ich versuchte, freundlich zu bleiben. »Kannst du uns bitte noch einmal erzählen, was an jenem Tag passiert ist?«, sagte ich. Tammy zuckte die Achseln. Sie zündete sich eine Zigarette an, und ich versuchte, so lange wie möglich die Luft anzuhalten. »Das ist schon lange her«, sagte sie. »Ich kann es kaum fassen, dass Renny und ich schon so lange zusammen sind, stimmt’s, mein Schatz?« »Das war eine schöne Zeit«, sagte er angestrengt. »Ja, wir hatten auch gute Zeiten«, sagte sie gnädig. »Aber die sind jetzt vorbei. Nun, an jenem Nachmittag rief euer Vater an. Er wollte irgendwelche Geschäfte mit Renny machen. Den Cops hat er erzählt, dass er mit Renny Sachen zum Recyclinghof bringen wollte, aber das stimmt nicht. Wir hatten zu viele Oxys da, und dein Dad besaß Ritalin, das er dagegen eintauschen wollte. Deine Mom liebte Oxys.« »Meine Mom liebte alles«, sagte ich. »Das kannst du laut sagen, mein Kind«, erwiderte Tammy. »Sie liebte ihre Pillen.« »Und Alkohol«, sagte ich. »Das auch«, meinte Tammy. Sie sah mich an. »Aber du bist nicht wegen deiner Mutter gekommen. Sie ist tot.« Ich verstummte. »Mein Dad wollte also vorbeischauen«, sprang Tolliver ein. »Ja«, sagte Tammy und zog so fest an ihrer Zigarette, dass ich einen Hustenanfall befürchtete. »Er kam gegen vier vorbei. Vielleicht auch eine Viertelstunde früher oder später. Maximal fünfundzwanzig Minuten später, aber auf keinen Fall mehr, weil die Fernsehsendung, die ich mir gerade ansah, um halb fünf vorbei war. Und während sie noch lief, war er schon mit Renaldo im Billardzimmer. Sie spielten eine Partie. Damals hatten wir ein schöneres Haus.« Sie sah sich in dem winzigen Raum um. »Ein größeres. Ich sagte der Polizei, dass er ungefähr kurz nach vier gekommen sei. Aber ich achtete nicht weiter auf ihn, bis meine Sendung vorbei war. Und dann wollten sie, dass ich ihnen ein Bier bringe.« Renaldo lachte, ein unheimliches Hahaha. »Wir haben ein paar Bier getrunken«, sagte er. »Ich habe die Partie gewonnen. Wir haben Pillen getauscht und ein Geschäft gemacht. Wir haben uns amüsiert.« »Und er blieb hier, bis er einen Anruf bekam?« »Ja, er hatte ein Handy, wisst ihr. Fürs Geschäft«, sagte Tammy. »Der Typ, der neben euch wohnte, rief an, um Matthew zu sagen, er solle seinen Arsch gefälligst nach Hause bewegen. Dort sei alles voll Polizei.« »War er überrascht?« »Ja«, sagte Tammy zu meinem Erstaunen. »Er dachte, sie wären wegen der Drogen gekommen, und ist ausgeflippt. Aber er beeilte sich, schleunigst nach Hause zu kommen, weil er wusste, wie sehr es eure Mutter hasste, verhört zu werden.« »Ach ja?« Ich staunte aufrichtig. »Allerdings«, sagte Tammy. »Er hat Laurel abgöttisch geliebt, mein Kind.« Tolliver und ich tauschten einen Blick. Wenn Renaldo und Tammy recht hatten, konnte Matthew nichts von Camerons Verschwinden gewusst haben. Vielleicht hatte er aber auch nur eine Show abgezogen, um sich ein Alibi zu verschaffen? »Er ist ausgeflippt«, nuschelte Renaldo. »Er war verzweifelt, dass das Mädchen weg war. Ich habe ihn im Gefängnis besucht. Er meinte, sie wäre bestimmt weggelaufen.« »Hast du ihm geglaubt?« Ich beugte mich vor und sah Renaldo an, was schmerzhaft, aber notwendig war. »Ja«, sagte Renaldo deutlich. »Ich habe ihm geglaubt.« Danach gab es nicht mehr viel zu reden, und wir waren froh, aus dem stinkenden Haus und von seinen hoffnungslosen Bewohnern wegzukommen. Ich konnte es kaum erwarten, bis Tolliver sich angeschnallt hatte. Ich fuhr rückwärts vom Grundstück, ohne zu wissen, wohin es als Nächstes gehen würde. Ich nahm den Texas Boulevard, um mich orientieren zu können. »Und, was denkst du?«, fragte ich. »Ich glaube, dass Tammy nur wiederholt, was ihr mein Dad gesagt hat«, erwiderte Tolliver. »Ob das die Wahrheit ist, steht auf einem anderen Blatt.« »Sie hat ihm geglaubt.« Tolliver lachte verächtlich, es klang wie ein Schnauben. »Mal sehen, ob wir mit Pete Gresham reden können«, sagte er, und ich fuhr zum Polizeirevier. Auf der State Line Avenue sind zwei Reviere in einem Gebäude untergebracht: das von der texanischen Polizei und das von der von Arkansas. Es gibt zwei verschiedene Polizeichefs. Keine Ahnung, wie das genau funktioniert und wer wofür zahlt. Wir fanden Pete Gresham an seinem Schreibtisch vor. Man hatte uns erlaubt, ihn in seinem Büro aufzusuchen, und er brütete gerade über einer Akte, die er schloss, als wir vor ihm standen. »Das ist ja eine Überraschung! Wie schön, euch zu sehen! Es tut mir so leid, dass die Videobänder nichts ergeben haben«, sagte er, stand auf und beugte sich vor, um Tollivers gesunde Hand zu schütteln. »Wie ich hörte, hattet ihr ein paar Probleme in Big D.« »Na ja, an der Peripherie von Big D«, sagte ich. »Wir waren ganz in der Nähe und dachten, wir schauen mal vorbei. Wir wollten fragen, was du über den anonymen Anrufer weißt, der dir den Tipp mit Cameron gegeben hat.« »Es war ein Mann, der von einer öffentlichen Telefonzelle aus anrief.« Pete Gresham, ein Riese, der jedes Mal noch riesiger zu sein schien, wenn ich ihn sah, zuckte die Achseln. Er hatte noch immer keine Brille, aber wie uns Rudy Flemmons bereits berichtet hatte, war er vollkommen kahl. »Da gibt es nicht viel zu erzählen.« »Können wir uns das Band anhören?«, fragte Tolliver. Ich drehte mich um und sah ihn an. Das kam völlig überraschend. »Na ja, ich muss die Aufnahme erst einmal heraussuchen«, sagte Pete. Er stand auf und ging zum Lift, während ich Tolliver fragte: »Wie bist du bloß da drauf gekommen?« »Jetzt, wo wir schon mal da sind …«, meinte er. Aber Pete war auffällig schnell wieder da. Ich kenne meine Bürokraten: Er konnte das Band unmöglich so schnell gefunden haben. »Tut mir leid, ihr zwei«, sagte er. »Der Typ, der das Zeug aufbewahrt, hat heute frei. Aber morgen ist er wieder da. Kann ich euch anrufen und es euch übers Telefon vorspielen?« »Klar, kein Problem«, sagte ich. Ich gab ihm meine Handynummer. »Verdient ihr gut mit eurer Leichensuche?«, fragte er. »Ja, wir kommen zurecht«, sagte Tolliver. »Wie ich hörte, hast du dir eine Kugel eingefangen«, bemerkte Pete. »Wem bist du da auf die Zehen getreten?« »Schwer zu sagen«, meinte Tolliver grinsend. »Matthew ist übrigens aus dem Gefängnis entlassen worden.« Sofort wurde der Detective wieder ernst. »Ich habe ganz vergessen, dass er kurz vor der Entlassung stand. Ich kenne diese Typen und kann aus Erfahrung sagen, dass sie sich nicht ändern.« »Ganz meine Meinung«, bemerkte ich. »Wir bemühen uns, ihm so weit als möglich aus dem Weg zu gehen.« »Wie geht’s den kleinen Schwestern?« Wir gingen inzwischen zum Lift, und Pete begleitete uns. »Gut. Mariella ist gerade zwölf geworden, und Gracie wird bald neun.« Aber sie war jünger. Ich war mir sicher, dass sie jünger war. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um mir darüber Gedanken zu machen, aber mir wurde klar, dass Gracie ihrer Altersgruppe kein bisschen hinterherhinkte. Ihre verzögerte Entwicklung, die wir ihrem niedrigen Geburtsgewicht und ihren ständigen Gesundheitsproblemen zugeschrieben hatten, war wahrscheinlich keine: Ihr wahres Geburtsdatum war bloß drei oder vier Monate später als gedacht. »Ich kann sie mir in dem Alter gar nicht vorstellen.« Pete schüttelte den Kopf darüber, wie viel Zeit seitdem vergangen war, und ich zwang mich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. »Ich habe übrigens neulich mit Ida gesprochen«, bemerkte ich. »Mit Ida? Mit der Frau, die den blauen Pick-up gesehen hat? Was hatte sie zu erzählen?« Als ich ihm von Idas Unterhaltung mit der Essen-auf-Rädern-Frau berichtete, fluchte er laut. Dann entschuldigte er sich. »Idioten!«, sagte er. »Jetzt muss ich diese Frau anrufen und Ida erneut besuchen. Irgendwann einmal werde ich gar nicht mehr aus ihrem Haus herauskommen. Sie behauptet zwar, keinen Besuch zu wollen, aber wenn ich erst einmal da bin, redete sie und redet, bis ich ganz taub bin.« Ich versuchte vergeblich, mir ein Lächeln abzuringen. Tolliver nickte nur. »Ich werde schauen, welche Auswirkungen das auf die Alibis hat, Harper. Sobald ich irgendeine Spur habe, werde ich sie verfolgen, das schwöre ich dir. Ich bin genauso daran interessiert wie ihr, endlich herauszufinden, was eurer Schwester zugestoßen ist. Und es tut mir leid, dass dieser Mistkerl von eurem Vater überhaupt aus dem Gefängnis entlassen wurde.« »Mir auch«, sagte ich, nicht wissend, ob ich damit auch im Namen Tollivers sprach oder nicht. »Aber wir glauben nicht, dass er Cameron entführt hat.« »Ich auch nicht«, erwiderte Pete, was mich ein wenig überraschte. »Ich weiß um deine Gabe, Harper. Und ich weiß auch noch, wie du mit Tolliver nach der Highschool herumgefahren bist, um nach ihr zu suchen. Wenn ihr sie nicht gefunden habt, wird sie auch nicht hier sein. Wenn es Matthew war, hätte er sie ganz in der Nähe verscharren müssen, und er hatte nicht viel Zeit. Ihr hättet sie längst gefunden.« Ich nickte. »Wir haben es versucht«, sagte ich. »Aber vielleicht hat sie ja jemand direkt vom Parkplatz vor der Schule entführt und ihren Rucksack weggeworfen. Das würde das Fahndungsgebiet deutlich vergrößern.« »Daran haben wir auch schon gedacht«, sagte Pete nachsichtig. Ich wurde rot. »Damit wollte ich nicht andeuten, dass …« »Ist schon gut. Du willst deine Schwester finden. Und ich will es auch.« »Danke, Pete«, sagte Tolliver und schüttelte ihm erneut die Hand. »Und du werd wieder gesund, hörst du?«, ermahnte ihn Pete und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück. »Wir haben hier heute viel Zeit verschwendet«, sagte ich. Ich war deprimiert und fragte mich, was wohl als Nächstes kam. »Da wäre ich mir nicht so sicher«, meinte Tolliver. »Wir haben so einiges geklärt. Möchtest du kurz bei den Clevelands vorbeischauen?« Ich überlegte. Meine Pflegeeltern waren nett, und ich respektierte sie, aber ich war nicht in der Stimmung, um Konversation zu machen. »Lieber nicht«, sagte ich. »Lass uns lieber nach Garland zurückfahren.« Das Handy klingelte. »Hallo«, sagte ich. »Harper, hier spricht Lizzie.« Ihre Stimme klang zittrig. Obwohl wir uns nicht besonders gut kannten, hatte ich Lizzie nie anders als optimistisch und selbstbewusst erlebt. »Was ist los, Lizzie?« »Ach, gar nichts! Ich wollte nur wissen, ob Sie … ob Sie kurz auf der Ranch vorbeischauen könnten.« Auf der Ranch vorbeischauen? Wo sie doch wusste, dass wir in Garland wohnten und damit mindestens zwei Autostunden von ihr entfernt waren? »Wir sind gerade in Texarkana«, sagte ich und versuchte verzweifelt, den Grund ihres Anrufs zu erraten. Ohne Erfolg. »Wir könnten schon vorbeischauen. Worum geht es?« »Ich wollte mich nur mit Ihnen austauschen. Über die arme Victoria und noch ein paar Dinge.« Ich fasste ihr Anliegen für Tolliver zusammen. Der wirkte genauso überrascht wie ich. »Fühlst du dich dem gewachsen? Ich kann auch Nein sagen«, flüsterte ich. »Wir könnten schon bei ihnen vorbeischauen. Wir sind in der Nähe, und sie kennen viele Leute.« Die Joyces kannten viele wichtige Leute, die vielleicht auch die eine oder andere Grablesung buchen wollten. Ich ertappte mich bei der Frage, ob wir auch Chip sehen würden. Dieser Ranchmanager/Freund hatte eindeutig etwas an sich, das mich interessierte, auch wenn ich mich nicht körperlich von ihm angezogen fühlte. Zumindest nicht so, dass er mir durch Mark und Bein gegangen wäre. Obwohl Mark und Bein durchaus etwas damit zu tun hatten … Wir sprachen nicht viel, als wir aus Texarkana herausfuhren. Ich wunderte mich über Lizzies merkwürdiges Anliegen, es machte mich nervös. Auch Tolliver war beunruhigt. Das merkte ich an seiner verkrampften Haltung und an seinem mahlenden Kiefer. Wir nahmen die Ausfahrt, ohne weiter darüber zu diskutieren. Wir fuhren am Pioneer Rest Cemetery vorbei und bogen in die lange Auffahrt zur Ranch ein, die von einer weitläufigen Hügellandschaft umgeben war. Obwohl es bereits dämmerte, konnte man meilenweit in jede Richtung sehen. Schließlich erreichten wir das Tor zur RJ Ranch, und Tolliver bestand darauf, aus dem Wagen zu springen, es zu öffnen und hinter mir zu schließen. Mir fiel auf, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen war. Bei unserem vorherigen Besuch hatten wir wenigstens in der Ferne Menschen entdecken können. Wir hielten auf dem gepflasterten Parkplatz vor dem großen Haus. Wir stiegen aus dem Wagen und sahen uns um. Alles wirkte ruhig. Es war ein warmer, frühlingshafter Tag. Aber die Stille wirkte ungewöhnlich. Ich schüttelte zweifelnd den Kopf, aber nach einem Achselzucken ging mir Tolliver auf dem gepflasterten Weg voraus. Die große Haustür schwang auf, und Lizzie stand im Türrahmen. Die Halle hinter ihr lag im Dunkeln. Und noch etwas war ungewöhnlich: Obwohl sie sich sichtlich anstrengte, uns anzulächeln, wirkte es eher wie das Grinsen eines Totenschädels. Ihre Augen waren merkwürdig geweitet, und ihr ganzer Körper wirkte angespannt. Alarmstufe eins. Unsere Schritte verlangsamten sich. »Hallo, ihr Lieben, kommt doch rein!« Die spontane Herzlichkeit, die sie bei unserem ersten Besuch ausgestrahlt hatte, war einer enormen Angst gewichen. »Wir hätten gar nicht in den Besuch einwilligen dürfen. Wir haben noch einen Termin in Dallas«, sagte ich. »Können wir morgen noch mal wiederkommen, Lizzie? Wir dürfen diesen Termin auf keinen Fall verpassen.« Ich sah die Erleichterung in Lizzies schmalem Gesicht. »Na gut, ruft mich einfach heute Abend an«, sagte sie. »Fahrt weiter nach Dallas.« »Ach, kommt doch rein und trinkt etwas!«, sagte Chip hinter ihr. Sie zuckte zusammen, und ihr angestrengtes Lächeln erstarb. »Steigt in euren Wagen«, rief sie. »Macht, dass ihr wegkommt!« »Das würde ich euch lieber nicht raten«, sagte Chip gelassen. »Kommt rein.« Wir sahen den Revolver in seiner Hand, uns blieb also keine andere Wahl. Chip und Lizzie traten zurück. »Es tut mir leid«, sagte sie zu mir. »Es tut mir leid. Er wollte Kate erschießen, wenn ich Sie nicht anrufe.« »Und das hätte ich auch getan«, sagte Chip. »Ich weiß«, erwiderte ich. Während wir an Lizzie vorbeigingen, in der quadratischen Halle stehen blieben und auf weitere Anweisungen warteten, begriff ich, was mich an Chip so fasziniert hatte: seine Knochen. Seine Knochen waren tot. Das war eine merkwürdige Vorstellung, etwas, das ich noch nie zuvor empfunden hatte. Und wenn doch, war es nicht bis zu mir durchgedrungen. »Wo sind die anderen?«, fragte Tolliver. Seine Stimme war genauso ruhig wie die von Chip. »Ich habe alle an die entlegensten Enden der Ranch geschickt, und Rosita hat heute frei«, sagte Chip. Er lächelte wieder sein breites, strahlendes Lächeln, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte. »Nur ich und die Familie sind hier.« Mist. Chip trieb uns in die Waffenkammer. Noch fiel Tageslicht durch die Terrassentüren, und der Ausblick war genauso schön wie damals, nur dass ich nicht in der Stimmung war, ihn zu bewundern. Drex war ebenfalls anwesend. Auch er war bewaffnet, was mich erstaunte. Kate war an einen Stuhl gefesselt. Lizzie hatten sie losgemacht, damit sie uns ins Haus lockte. Stricke hingen lose um einen weiteren Stuhl. »Schön, Sie wiederzusehen, Harper«, sagte Drex. »Wir haben uns im Outback ganz gut amüsiert.« »Es ging so«, sagte ich. »Nur schade, dass Victoria anschließend ermordet wurde. Das hat mir die Erinnerung an den Abend doch ein bisschen verdorben.« Er schluckte und wirkte für den Bruchteil einer Sekunde nervös. »Ja, sie war eine sympathische Frau«, bemerkte er. »Sie schien … sie schien etwas von ihrem Geschäft zu verstehen.« »Sie hat hart für Sie alle gearbeitet«, sagte ich. »Glauben Sie, dass ihr Mörder jemals gefunden wird?«, fragte Chip und lächelte noch breiter. »Haben Sie auf Tolliver geschossen?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. Ich hielt es nicht für sinnvoll, das zu übergehen. »Nö«, sagte er. »Das war mein Kumpel Drex. Drex taugt nicht viel, aber schießen kann er. Ich habe Drex befohlen, Sie zu erschießen. Aber er hatte seine Skrupel.« Er sprach ganz langsam, so als hätte er die Worte gerade erst auswendig gelernt. »Er wollte keine Frau erschießen. Der gute alte Drex ist auf seine Art doch sehr galant. Ich habe versucht, seinen Fehler kurz darauf zu korrigieren, als Sie gerade laufen waren. Doch dann hat sich dummerweise dieser Cop vor Sie geworfen und die Kugel abbekommen. Ich hätte nicht geschossen, wenn ich gewusst hätte, dass er ein Bulle ist. Er kam mir irgendwie bekannt vor, und mir wurde ganz schlecht, als ich erfuhr, dass ich einen Football-Spieler erschossen hatte.« »Warum wollten Sie uns überhaupt erschießen?« »Weil Sie das von Mariah wussten und darüber geredet haben. Und wenn Sie gestorben wären, hätte Lizzie die Sache bestimmt wieder vergessen. Ansonsten würde sie immer wieder über das nachdenken, was Sie auf dem Friedhof gesagt haben. Sie würde über den Tod ihres Großvaters nachgrübeln und sich fragen, wer wohl ein Interesse an seinem Tod haben könnte. Und wenn sie das mit dem Baby tatsächlich glaubte, würde sie Nachforschungen anstellen. Lizzie würde liebend gern ein Kind großziehen, sie ist der totale Familienmensch.« Er drückte die Waffe in Lizzies Nacken und küsste sie auf den Mund. Danach spuckte sie aus, woraufhin er lachte. »Warum sollte ich unbedingt sterben?« Jetzt war ich wirklich neugierig. »So ist meine Süße nun mal: Sie geht den Dingen auf den Grund, aber nur, solange sie sie vor sich hat. Ansonsten gilt für sie das Sprichwort: Aus den Augen, aus dem Sinn.« Da unterschätzte er Lizzie meiner Meinung nach, andererseits kannte er sie besser als ich. Bei näherer Betrachtung verstand ich: Chips größter Fehler war der gewesen, mich überhaupt aus Texas herkommen zu lassen. Aber wenn ich starb, würde mein Tod diesen Fehler ungeschehen machen. Natürlich nicht wirklich, aber danach wäre ihm wohler gewesen. »Lizzie, irgendjemand muss Sie auf meine Webseite aufmerksam gemacht haben«, sagte ich. »Irgendjemand hat Ihnen den entscheidenden Tipp gegeben, nämlich, dass es interessant sein könnte, mich einen Blick auf Ihren Friedhof werfen zu lassen.« »Ja«, sagte Lizzie. Die Sonne fiel schräg auf die Terrasse, es war etwa halb vier Uhr nachmittags. »Ja, das war Kate.« »Wie kamen Sie dazu, Kate?«, fragte ich. Kate war eindeutig in einer schlimmen Verfassung. Ihr Gesicht war kalkweiß, ihre Atmung flach. Ihre Hände waren an den Armlehnen festgebunden, und ich sah, dass ihre Handgelenke wundgescheuert waren. Sie brauchte einen Moment, bis sie meine Frage verstand. »Drex«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Drex hat mir erzählt, dass er Ihnen mal begegnet ist.« Chips Kopf fuhr herum wie der einer Klapperschlange kurz vor dem Angriff. »Drex, deinetwegen haben wir alles verloren!«, sagte er unheilverkündend. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?« »Es kam in den Fernsehnachrichten«, flüsterte Drex. »Dass sie in North Carolina ist und die Leichen von diesen Jungs gefunden hat. Ich erzählte Kate, dass ich an ihrem Wohnwagen gewesen war, als sie noch in Texarkana lebte. Und dass ich ihren Stiefvater kannte.« »Und das haben Sie Lizzie erzählt«, sagte ich zu Kate. »Sie ist immer auf der Suche nach etwas Neuem«, sagte Kate. »Nur darum geht es hier: etwas zu finden, das Lizzie amüsieren könnte, damit sie glücklich ist.« Lizzie wirkte vollkommen erstaunt. Wenn wir diesen Tag überlebten, würde sie viele Dinge in einem ganz neuen Licht betrachten. »Ein Fernsehmoderator hat mich also zur Strecke gebracht.« Chip lachte, aber es war ein hässliches Lachen. »Wie gut können Sie mit Schlangen umgehen, Chip?«, fragte ich. »Oh, das ist Drex’ Spezialgebiet«, sagte er und grinste seinen Nebenmann an. »Um Himmels willen, nein!«, rief Lizzie völlig schockiert. »Drex? Willst du damit sagen, Chip, dass Drex die Klapperschlange nach Granddaddy geworfen hat?« »Ganz genau, mein Liebling«, sagte Chip, wobei er Lizzies Schulter nicht aus seinem Klammergriff entließ. »Bist du jetzt völlig durchgedreht, Mann?«, sagte Drexell mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck als kurz zuvor. Er sah jetzt längst nicht mehr so verwirrt und verdattert aus. Und auch nicht mehr so schwach. Er wirkte geistesgegenwärtiger und selbstbewusster. »Warum belügst du meine Schwestern?« »Weil wir nicht damit davonkommen werden«, sagte Chip. »Aber das hast du anscheinend noch nicht begriffen.« Drexell sah völlig verständnislos drein. »Wir haben zu viele Spuren hinterlassen. Wir hätten den Arzt umbringen sollen. Ja, du Arschloch! Irgendwann in den letzten Jahre hätten wir nach Dallas fahren und uns um den alten Idioten kümmern sollen. Wir wussten auch, dass Matthew früher oder später aus dem Gefängnis entlassen würde. Wir hätten vor dem Gefängnistor mit einer Waffe auf ihn warten sollen.« In diesem Punkt waren wir uns zur Abwechslung einmal einig. »Du sagst, dass wir nicht damit davonkommen werden«, erwiderte Drex. »Wozu dann diese Geiselnahme? Ich dachte, du spielst ein raffinierteres Spiel. Ich dachte, du hast einen Plan. Du bist einfach nur durchgeknallt.« »Ja, das bin ich, und ich werde dir auch sagen, warum«, erwiderte Chip. Er ließ Lizzies Schulter los, und sie wirbelte herum, um ihn anzusehen. Dabei machte sie einen Schritt zurück in Richtung der mit Waffen bedeckten Wand. »Ich hatte letzte Woche einen Termin bei einem viel besseren Arzt als Dr. Bowden. Und wisst ihr, was der mir erzählt hat? Ich bin vom Krebs zerfressen. Mit zweiunddreißig! Es ist mir scheißegal, was passiert, wenn ich mal nicht mehr bin. Ich werde nicht lange genug leben, um eure Rache zu fürchten. Und da ich nicht davonkommen werde, soll Drex auch nicht davonkommen.« In seinem Blick stand die pure Verschlagenheit. »Du wirst also sterben?«, fragte Lizzie. »Na, prima. Ich wünschte, Drex hätte auch Krebs. Ich will, dass ihr beide sterben müsst.« Sie schien ihre Angst abgeschüttelt zu haben, und ich wünschte, mir ginge es genauso. Ich sah Tolliver an und glaubte nicht, dass wir das überleben würden. Chip würde uns alle umbringen, weil wir sonst leben würden und er nicht. Mit einer unglaublich schnellen Handbewegung riss Lizzie ein Gewehr von der Wand. Im Bruchteil einer Sekunde zielte sie damit auf Chip. »Los, erschieß dich selbst, da du ohnehin sterben wirst!« Sie meinte es ernst, und sie hatte das Gewehr entsichert. »Erspar mir die Mühe!« »Ich werde nicht allein gehen«, sagte ihr Liebhaber und schoss Drexell Joyce in die Brust. Katie kreischte und kippte mitsamt ihrem Stuhl nach hinten, wobei das Blut ihres Bruders auf sie spritzte. Während wir zuschauten, wie er tot zu Boden fiel und Kate kreischte, steckte sich Chip den Lauf seiner Waffe in den Mund und drückte im selben Moment ab wie Lizzie. 20 Nachdem der Sheriff und seine Leute mit uns fertig waren, war ich dermaßen müde, dass ich mich auf der Rückfahrt nach Dallas kaum noch konzentrieren konnte. Und tatsächlich sollten wir nie in Garland ankommen. Als mir klar wurde, dass es keinen Grund gab, dorthin zu fahren, nahm ich die nächste Ausfahrt und buchte uns ein Zimmer. Wir waren mitten im Nirgendwo, nur dass dieses Nirgendwo an der Interstate lag und über ein Motel verfügte. Es war kein besonders gutes Motel, dafür konnten wir uns einigermaßen sicher sein, dass niemand durchs Fenster auf uns schießen würde. Ein paar Dinge verwirrten mich immer noch, aber beide Schützen waren tot. Tolliver nahm seine Medikamente, und wir kletterten ins Bett. Die Laken fühlten sich kalt und beinahe feucht an, sodass ich noch einmal aus dem Bett stieg, um die Heizung aufzudrehen. Was zur Folge hatte, dass sich die Vorhänge unangenehm bauschten. Weil ich das kenne, habe ich immer eine große Klammer im Gepäck, die uns auch in dieser Nacht sehr zupass kam. Als ich wieder zwischen die Laken schlüpfte, merkte ich, dass Tolliver bereits schlief. Beim Aufwachen schien die Sonne. Tolliver war im Bad, machte Katzenwäsche und murrte vor sich hin. »Was murrst du da?«, fragte ich, setzte mich auf und schwang meine Beine aus dem Bett. »Ich möchte endlich duschen«, sagte er. »Ich wünsche mir nichts mehr als eine Dusche.« »Tut mir leid«, sagte ich und meinte es ernst. »Aber noch darf deine Schulter nicht nass werden.« »Heute Abend können wir versuchen, eine Müll- oder Einkaufstüte darüber zu kleben«, schlug er vor. »Wenn wir sie richtig befestigen, bin ich mit dem Duschen fertig, bevor das Klebeband aufweicht.« »Wir können es ja mal probieren«, willigte ich ein. »Und, was steht heute auf dem Programm?« Keine Antwort. »Tolliver?« Schweigen. Ich stand auf und ging zum Bad. »Was ist denn?« »Heute«, sagte er, »müssen wir mit meinem Dad reden.« »Müssen wir das wirklich?«, fragte ich vorsichtig. »Ja«, erwiderte er fest entschlossen. »Und dann?« »Dann werden wir in den Sonnenuntergang reiten«, sagte er. »Wir werden nach St. Louis zurückfahren und eine Weile allein sein.« »Oh, das klingt gut. Ich wünschte, wir könnten das mit deinem Dad ausfallen lassen und gleich ›allein sein‹.« »Ich dachte, du brennst darauf, mit ihm abzurechnen.« Er begann, sich seinen Bartstoppeln zu widmen, und hielt kurz inne, während eine Wange noch vor Rasiergel glänzte. Das hatte ich eigentlich auch erwartet. »Es gibt vieles, was ich lieber nicht wissen will«, sagte ich. »Dabei hätte ich mir das nie vorstellen können. Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet.« Er legte seinen gesunden Arm um mich und drückte mich. »Ich habe auch schon überlegt, Texas noch heute zu verlassen«, sagte er. »Wirklich. Aber das geht nicht.« »Nein«, pflichtete ich ihm bei. Ich hatte wie vereinbart Dr. Spradlings Krankenschwester angerufen und ihr erzählt, dass Tolliver keine erhöhte Temperatur hatte, nicht blutete und dass seine Wunde nicht entzündet aussah. Sie ermahnte mich, gut darauf zu achten, dass er seine Medikamente nahm, mehr nicht. Trotz der schockierenden Ereignisse vom Vortag sah Tolliver besser aus denn je, seit er angeschossen worden war. Ich war mir sicher, dass er wieder ganz gesund würde. Die Fahrt nach Dallas ging ohne Probleme vonstatten, von ein paar kleinen Staus einmal abgesehen. Wir mussten Marks Haus finden, wo wir erst ein Mal gewesen waren. Mark war ein Einzelgänger, und ich fragte mich, wie er und Matthew miteinander auskamen. Zu meiner Überraschung stand Marks Wagen in der kleinen Auffahrt. Sein Haus war kleiner als das von Iona und damit wirklich winzig. Ich erkannte sofort dieses Summen in der Nachbarschaft, aber es war schwach. Keine Toten in unmittelbarer Nähe. Schmale Betonplatten führten von der Auffahrt zur Haustür. Die beiden Außenleuchten daneben waren voller Spinnweben, und so etwas wie Gartenpflege war hier unbekannt. Das Haus schien seinem Besitzer völlig egal zu sein. Mark öffnete uns. »He, was macht ihr denn hier?«, sagte er. »Wollt ihr Dad besuchen?« »Ja, in der Tat«, sagte Tolliver. »Ist er da?« »Ja. Dad!«, rief Mark. »Tolliver und Harper sind hier.« Er trat einen Schritt zurück, um uns hereinzulassen. Er trug eine Jogginghose und ein altes T-Shirt. Offensichtlich musste er heute nicht arbeiten. Ich ertappte mich dabei, ihn anzustarren. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber heute ist mein freier Tag. Ich habe keinen Besuch erwartet.« »Wir haben uns ja auch nicht angemeldet«, sagte ich. Das Wohnzimmer war ungefähr genauso schlicht eingerichtet wie das von Renaldo: Es gab eine große Ledercouch und einen dazu passenden Sessel, einen großen Fernseher und einen Couchtisch, aber keine Leselampen und keine Bücher. Dafür sah ich ein gerahmtes Foto, das uns fünf Kinder zeigte und vor dem Wohnwagen aufgenommen worden war. »Wer hat denn das gemacht?«, fragte ich überrascht. »Ein Freund deiner Mutter«, erwiderte Mark. »Dad hat es zusammen mit den anderen Sachen einlagern lassen, als er ins Gefängnis musste. Er hat es sofort ausgepackt, nachdem er seine Sachen wiederhatte.« Mit Tränen in den Augen sah ich mir das Foto an. Tolliver und Mark standen nebeneinander. Mark lächelte nicht. Tollivers Mundwinkel waren zwar leicht nach oben gezogen, aber sein Blick war finster. Cameron stand neben Mark und hatte einen Arm um ihn gelegt. Gleichzeitig hielt sie Mariellas Hand. Mariella lächelte. Wie die meisten kleinen Kinder liebte sie es, sich fotografieren zu lassen. Ich hielt Gracie im Arm. Wie klein sie war! Welche Gracie war es? Die Gracie nach dem Krankenhausaufenthalt. »Dieses Foto wurde kurz davor aufgenommen«, sagte ich. »Kurz wovor?« »Du weißt schon«, sagte ich erstaunt. »Kurz bevor Cameron verschwand.« Er zuckte die Achseln, als hätte ich von etwas anderem gesprochen. Wir standen immer noch, als Matthew hereinkam. Er trug Jeans und ein Flanellhemd. »Ich muss in einer Stunde zur Arbeit, aber ich freue mich, euch zu sehen«, sagte er zu Tolliver und drehte dann den Kopf, damit sein Lächeln auch mir galt. Danke, aber ich nicht. »Wir waren gestern bei den Joyces«, sagte ich. »Chip und Drex haben von dir erzählt.« Mit dem Entsetzen, das nun auf Matthews Gesicht erschien, hatte ich nicht gerechnet. »Ach ja? Und was hatten sie zu sagen? Das ist doch diese reiche Familie, oder? Die mit der Ranch?« »Du weißt genau, wen wir meinen«, sagte Tolliver. »Du weißt, dass sie zum Wohnwagen kamen.« Mark sah von seinem Bruder zu seinem Vater. »Diese reichen Jungs?«, sagte er. »Sind das die, für die Harper und du letzte Woche gearbeitet habt?« »Wir haben uns in letzter Zeit mit einer ganzen Reihe von Leuten unterhalten«, sagte ich. »Auch mit Ida, weißt du noch?« »Mit der alten Frau, die deine Schwester in einen blauen Truck steigen sah«, sagte Matthew. »Nur, dass das nicht stimmt!«, sagte ich. »Wie sich herausstellte, war es gar nicht Cameron.« Das Erstaunen auf ihren Gesichtern wirkte mehr oder weniger aufrichtig. Zumindest staunten sie, worüber auch immer. »Ich habe dich in der Arztpraxis gesehen«, sagte ich zu Matthew. Er staunte erneut. »Ich war vor ein paar Tagen beim Arzt«, sagte er vorsichtig. »Wegen dieses Hustens, den ich seit dem …« »Ach, halt den Mund!«, herrschte ich ihn an. »Wir wissen, dass du Mariahs Baby genommen hast. Wir wissen nur nicht, was mit der echten Gracie passiert ist.« Ein langes Schweigen entstand, und der Sauerstoff in dem winzigen Wohnzimmer schien immer knapper zu werden. »Was redest du denn da«, sagte Mark, »und wer soll diese Mariah sein?« »Dad weiß Bescheid, Mark«, sagte Tolliver. »Los, Dad, erzähl uns, wer das kleine Mädchen ist, das bei Hank und Iona lebt!« »Dieses kleine Mädchen«, sagte Matthew, »ist die Tochter von Mariah Parish und Chip Moseley.« Wir hatten etwas anderes erwartet. »Nicht die von Rich Joyce?«, fragte ich, nur um ganz sicher zu gehen. »Chip hat mir erzählt, dass der alte Mr Joyce nie Sex mit Mariah hatte«, sagte Matthew. »Chip sagte, das Baby sei von ihm.« Mark sah von einem zum anderen. Er schien wirklich nicht zu wissen, wovon wir sprachen. »Chip hat Drogen von mir gekauft«, sagte Matthew. »Drex und er kamen gern in unser Viertel, um abzufeiern. Chip war schon immer recht gewieft. Er ist in Pflegefamilien aufgewachsen und war fest entschlossen, sich einen Platz unter den oberen Zehntausend zu erobern. Also begann er, für Rich Joyce zu arbeiten. Er fing ganz unten an und riss sich den Arsch auf, bis Rich tatsächlich abhängig von ihm war. Nach seiner Scheidung gelang es ihm, Lizzie auf sich aufmerksam zu machen. Er kannte Mariah, weil sie in derselben Pflegefamilie gewesen war wie er. Chip verschaffte ihr den Job bei den Peadens, wo sie viel lernte. Chip sorgte auch dafür, dass Rich die Peadens so weit kennenlernte, dass sie ihm Mariah vorstellten. Als dann der alte Mr Peaden starb, war es nur logisch, dass Mariah Rich um einen Job bat. Er hatte einen Herzinfarkt gehabt und wusste, dass seine Familie eine Pflegerin für ihn engagieren wollte. Ihm gefiel die Vorstellung, eine so junge, hübsche Frau wie Mariah um sich zu haben, auch wenn er nicht vorhatte, sie anzumachen. Sie wusste, dass er ein schwaches Herz hatte. Sie wusste, dass er sie mochte. Sie hat einfach nur gehofft, dass er ihr etwas Geld vererbt. Sie mochte den alten Mann.« »Und was ist dann passiert?« »Sie hatte nicht vor, schwanger zu werden. Aber als es so weit war, unternahm sie nichts dagegen, bis es zu spät war. Sie trug weite Kleidung, Overalls und solche Sachen, da der alte Mann nicht wissen sollte, dass sie einen Liebhaber hatte. Und sie befürchtete, dass er es mitbekommen würde, wenn sie eine Abtreibung hätte. Sie war taff, aber so taff auch wieder nicht. Chip drehte durch, als er es erfuhr. Doch da war sie bestimmt schon im achten Monat. Er kam zu mir nach Texarkana, um Marihuana zu besorgen. Er wollte sich eine Weile betäuben und nicht mehr daran denken. Als er bei mir war, rief ihn Drex auf dem Handy an und sagte, er sei mit Mariah allein zu Hause und irgendwas wäre schiefgegangen. Mariah hat das Baby ganz allein bekommen, aber sie hörte einfach nicht auf zu bluten. Als er die Nabelschnur durchschnitt und das Baby versorgte – er hatte schon bei der Geburt von Kälbern und Fohlen geholfen –, war sie so gut wie tot. Chip stürmte davon, und als er mich das nächste Mal anrief, wollte er, dass ich ihm das Kind abnehme.« »Chip wollte das Baby gar nicht.« »Nein«, sagte Matthew. »Er wollte es nicht.« »Und da hast du angeboten, ihm zu helfen, und gehofft, eines Tages Geld von den Joyce-Frauen erpressen zu können, indem du behauptest, das Kind stamme von ihrem Großvater.« »Ich weiß, dass das ziemlich niederträchtig war«, sagte Matthew. Seine tief liegenden Augen wirkten überschattet. »Das ist mir durchaus klar. Aber ihr wisst ja, wie ich damals war. Ich hielt es für eine gute Gelegenheit, an Geld zu kommen. Ich konnte warten, bis wir es brauchen würden.« »Und dein eigenes Baby lag im Sterben, nur weil du es nicht zum Arzt gebracht hast!«, sagte ich. »Oder war Gracie schon tot, als Chip anrief?« »Daher hattest du das andere Baby!«, sagte Mark. Ich hatte ihn noch nie so aufgewühlt gesehen. »Dad, warum hast du mir nie etwas gesagt?« Jetzt war Matthew an der Reihe, verwirrt zu sein. »Du wusstest, dass sie nicht Gracie ist?«, fragte er seinen Sohn. »Über dich habe ich mir nie Gedanken gemacht! Du warst doch kaum da. Wie hast du das bloß herausgefunden?« Und plötzlich war mir alles klar. »Ich weiß, wie!«, sagte ich. »Cameron hat es ihm gesagt. Sie hat es auch nicht gleich gemerkt. Sie brauchte eine Weile, um den Tausch zu erkennen. Aber als sie an ihrem Biologieprojekt arbeitete, schrieb sie über Augenfarben und Gene. Du und Mom, ihr hättet niemals ein grünäugiges Kind bekommen können.« Mark ließ sich aufs Sofa fallen. Seine Beine gaben einfach unter ihm nach. »Dad, sie wollte die Polizei rufen«, sagte er. »Sie wollte melden, dass du ein Kind entführt hast, um Gracie zu ersetzen, weil Gracie gestorben war.« »Du warst es, Mark!«, sagte ich und hörte meine Stimme nur noch wie aus weiter Ferne. »Du warst es! Du hast sie auf dem Heimweg von der Schule aufgelesen. Du hast ihr erzählt – was hast du ihr erzählt?« »Ich habe ihr erzählt, dass du einen Unfall hattest«, sagte er. »Ich war an jenem Tag mit dem Motorrad unterwegs, also bat ich sie, den Rucksack am Straßenrand zurückzulassen. Sie hat mir keinerlei Fragen gestellt. Sie ist aufgestiegen. Ich bin in Richtung Krankenhaus gefahren, hielt aber an einer verlassenen Tankstelle und behauptete, mit meinem Motorrad stimme was nicht. Ich bat sie, um das Gebäude herum zu gehen und nach einer Aufpumpstation zu suchen. Ich bin ihr gefolgt.« »Wie hast du es gemacht?«, fragte ich ganz leise. Er sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich hoffentlich nie mehr sehen muss. Er war beschämt, entsetzt, aber auch stolz. »Ich habe sie erwürgt«, sagte er. »Ich habe große Hände, und sie war so klein. Es hat nicht lange gedauert. Ich musste sie dort lassen, ich konnte sie schließlich nicht auf dem Motorrad transportieren. Ich bin später mit Dads Truck zurückgekehrt. Ich wollte sie dort lassen, hatte aber Angst, du Freak könntest sie finden.« In meinem Kopf schwirrte alles durcheinander, und ich musste mich abrupt setzen. Tolliver ohrfeigte Mark so fest er konnte, und Mark fiel zur Seite und blutete aus dem Mund. Matthew rührte sich nicht von der Stelle und starrte ihn nur mit offenem Mund an. »Ich habe es für dich getan, Dad«, murmelte Mark. Er spuckte Blut und einen Zahn aus. »Dad, ich habe es für dich getan.« »Und dann wurde ich trotzdem verhaftet«, sagte Matthew, als wäre das das Entscheidende. »Wo ist sie, Mark?« »Du und deine Familie!«, fuhr er mich an. »Ihr habt nur Probleme gebracht! Erst das Baby, dann Cameron, die Dad bei der Polizei anzeigen wollte. Und jetzt hast du Tolliver auch noch dazu gebracht, dich zu heiraten.« »Wo ist meine Schwester, Mark?« Ich wollte sie endlich beerdigen. Ich wollte wissen, wo ihre Gebeine lagen. Ich wollte sie ein letztes Mal spüren. Irgendwo in Texarkana wartete sie auf mich. Ich wollte nur den Ort wissen, damit ich ins Auto steigen und hinfahren konnte. Ich würde Pete Gresham Bescheid geben und ihn bitten, mich dort zu treffen. »Das werde ich dir wohl kaum verraten«, sagte er. »Du kannst mich nicht verhaften lassen, bevor du sie nicht gefunden hast. Also werde ich es dir nicht verraten. Mein Dad wird kein Sterbenswörtchen verlauten lassen, und mein Bruder auch nicht. Unser Wort steht gegen deines.« »Wo ist meine Schwester?« Matthew starrte Mark nach wie vor an, so als sähe er ihn zum ersten Mal. »Natürlich werde ich die Polizei verständigen«, sagte Tolliver. »Warum auch nicht, Mark?« »Wir sind eine Familie, Tol. Wenn du ihnen das mit Cameron sagst, müssen wir ihnen auch das mit Gracie erzählen. Und die hat niemanden mehr außer Chip. Iona und Hank müssten sie abgeben. Du kannst dir ja vorstellen, was Chip mit ihr tun wird.« »Chip ist tot, Mark. Er hat sich gestern umgebracht.« Mark sah ihn eine Weile verständnislos an. Dann sagte er: »Dann kommt sie eben in eine Pflegefamilie, so wie Harper damals.« »Du versuchst mich zu erpressen und willst, dass ich über den Tod meiner Schwester schweige, indem du meine andere Schwester bedrohst? Mark, du bist wirklich das Allerletzte!«, sagte ich. »Ich kann es kaum fassen, dass du mit Tolliver verwandt bist.« »So ist es nun mal«, sagte Mark stur. Es klopfte an der Tür. So viel zum Thema schlechtes Timing. Da ich die Einzige zu sein schien, die sich noch rühren konnte, stand ich auf und ging zur Tür. Es tat gut, Mark und Matthew nicht mehr ansehen zu müssen. Ich war dermaßen betäubt, dass ich mich kein bisschen wunderte, Manfred zu sehen. »Das ist ein extrem ungünstiger Moment«, sagte ich, wartete aber, bis er mir den Grund für seinen Besuch genannt hatte. »Er hat unter anderem Namen einen Schuppen angemietet«, sagte Manfred. »Er hat ihre Leiche dorthin gebracht. Ich weiß, wo sie ist.« Wir alle erstarrten. Schließlich sagte ich, »Oh, Gott sei Dank!« Tränen liefen über meine Wangen. Wir riefen die Polizei. Nach meinem Gefühl dauerte es Stunden, bis sie da war, obwohl nur wenige Minuten vergingen. Es war wirklich kompliziert, zu erklären, was passiert war. Wir hatten Marks Schlüsselkarte aus seinem Geldbeutel genommen, bevor wir in Manfreds Wagen stiegen. Tolliver saß auf der Rückbank. Er hatte den Streifenbeamten erklärt, dass sein Bruder soeben den Mord an seiner Stiefschwester gestanden habe. Sein Dad wolle jetzt sicher bei seinem Sohn bleiben. Und schon waren wir aus der Tür. Die Schlüsselkarte verschaffte uns Zugang zu dem Gelände mit den Lagerschuppen, und als das Tor aufging, fuhren wir hinein. Ein Streifenwagen war bereits unterwegs, aber wir konnten nicht länger warten. »Nachdem ich den Rucksack angefasst hatte, wusste ich, dass er es war«, sagte Manfred und versuchte, den Stolz in seiner Stimme zu unterdrücken. »Also bin ich ihm gefolgt.« »Damit warst du also in den letzten Tagen beschäftigt!« »Er kam während dieser Zeit zwei Mal hierher«, sagte Manfred. Ich fand das erstaunlich. Fühlte sich Mark dermaßen schuldig, dass er Camerons Leichnam immer wieder einen Besuch abstatten musste? Oder war er wie ein Eichhörnchen, das Wintervorräte anlegt und ständig nachsehen muss, ob sie noch da sind? Ich hatte Mark nie richtig gekannt. Und wenn mir das schon so ging – wie musste sich dann erst sein Bruder fühlen? Ich drehte mich zu Tolliver um, doch seine Miene war undurchdringlich. Manfred hielt vor der garagenartigen Einheit mit der Nummer 26 und benutzte die Schlüsselkarte. Der Raum war nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Es gab dort Dinge, an die ich mich noch vage aus der Zeit im Wohnwagen erinnerte. Ich wunderte mich, warum man so etwas aufbewahrte. Anscheinend war Mark davon ausgegangen, dass Matthew die Sachen eines Tages zurückhaben wollte. Ich warf einen Blick auf das Gerümpel, schloss die Augen und machte mich auf die Suche. Das Summen kam aus einer großen Wäschetruhe, ganz hinten an der Wand. Darauf standen ein Karton mit Zeitschriften und einige Töpfe und Pfannen. Ich fegte sie hinunter. Ich legte meine Hände auf den Deckel. Ich konnte ihn nicht öffnen. Ich spürte mit meiner mir vom Blitz geschenkten Gabe hinein und ... ... fand meine Schwester. 21 Der Behördenkram um Gracie – um das Mädchen, das ich stets für meine Schwester Gracie gehalten hatte – wird bestimmt noch eine Weile dauern. Jetzt, wo ihre richtigen Eltern tot waren, würde niemand mehr Iona und Hank das Sorgerecht streitig machen. Die beiden hatten die Mädchen schließlich rechtmäßig adoptiert. Für sie spielte es keine Rolle, dass eines davon ein anderes Kind war als gedacht. Nachdem sich ihr Schock gelegt hatte, beschlossen Iona und Hank, Gracie trotzdem zu behalten. Als Gott ihr gesagt hätte, sie solle die Erziehung der Mädchen übernehmen, so Iona, hätte er ihr schließlich nichts über deren Eltern erzählt. Wäre Gracie tatsächlich die Tochter von Rich Joyce gewesen, hätte das enorme Komplikationen gegeben. Aber so war es völlig in Ordnung, dass dem nicht so war. Zumindest aus meiner Sicht. Matthew wanderte wieder ins Gefängnis, allerdings nicht für lange. Er hatte sein eigenes Kind nicht umgebracht, zumindest konnte ihm das niemand nachweisen. Das winzige Skelett der echten Gracie lag nicht mehr dort, wo er es, laut seiner Aussage, vergraben hatte, und zwar in einem öffentlichen Park unweit der Interstate. Er behauptete, mit Gracie auf dem Weg ins Krankenhaus gewesen zu sein, als sie unterwegs gestorben sei. Er habe sie begraben und uns diese Lügengeschichte mit der Intensivstation aufgetischt, weil er Angst gehabt hätte, dass meine Mutter durchdrehen würde, wenn sie von Gracies Tod erführe. (Da meine Mutter bereits seit Jahren durchgedreht war, nahm ich ihm das nicht ab.) Er blieb ein paar Tage weg, um seine Geschichte von Gracie auf der Intensivstation zu untermauern. Als Chip anrief, war Matthew mehr als erfreut, ein Baby aufzunehmen, dessen zweifelhafte Abstammung ihm eines Tages noch von Nutzen sein konnte. Und wenn er mit einem gesunden Mädchen zurückkam, brauchte er auch nicht länger zu befürchten, wegen Kindesvernachlässigung angeklagt zu werden. Wir rechneten schließlich damit, dass Gracie wieder aus dem Krankenhaus kam. Nur Cameron vermutete, dass Matthew so tief gesunken war, das Kind auszutauschen. Camerons Hals wies Würgemale auf, es war also noch genug von ihr übrig, um die Todesursache nachzuweisen. Mark gestand, dass sie ihm ihre Vererbungstabelle gezeigt hatte, um ihm zu beweisen, dass meine braunäugige Mutter und ihr braunäugiger Mann keine grünäugige Tochter haben konnten. Cameron hatte nicht gewusst, von wem das Baby »Gracie« war. Aber da sie sicher war, dass das Kind nicht mehr dasselbe war, erklärte ihre Erkenntnis so einiges über Gracies abweichendes Verhalten nach dem Krankenhausaufenthalt. Nachdem Mark Cameron ermordet hatte, hatte er ihre Leiche in die Gefriertruhe des Restaurants gelegt, in dem er arbeitete. Er hatte sie für ein paar Tage in einer Kiste ganz hinten in der Kühlkammer aufbewahrt. Dann hatte er den Schuppen in Dallas angemietet und sie in der Wäschetruhe dorthin gefahren, während sämtliche Medien einen Riesenwirbel um ihr Verschwinden veranstalteten. Dort war sie geblieben. Als er schließlich selbst nach Dallas zog, hatte er noch die Sachen aus dem Wohnwagen dazugestellt. Seitdem wachte er über ihre sterblichen Überreste. Die arme Cameron! Sie hatte dem Falschen vertraut. Mark war der Älteste, Zuverlässigste. Da war es nur natürlich, dass sie sich an ihn wandte. Sie hatte unterschätzt, wie sehr er seinem Vater ergeben war. Aber sie war klug genug gewesen, all die merkwürdigen Fakten rund um das grünäugige Baby in unserem Wohnwagen richtig zu deuten. Ich hatte diese merkwürdigen Veränderungen ebenfalls bemerkt. Schließlich hatte ich mich tagtäglich um Gracie gekümmert. Aber es wäre mir wirklich niemals in den Sinn gekommen, dass das Baby, das ich versorgte, nicht mehr meine Schwester war. Ich kann das nur dem Stress und den Folgen des Blitzschlags zuschreiben. Und der Tatsache, dass ich Matthew so etwas Abscheuliches niemals zugetraut hätte. Ich weiß noch, wie ich mich wunderte, dass sich Gracies Gesundheitszustand dermaßen verbessert hatte. Heute kommt es mir auch unglaublich vor, aber damals erklärte ich mir das alles mit der modernen Medizin. Mark legte ein Geständnis ab – was blieb ihm schließlich auch anderes übrig. Er sitzt jetzt im Gefängnis, was bestimmt nicht angenehm ist. Ich glaube nicht, dass ich seinen Anblick je wieder ertragen kann. Manfred bekam jede Menge kostenlose Werbung, was ich nach Kräften unterstützte. Er erhielt das Angebot, bei einer dieser Ghosthunter-Sendungen mitzumachen, und ist unheimlich telegen. Er bekommt jede Woche neue Heiratsanträge. Wir haben nie erfahren, wer die Frau in dem Einkaufszentrum in Texarkana war. Die Stimme auf dem Tonband der Polizei haben wir auch nicht erkannt. Doch von nun an können wir es ignorieren, wenn Cameron mal wieder irgendwo gesehen wird. Tolliver und ich gingen zurück nach St. Louis, und ich sorgte dafür, dass sich ein dortiger Arzt seine Schulter ansah. Er meinte, dass alles in Ordnung wäre. Wir freuten uns darüber, wieder in unserer Wohnung zu sein und lehnten ein Jobangebot ab, um eine Weile zu Hause bleiben zu können. Wir haben geheiratet. Die Mädchen sind bestimmt enttäuscht, weil sie keine schönen Kleider anziehen und auf Fotos posieren konnten, aber wir haben ganz allein vor einem Friedensrichter geheiratet. Ich heiße nach wie vor Harper Connelly, aber Tolliver scheint das nichts auszumachen. Als Camerons sterbliche Überreste freigegeben wurden, brachte ich sie nach St. Louis, wo meine Schwester bestattet wurde. Wir haben ihr einen schönen Grabstein gekauft. Komischerweise fühlte ich mich danach gar nicht so erleichtert wie erwartet. Eine Zeitlang habe ich sie jeden Tag besucht, bis mir klar wurde, dass sie für immer im Moment ihres Todes gefangen ist. Ich konnte nicht mehr nach vorn schauen, bis ich aufhörte, an ihr Grab zu gehen. Aber jetzt weiß ich wenigstens, was ihr zugestoßen ist. Bald werden wir wieder unterwegs sein. Wir müssen schließlich Geld verdienen. Außerdem warten sie auf mich. Denn alles, was sie wollen, ist, gefunden zu werden.